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4. Diskussion

4.2 Reliabilität der Diagnosestellung und Beurteilung

Arbeitsfähigkeit durch Allgemeinärzte und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie

Die zweite Untersuchung dieser Arbeit konnte zeigen, dass die Beurteilerübereinstimmung (Interrater-Reliabilität) der Diagnose einer depressiven Erkrankung unter Hausärzten gering ist. Unter Praxisbedingungen, die einem Hausarzt selten mehr als 20 Minuten Zeit für eine Konsultation lassen, waren nach einer 30-minütigen Fallpräsentation nur 24 % der Hausärzte in der Lage, die korrekte Diagnose einer schweren depressiven Episode zu stellen. Auch bei der kleineren Gruppe der teilnehmenden Fachärzte war der Anteil der korrekten Diagnose ähnlich (20 %). Die Nebendiagnose „schädlicher Gebrauch von Alkohol“

wurde von keinem Teilnehmer genannt. Dies mag dadurch bedingt sein, dass diese Nebendiagnose in der Liste von sechs vorgegebenen Diagnosen nicht zur Auswahl stand. Jedoch gab es Raum für die Nennung jeder möglichen Zusatzdiagnose.

Die Abschätzung des Schweregrades der Depression bereitete Schwierigkeiten im Hinblick auf Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit. Die Beurteilung reichte von „voll arbeitsfähig“ bis zu „Arbeitsunfähigkeit für weitere vier Wochen“.

Symptome einer Depression oder Angststörung gehören zu den häufigsten, mit denen sich Patienten bei ihrem Hausarzt vorstellen [75, 76]. Hausärzte sind für den Patienten erste Ansprechpartner und fungieren als sogenannte „Weichensteller für eine leitliniengerechte Intervention“ [76]. Vielbeschäftigte Allgemeinärzte arbeiten unter Zeitdruck und die durchschnittliche Zeit für den Arzt-Patientenkontakt von Hausärzten in Deutschland wurde in einer Studie mit 7,6 Minuten angegeben [77].

Erneut spielt der Faktor Zeit eine Rolle bei der Diagnose einer psychischen Erkrankung. Das Übersehen einer depressiven Erkrankung kann schwere Folgen für den Patienten haben. Die deutsche Leitlinie empfiehlt hier den Zwei-Fragen-Test [78] zum Screening von Risikogruppen (z.B. Vorgeschichte einer depressiven Erkrankung). In deutscher Übersetzung lauten die Fragen:

Frage 1: „Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig bedrückt oder hoffnungslos?“

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Frage 2: „Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?“ [38]

Bejaht der Patient beide Fragen, ist eine weiterführende Anamnese zur Exploration der Kriterien für eine depressive Störung notwendig.

In Deutschland wurde die Codierung nach ICD-10 für Vertragsärzte der gesetzlichen Krankenkassen im Januar 2000 zwingend vorgeschrieben (§ 295 SGB V). Schwierigkeiten im Umgang mit der komplizierten ICD-10 Systematik sind vielen Hausärzten bewusst. In einer 2012 von unserer Forschungsgruppe publizierten Studie gaben 56 % von 144 befragten Allgemeinärzten fehlende Vertrautheit mit dem Kapitel F „psychische Erkrankungen“ der ICD-10 an, 67 % war „das klinische Bild zu bunt und vieldeutig“

und 36 % dauerten die Gespräche zu lange. 59 % nutzten immer noch das alte ICD-9-Konstrukt endogene versus reaktive Depression [79]. In Deutschland werden die Hälfte aller Depressionsdiagnosen unspezifisch kodiert (d.h. mit der Endziffer 8 für

„Sonstiges“ oder 9 für „nicht näher bezeichnet“ hinter der Hauptdiagnose, z.B. F32.9 Depressive Episode, nicht näher bezeichnet) und über 80% alle unspezifischen Depressionsdiagnosen werden ausschließlich oder unter Beteiligung von Hausärzten gestellt [80]. Wichtig für eine leitliniengerechte Therapie ist aber die korrekte Einordnung des Schweregrades einer Depression. Die Auswertung der kodierten Diagnosen aus hausärztlichen Abrechnungsunterlagen ist jedoch nur ein indirekter Hinweis auf eine fehlende Klassifikation des Schweregrades.

Möglicherweise erfolgt die Erfassung des Schweregrades nur in der Patientenakte des behandelnden Arztes.

Schätzskalen zur weiteren Spezifizierung des Schweregrades einer Depression könnten ein Hilfsmittel für den Hausarzt als Generalist sein, der eben meistens kein

„Experte“ auf dem Gebiet der Psychiatrie ist. Bisher ist ein solcher Einsatz eher selten. Von 144 befragten Hausärzten nutzten 9 % Schätzskalen immer oder meistens, 50 % nie [79].

Für die Kollektive von Allgemein- und Fachärzten der vorgelegten Studie war nach einer nur zwanzigminütigen Kurzeinweisung in das HAM-D Rating und dem Einsatz der 17-Item-Skala an Hand eines Interview-Videos, ein erstaunlicher Wandel der Diagnosecodierung und der Dauer der weiteren zugebilligten Arbeitsunfähigkeit

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festzustellen. Hatten vor dem HAM-D Rating 24 % der Allgemeinärzte die richtige Diagnose gestellt, so waren es nach dem Rating 44 %. Die durchschnittlichen attestierten Tage der Arbeitsunfähigkeit erhöhten sich von 11,8 Tagen vor dem HAM-D Rating auf 18,5 Tage nach dem HAM-D Rating (p< 0,05). Bei den Fachärzten stieg der Anteil korrekter Diagnosen von 20 % auf 50 % und ebenso die attestierten Tage der Arbeitsunfähigkeit von 6,7 Tage auf 14,7 Tage (p< 0,05).

Noch wird in der aktuellen S3-Leitlinie „Depression“ der Einsatz von Schätzskalen zur Einordnung des Schweregrades nicht als obligat angesehen. Lediglich im Kapitel H 2.6 „Verlaufsdiagnostik“ finden Skalen zur Beurteilung des Ansprechens auf Therapie positive Erwähnung. Ein Therapieansprechen muss immer mit dem klinischen Befund durch erneute Exploration des Patienten abgeglichen werden.

Linden bezweifelt den Wert des Einsatzes einer einzigen Schätzskala zur Erfassung des Schweregrades von Psychopathologie als Instrument zur Verbesserung der Reliabilität in Begutachtungssituationen. Er sieht sie sogar möglicherweise als zusätzliche Quelle von Fehlurteilen an und begründet dies folgendermaßen:

„Faktisch bedeutet dies, dass dann wichtige Zusatzaspekte ausgeblendet werden. Wenn erst einmal ein Kriterium als besonders entscheidungsrelevant in den Vordergrund gestellt wird und damit eine Gesamtabwägung aller Aspekte in Gefahr gerät, dann sind Fehlentscheidungen geradezu zwingend“ [59].

Bachmann et al. differenzieren hier und verweisen auf Literatur, die standardisierten Interviews unter Einsatz von Schätzskalen eine verbesserte Reliabilität gegenüber unstrukturierten Untersuchungen zubilligen [81-85]. Die Ergebnisse der vorgelegten Arbeit zum Einsatz der HAM-D Skala bestätigen diese Einschätzung und werden durch seither publizierte Studien weiter gestützt [84, 85]. Wahrscheinlich verhilft die semiquantitative Erfassung des Ausmaßes der Depressivität doch zu einer geänderten Einschätzung der Arbeitsfähigkeit. Das Interview nach Hamilton erzieht zur genauen Exploration depressiver Kernsymptome und zur Vollständigkeit eines psychopathologischen Befundes. Nach kurzem Training kann es problemlos im Anschluss an das allgemeine klinische Interview in einer Primärarztpraxis innerhalb von wenigen Minuten durchgeführt werden. Die Bildung des Summenwertes erfolgt durch simple Addition. Für die Einteilung leichtgradige, mittelgradige oder

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schwergradige Symptomatik gibt es Übereinkunft in den Anleitungen mit Schnittwerten bei 7, 17 und 24 Punkten. Die Skala ist sensitiv für Änderungen des Befundes unter Therapie und gibt Hinweise für das weitere therapeutische Vorgehen und z.B. auch die Auswahl eines Antidepressivums (Schlafstörungen werden exakt dokumentiert). Damit ist die „betagte“ HAM-D Skala ein noch immer sehr brauchbares psychometrisches Instrument, das mit minimalem Aufwand wichtige Informationen liefert. Die Schwachpunkte des HAM-D Ratings haben Bagby et al. [36] ausführlich diskutiert. Für die Beurteilung des Schweregrades einer Depression als Grundlage für die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit hat die HAM-D Skala gegenüber gängigen Screening-Instrumenten wie Becks Depressionsinventar den Vorteil einer Fremdbeurteilungsskala, die sowohl die Angaben des Patienten als auch die objektiv vom Arzt erhobenen Befunde und fremdanamnestische Informationen mit einbezieht.

Dieselben Einflussfaktoren auf den Entscheidungsprozess von Psychiatern bei der Begutachtung von Erwerbsminderung, die Bachmann und Linden diskutieren, machen auch die Beurteilung von Arbeitsunfähigkeit durch Allgemeinärzte schwierig. Welcher Allgemeinarzt hat schon detaillierte Kenntnisse über die psychischen Belastungen, denen z.B. ein Informatiker in einem Telekommunikationsunternehmen ausgesetzt ist?

Nach erfolgter Diagnose und Einteilung des Schweregrades durch den Arzt existieren evidenzbasierte Leitlinien zur Behandlung einer Depression [38].

Die korrekte Diagnose einer depressiven Erkrankung ist der wichtigste Schritt für eine leitliniengerechte Behandlung [86]. In Deutschland wird laut Daten von 2014 ein großer Teil der Patienten mit einer Diagnose einer Depression noch nicht adäquat, d.h. leitliniengerecht behandelt [80].

Nach den neuesten epidemiologischen Daten zur Häufigkeit und Art der Behandlung bei Patienten mit Depressionen in Deutschland aus dem Jahr 2017, wird jeder zweite Patient vom Hausarzt behandelt und jeder fünfte Patient zur weiteren fachärztlichen Versorgung überwiesen. Auch in dieser aktuellen Studie bemängeln die Autoren, dass bei ca. 50 % der Patienten mit einer depressiven Erkrankung eine nicht leitliniengerechte Therapie erhalten [87]. Zusammenfassend wird berichtet, dass „die leitlinienorientierte Behandlung […] in hohem Maß

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abhängig [war] vom korrekten Erkennen der depressiven Störung durch den Hausarzt und besser bei Ärzten mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie.“

Aktuell werden verschiedene Möglichkeiten der Verbesserung der dargestellten Probleme mit der Diagnostik sowie Therapie der Depression in Deutschland diskutiert. Zentraler Punkt ist die mögliche Entwicklung und Einführung eines Disease-Management-Programmes (DMP) Depression mit dem Schwerpunkt hausärztlicher Versorgung. Berghöfer sieht hier die dringende Notwendigkeit der Einführung eines DMP Depression zur Verbesserung der Unterversorgung depressiv Erkrankter [88]. Gleichzeitig wird aber auch auf die Probleme einer solchen Implementierung hingewiesen [89]. Im Rahmen unserer Befragung begrüßten nur 23 % der Hausärzte ein DMP Depression. Als ein wichtiges Hauptproblem wurde der Mangel an zeitnahen Terminen bei einem Facharzt oder Psychotherapeuten identifiziert [79].