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1. Einleitung und Fragestellung

1.9 Erstellung eines ärztlichen Gutachtens

Das ärztliche Gutachten ist ein wichtiger Bestandteil des Entscheidungsprozesses des Rentenversicherungsträgers über die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Zur erhöhten Transparenz und Vergleichbarkeit von sozialmedizinischen Gutachtern gibt es den Leitfaden „Das ärztliche Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung – Hinweise zur Begutachtung“ [42]. Im Folgenden werden die wichtigsten inhaltlichen sowie formalen Kriterien für die Erststellung eines Gutachtens laut Leitfaden dargestellt:

Es soll ein schriftliches Gesamtgutachten erstellt werden bestehend aus:

• Anamnese

o Familien- und Eigenanamnese, jetzige Beschwerden, bislang durchgeführte Therapie und behandelnde Ärzte. Medizinische Unterlagen werden dem Gutachter vor Begutachtung zur Verfügung gestellt.

o Biographische Anamnese (bei psychiatrischen Gutachten) o Arbeits- und Sozialanamnese

• Untersuchungsbefunde (klinisch und medizinisch-technisch)

• Diagnosen (verschlüsselt nach ICD-10)

• Epikrise mit prognostischer Aussage zum weiteren Verlauf

• Sozialmedizinischer Leistungsbeurteilung.

Die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung ist die zusammenfassende Beurteilung des Gutachters über die Fähigkeiten des Versicherten in Bezug auf die Anforderungen der zuletzt ausgeübten Tätigkeit sowie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.. Diese Beurteilung erfolgt im Freitext des Gutachtens und in standardisierter Form auf einem Formular der Rentenversicherung, dem sogenannten Schlussblatt [42]. Hier werden die wichtigsten Daten des Gutachtens in standardisierter Form dargestellt. (Abbildungen 2a-c).

23 Abbildung 2a

Formblatt der Rentenversicherung. (Ärztliches Gutachten Schlussblatt 1) aus: [42]

24 Abbildung 2b

Formblatt der Rentenversicherung. (Ärztliches Gutachten Schlussblatt 1) aus: [42]

25 Abbildung 2c

Formblatt der Rentenversicherung. (Ärztliches Gutachten Schlussblatt 1) aus: [42]

26 1.10 Fragestellungen und Hypothesen

In einer Gruppe von 22 Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie/Nervenärzten sollte die Reliabilität der Diagnosestellung und Einschätzung der Erwerbsminderung untersucht werden. Dies erfolgte an einem fiktiven Fallbeispiel einer mittelschweren Depression.

Arbeitshypothese war, dass sich im Hinblick auf die Diagnostik und auf die Einschätzung der Erwerbsfähigkeit eine hohe Heterogenität zeigen könnte.

In einer zweiten Untersuchung wurde in zwei Gruppen von 188 Allgemeinärzten und 20 Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie anhand einer ähnlichen Kasuistik die Reliabilität der Diagnosestellung und der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit geprüft.

Für diese beiden Arztgruppen wurde ferner untersucht, ob der Einsatz einer standardisierten Fremdbeurteilungsskala zur Erfassung depressiver Symptome zu einer Verbesserung der Reliabilität führt.

27

2. Material und Methoden

1

2.1 Studiendesign

Es wurden zwei Untersuchungen durchgeführt. In der ersten Studie wurde die Reliabilität der Diagnosestellung und Einschätzung der Erwerbsminderung im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung im Auftrag der Rentenversicherung durch Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie oder „Nervenärzten“

(Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie) getestet.

Die zweite Studie untersuchte die Reliabilität der Diagnosestellung und Beurteilung von Arbeitsfähigkeit bei Depression durch Hausärzte (Fachärzte für Allgemeinmedizin oder hausärztlich tätige Internisten).

Für diese Studie mittels Fragebogen ausgesandt an Kollegen mit Bezug auf einen fiktiven Fall war nach Anfrage bei der Ethikkommission der Ärztekammer Niedersachsen kein Antrag bzw. Votum der Ethikkommission erforderlich (persönlicher Schriftverkehr).

2.2 Erste Untersuchung (Fachgutachter im Rentenverfahren) 2.2.1 Studienteilnehmer

Ausgewählt wurden die Ärzte aus dem Arztverzeichnis der Bezirksstelle Oldenburg der Kassenärztlichen Vereinigung und der Ärztekammer Niedersachsen. Kriterium war, dass diese Ärzte regelmäßig für die Rentenversicherung als Gutachter tätig waren.

Nach dem Zufallsprinzip wurden insgesamt 30 Ärzte angeschrieben und gefragt, ob sie bereit wären, eine fiktive Versicherte der DRV (zum damaligen Zeitpunkt Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, BfA) auf Minderung der Erwerbstätigkeit hin zu begutachten (Anschreiben siehe Anhang).

1 Teile aus „Material und Methoden“ entspricht dem leicht abgewandelten Methodenteil aus Dickmann JR, Broocks A: Das psychiatrische Gutachten im Rentenverfahren – wie reliabel? Fortschr Neurol Psychiatr, 75, 397-401 (2007)

28 2.2.2 Ablauf der Befragung

Der Umschlag des Anschreibens enthielt die schriftlichen Unterlagen zur Begutachtung einer Patientin:

- Ausführliche psychiatrische Anamnese mit biographischer Anamnese - Neurologischer und psychiatrischer Befund

- Entlassungsdiagnosen der psychiatrisch – psychotherapeutischen Fachklinik (Auszug aus den Vorbefunden)

- Behandlungsdiagnosen des Hausarztes und Psychiaters

Ein Video auf DVD der Befragung der zu begutachtenden Versicherten lag bei. Das Video-Interview wurde nach den für Prüfärzte damals üblichen Anweisungen zur Befragung nach Hamilton erstellt und ermöglichte ein komplettes HAM-D Rating auf der 17-Item Skala. Die Versicherte wurde im Video-Interview durch eine Kollegin mit 15 Jahren Erfahrung als Psychotherapeutin gespielt.

Eine Schritt-für-Schritt Anleitung zum richtigen Ablauf der fiktiven Begutachtung war Teil des Anschreibens. Alle Dokumente inklusive eines Protokolls des Interviews auf der DVD finden sich im Anhang dieser Arbeit.

2.2.3 Kasuistik des fiktiven Falles Anamnese

Die 49 Jahre alte Sachbearbeiterin hatte erstmals 1977 wegen einer depressiven Episode stationäre und ambulante psychiatrische Behandlung in Anspruch nehmen müssen. Sie wurde seit dem Jahr 2000 ambulant wegen Fibromyalgie behandelt.

Zu manischer oder hypomanischer Symptomatik war es anamnestisch nie gekommen. Seit Frühjahr 2005 wurde ein hoher Alkoholkonsum von ca. 0,4 Liter Wein abends angegeben. Der Vater war alkoholkrank und unternahm einen Suizidversuch. Als vollschichtig beschäftigte Sachbearbeiterin eines großen Telekommunikationsunternehmens bestand seit zwei Jahren Arbeitsunfähigkeit.

Die Krankengeldzahlungen waren nach 18 Monaten ausgelaufen, und sie bezog ersatzweise Arbeitslosengeld. Arbeitsamt und Arbeitgeber rieten zur Stellung eines Rentenantrages. Während der zweijährigen Arbeitsunfähigkeit fand einmal pro

29

Monat ein Gespräch beim behandelnden Psychiater statt. Im Jahr 2004 wurde mit Trimipramin mediziert in rasch ansteigender Dosierung mit maximal 150 mg zur Nacht. Eine höhere Dosierung wurde nicht toleriert, und das Medikament musste wegen Störwirkungen nach acht Wochen abgesetzt werden. Parallel nahm sie 25 Stunden tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 50 Minuten pro Woche bis Ende 2004 in Anspruch. Sechs Wochen vor der Begutachtung begann ein zweiter medikamentöser Behandlungsversuch mit 40 mg Fluoxetin morgens, einer Dosierung, die ohne Störwirkungen toleriert wurde. Vom 02.03. bis 04.04.2004 fand eine stationäre medizinische Rehabilitation in einer psychosomatischen Fachklinik statt.

Die Entlassungsdiagnosen lauteten:

1. rezidivierende depressive Störung

- derzeit mittelgradig mit somatischen Symptomen 2. Anpassungsstörung

3. V.a. anhaltende somatoforme Schmerzstörung

Die Entlassung erfolgte als belastbar für halbschichtige Tätigkeit als Bürokraft und Sachbearbeiterin für weitere sechs Wochen. Danach sei vollschichtiges Leistungsvermögen zu erwarten.

Der körperliche Untersuchungsbefund war bis auf einen leicht erhöhten Blutdruck (RR 155/95 mmHg) und Puls 90/min unauffällig, ebenso die orientierende neurologische Untersuchung. 18 sogenannte „tender points“ waren nicht schmerzhaft.

Der psychiatrische Befund entsprach während Dauermedikation mit 40 mg Fluoxetin täglich einem mittel- bis schwergradigen depressiven Syndrom nach ICD-10 Kriterien mit gedrückter Stimmung, vermindertem Antrieb und Aktivität, Verlust von Lebensfreude, Interessen und Konzentrationsfähigkeit, rascher Erschöpfbarkeit, ausgeprägten Schlafstörungen, Appetitmangel und Gewichtsverlust, leichter psychomotorischer Hemmung und polytopen körperlichen Schmerzen.

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2.2.4 Bewertung des Falls nach den Kriterien der Rentenversicherung Das Video-Interview nach Vorgaben von Hamilton wurde von zwei im HAM-D Rating erfahrenen Psychiatern (A.B., U.D.) mit einem Gesamtpunktwert von 23 bzw. 25 Punkten (von 51 maximal möglichen Punkten) bewertet. Der Befund der dargestellten Patientin entsprach einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode. Zur Frage der Erwerbsfähigkeit wurden die Kriterien des Verbandes der Deutschen Rentenversicherungsträger eingearbeitet.

Nach den Kriterien des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger ist „die Wiederherstellung einer vollen beruflichen Leistungsfähigkeit kaum zu erwarten (...) wenn folgende Faktoren vorliegen:

- mittelschwer bis schwer ausgeprägte depressive Symptomatik - chronifizierter Verlauf

- erfolglose Behandlungsversuche im ambulanten und stationären Rahmen in unterschiedlichem therapeutischen Setting bei ausreichend langer und ausreichend hoher Dosierung der antidepressiven Medikation mit Wechsel des Medikamentes

- gescheiterte Rehabilitationsbehandlung“ [43].

Nach diesen Vorgaben wäre für die zu begutachtende Versicherte nicht mehr mit einer vollständigen Wiederherstellung ihrer Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu rechnen.

Die Krankengeschichte würde z.B. die formalen Kriterien für die Diagnose einer

„therapieresistenten Depression“ erfüllen. Kaschka und Jandl [46] haben die verschiedenen Definitionen für Therapieresistenz diskutiert, und unsere fiktive Patientin würde zumindest Stadium II der Stadieneinteilung von Thase und Rush [47] für Therapieresistenz erreichen. Schwer zu lösende psychosoziale Faktoren (unser Fall: anhaltende Probleme im Beruf) sind eine häufige Ursache für Therapieresistenz unter Antidepressivabehandlung [48].

31 2.2.5 Erhobene Daten

Die Studienteilnehmer erhielten folgende Dokumente zum Ausfüllen:

- Fragebogen zur Person des Studienteilnehmers - Dokumentation der gestellten Diagnose(n)

- Schlussblatt des ärztlichen Gutachtens der Rentenversicherung

Die Studienteilnehmer beantworteten nach Lektüre der Krankengeschichte und Betrachten des Videos die standardisierten Fragen der Deutschen Rentenversicherung durch Ankreuzen auf dem Schlussblatt des ärztlichen Gutachtens und stellten eine Diagnose (siehe Abbildung 2).

In Abbildung 3 werden die Fragen zur Beurteilung der quantitativen (zeitlichen) Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben der Rentenversicherung aufgeführt. Der Gutachter soll auch Stellung zum „positiven und negativen Leistungsbild“ der Versicherten nehmen. Dies bedeutet die Beschreibung von Fähigkeiten, „über die der Versicherte unter Berücksichtigung der festgestellten Funktionseinbußen im Hinblick auf die noch zumutbare körperliche Arbeitsschwere, die Arbeitshaltung und die Arbeitsorganisation noch verfügt (positives Leistungsbild) und welche krankheitsbedingt nicht mehr bestehen (negatives Leistungsbild)“ [42, S. 39]

Sozialmedizinische Leistungsbeurteilung

Beurteilung des zeitlichen Umfanges, in dem die letzte Berufliche Tätigkeit ausgeübt werden kann:

6 Stunden und mehr 3 bis unter 6 Stunden unter 3 Stunden Beurteilung des zeitlichen Umfanges, in dem eine Tätigkeit entsprechend dem positiven und negativen Leistungsbild ausgeübt werden kann:

6 Stunden und mehr 3 bis unter 6 Stunden unter 3 Stunden Abbildung 3

Auszug aus dem Ärztlichen Gutachten Schlussblatt Teil 1, Absatz A und B4 (BfA Version 2, 01/2004)

Die Diagnosen wurden als ICD-10-GM Ziffern genannt. Die Rücksendung der Studienunterlagen erfolgte anonym mit einem frankierten Rückumschlag an den Studienleiter. Jeder Teilnehmer erhielt 130 € Aufwandsentschädigung für diese Arbeit, was der von der Rentenversicherung gezahlten Gutachtergebühr entsprach.

Um die Anonymität zu gewährleisten, wurde die Liquidation separat verschickt.

32

2.3 Zweite Untersuchung (Diagnosestellung und Beurteilung der Arbeitsfähigkeit)

2.3.1 Studienteilnehmer

Gruppe zwei bildeten 182 Hausärzte (Fachärzte für Allgemeinmedizin oder hausärztlich tätige Internisten), die sich bereit erklärten, im Rahmen von Wochenendfortbildungsveranstaltungen eine Patientin mit einer psychiatrischen Symptomatik zu diagnostizieren. Es handelte sich um eine fiktive Kasuistik. Die Wochenendveranstaltungen zum Thema „Diagnose und Therapie von Depressionen in der Allgemeinpraxis“ fand in den Jahren 2006 und 2007 insgesamt viermal mit 38, 49, 42 und 53 Teilnehmern statt. Die Teilnahme der Ärzte fand auf freiwilliger und unentgeltlicher Basis im Anschluss an die Fortbildungsveranstaltungen statt.

Die Zielgruppe einer weiteren Fortbildungsveranstaltung bildeten Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie / Nervenärzte. Bei dieser Veranstaltung waren 20 Ärzte anwesend (Gruppe drei).

2.3.2 Ablauf

Den Teilnehmern wurde die Patientin mit depressiver Symptomatik mittels mündlicher Präsentation vorgestellt. Der Ablauf ist in Abbildung 4 schematisch dargestellt. Es wurde die Kasuistik der Patientin mündlich und mit Hilfe einer Präsentation (Microsoft PowerPoint) standardisiert vorgetragen. Die Teilnehmer erhielten ein Handout mit den PowerPoint Folien der Anamnese.

Der fiktive Fall war mit der den Fachärzten vorgelegten Kasuistik weitgehend identisch bis auf eine Änderung entlang der diagnostischen Kriterien im ICD-10 für rezidivierende depressive Störung, derzeit schwergradige Episode ohne psychotische Symptome. Es bestand eine Therapieresistenz über 12 Monate. Diese Veränderungen sollten zur Vereinfachung der Diagnosestellung beitragen.

33

Ein 20-minütiges Video zeigte das psychiatrische Interview unter Berücksichtigung der ICD-10 Kriterien für depressive Störungen. Wie bei der Kasuistik im ersten Teil dieser Arbeit wurde die Patientin vor laufender Kamera durch eine Psychotherapeutin mit 15 Jahren Berufserfahrung in der Behandlung von Patienten gespielt.

Nach der Fallpräsentation wurden die Ärzte gebeten, eine Diagnose zu stellen und ggf. die Dauer vermuteter Arbeitsunfähigkeit anzugeben. Es wurde das Standardformular der gesetzlichen Krankenkassen für die Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit (Muster 1a, siehe Anhang) genutzt.

Abbildung 4

Schematische Darstellung des Ablaufes der Untersuchung 5 Fortbildungsveranstaltungen

38

Allgemeinärzte Fachärzte

49 42 53 20

Anzahl der Teilnehmer pro Veranstaltung

182

1. Vorstellung der Anamnese & Videodemonstration 2. Dokumentation der Diagnose

3. Ggf. Ausstellung einer AU-Bescheinigung 4. Intervention: standardisiertes HAM-D Training

6. Dokumentation der HAM-D Punkte und der Diagnose 5. Erneute Videodemonstration mit HAM-D Skala

7. Ggf. Ausstellung einer AU-Bescheinigung

34

Aus sechs vorgegebenen ICD Diagnosen konnten eine oder mehrere ausgewählt werden:

▪ Anpassungsstörung/prolongierte depressive Reaktion (F43.21)

▪ Persönlichkeitsstörung, nicht näher spezifiziert (F60.9)

▪ depressive Episode, nicht näher spezifiziert (F32.9)

▪ rezidivierende depressive Störung, schwergradig ohne psychotische Symptome (F33.2)

▪ Angst und Depression, gemischt (F41.2)

▪ somatoforme Störung, nicht näher spezifiziert (F45)

Die Formulare wurden eingesammelt und die Teilnehmer erhielten eine standardisierte 20-minütige Kurzeinführung zum Einsatz der HAM-D Skala und Informationen zur Auswertung bei depressiver Symptomatik:

• leichtgradige Symptomatik < 17 Punkte

• mittelgradige Symptomatik 17 bis 24 Punkte

• schwergradige Symptomatik > 24 Punkte.

Dasselbe Video wurde erneut demonstriert und die Teilnehmer führten anschließend ein Rating nach der HAM-D Skala bei der Patientin durch. Die Punkte wurden von jedem Teilnehmer dokumentiert. Im Anschluss daran wurde erneut nach der Diagnose und ggf. der Dauer der vermuteten Arbeitsunfähigkeit gefragt.

35 2.4 Statistik

Für die Auswertung der Daten der Rentenbegutachtung bei den Fachärzten wurden alle Daten in eine Microsoft Excel Tabelle (Version: Office 2007) übertragen. Die Ergebnisse der deskriptiven Statistik werden als kategoriale Variablen in absoluten und relativen Häufigkeiten wiedergegeben. Die kontinuierliche Variablen werden mit der Spannweite angegeben.

Die Auswertung der Daten der Befragung der Allgemein- und Fachärzte bezüglich der Arbeitsunfähigkeit und Diagnose erfolgte im ersten Schritt mit Microsoft Excel.

Erneut wurde die deskriptive Statistik wie im ersten Teil erstellt. Für die weitere statistische Berechnung wurden die Rohdaten mit der Software von SPSS (IBM SPSS Statistics 25, deutsche Version) importiert und analysiert. Die Auswahl der Testverfahren geschah nach Hedderich und Sachs [49].

Als statistischer Test zur Berechnung der Signifikanz der Unterschiede zwischen den Gruppen wurden die Voraussetzungen für den t-Test geprüft. Die Daten sind intervallskaliert und es erfolgte die Testung auf Normalverteilung (Shapiro-Wilk-Test). Dieser konnte zeigen, dass die Daten „Tage der attestierten Arbeitsunfähigkeit“ nicht normalverteilt sind (p < 0,001). Somit waren die Voraussetzungen für ein parametrisches Verfahren nicht erfüllt. Für die weiteren Berechnungen wurde der Mann-Whitney-U-Test verwendet als nichtparametrisches Äquivalent des t- Testes für unabhängige Stichproben bei nicht normalverteilten Daten oder der relativ kleinen Stichprobengröße (bei Berechnungen mit n < 30) in dieser Studie. Das Signifikanzniveau alpha (α) wurde mit α = 0,05 festgelegt. Zur weiteren Beurteilung des Ergebnisses wurde die Effektstärke nach dem Korrelationskoeffizienten r von Pearson folgendermaßen berechnet:

𝑟 = | 𝑧

√𝑛|

Die Beurteilung der Effektstärke erfolgte nach der Einteilung von Cohen [50]:

r = .10 schwacher Effekt r = .30 mittlerer Effekt r = .50 starker Effekt

36

Das Design der Studie mit einer einzigen Fallpräsentation war zur genaueren Quantifizierung der Übereinstimmung zwischen mehreren Beurteilern z.B. durch die Berechnung eines Korrelationskoeffizienten nicht geeignet [51].

Vor Beginn der Datenerhebung zur Planung dieser Studie erfolgte eine Statistik-Beratung durch Dr. phil. nat. Bernd Wolfgang Igl (Institut für Mathematik, Universität Lübeck). Die statistische Auswertung der Daten erfolgte durch Julian Henderson persönlich. Die einzelnen Protokolle der statistischen Berechnungen mit SPSS befinden sich im Anhang dieser Arbeit.

37

3. Ergebnisse

3.1 Reliabilität der Diagnosefindung und sozialmedizinischer Beurteilung im Rahmen der Rentenbegutachtung (erste Untersuchung)

3.1.1 Charakteristika der Teilnehmer

22 von 30 angeschriebenen Gutachtern (Rücklaufquote: 73 %) sandten die Studienunterlagen komplett ausgefüllt und somit auswertbar zurück. Sieben Anschreiben wurden nicht beantwortet, ein Arzt sandte die Unterlagen wegen Überlastung zurück.

In Tabelle 3 sind die Charakteristika der Teilnehmer dargestellt.

Alle (22 von 22) Teilnehmer nannten den präsentierten Fall realistisch. 15 von 22 Teilnehmern (68%) betrachteten die Honorierung der Rentenversicherungsträger für die Erstellung von Gutachten als unangemessen niedrig.

Gutachter (n= 22) Durchschnitt Spannweite Alter (Jahre) 47,7 37 – 63 Facharzttätigkeit (Jahre) 13,7 1,75 – 25 Gutachtertätigkeit (Jahre) 10,6 1 – 20 Gutachten pro Monat (Anzahl) 11,5 1 – 30 Facharzt/-ärztin für Neurologie (Anzahl) 1

Facharzt/-ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie(Anzahl) 1 Facharzt/-ärztin für Neurologie und Psychiatrie (Anzahl) 20

Nutzung von Schätzskalen bei Gutachten (%) 41 Tabelle 3

Charakteristika der Studienpopulation, erste Untersuchung (Gruppe der fachärztlichen Gutachter)

38 3.1.2 Diagnosestellung

Die Diagnosestellung der Gutachter nach ICD-10 wies eine hohe Variabilität auf.

Häufigste genannte Hauptdiagnose war die rezidivierende depressive Störung mittel- oder schwergradig (F33.1 und F33.2) mit sieben Nennungen. Die Verteilung der Hauptdiagnosen ist in Abbildung 5 graphisch dargestellt.

Die Nebendiagnosen der fachärztlichen Gutachter sind in Tabelle 4 (folgende Seite) dargestellt. Der Häufigkeit nach wurden somatoforme Störung (9 Nennungen), Alkoholmissbrauch (6), Persönlichkeitsstörungen (3), Anpassungsstörungen (3) sowie anhaltende affektive Störungen (Cyclothymia, Dysthymia jeweils eine Nennung) genannt. Vier Gutachter, die die depressive Episode nicht als Hauptdiagnose genannt hatten, führten diese als Nebendiagnose.

Abbildung 5

Hauptdiagnosen nach ICD-10 der fachärztlichen Gutachter

F 33.1 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtige Episode mittelgradig F 33.2 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtige Episode schwergradig

ohne psychotische Symptome F 32.1 Depressive Episode, mittelgradig

F 43.2 Anpassungsstörung, prolongierte depressive Reaktion F 34.1 Dysthymia

F 45.4 Somatoforme Störung, nicht näher spezifiziert F 60.7 Persönlichkeitsstörung, abhängig

Z 56.- Kontaktanlässe mit Bezug auf das Berufsleben (Probleme im Beruf)

F33.1

39 ICD

Schlüssel

Beschreibung Anzahl der Nennungen als

Diagnose

Z56 Kontaktanlässe mit Bezug auf das Berufsleben (Probleme im Beruf)

1 0 0 0

Tabelle 4

Verteilung der Haupt- und Nebendiagnosen der fachärztlichen Gutachter

40 3.1.3 Sozialmedizinische Beurteilung Letzte berufliche Tätigkeit

Sechs Gutachter bescheinigten der Versicherten ein Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden täglich, acht Gutachter ein Leistungsvermögen von drei bis sechs Stunden täglich und acht Gutachter ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr (Abbildung 6).

Abbildung 6

Sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit (Die Abweichungen vom Gesamtwert 100 % sind durch Rundungen zu erklären.)

Alle denkbaren Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt

Vier Gutachter bescheinigten der Versicherten ein Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden täglich, sieben Gutachter ein Leistungsvermögen von drei bis sechs Stunden täglich und elf Gutachter ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr (Abbildung 7).

≥ 6 Stunden 36% (n= 8)

3-6 Stunden 36% (n= 8)

< 3 Stunden 27% (n=6)

41 Abbildung 7

Sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit für alle denkbaren Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt

Zusammengefasste sozialmedizinische Beurteilung als Kriterium für die Gewährung einer Rente

Vier Gutachter bescheinigten der Versicherten ein Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit und alle anderen denkbaren Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Damit waren die medizinische Voraussetzung für Gewährung einer vollen Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt (siehe Tabelle 5, grau hinterlegtes Feld).

Acht Gutachter bescheinigten der Versicherten ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr, sowohl in der letzten beruflichen Tätigkeit als auch für alle Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und damit fehlende medizinische Voraussetzungen für Rentenzahlung.

Sieben Gutachter sahen für die letzte berufliche Tätigkeit und alle anderen Tätigkeiten eine Belastbarkeit von 3 bis 6 Stunden als gegeben. Ein Gutachter sah für die letzte berufliche Tätigkeit eine Belastbarkeit von 3 bis 6 Stunden als gegeben, für alle denkbaren Tätigkeiten 6 Stunden und mehr. Zwei Gutachter sahen für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden, aber für

≥ 6 Stunden 50%

(n= 11) 3-6 Stunden

32% (n= 7)

< 3 Stunden 18% (n= 4)

42

alle anderen Tätigkeiten eine Belastbarkeit von sechs Stunden und mehr (Tabelle 5).

Tabelle 5

Antworten der Gutachter zur Beurteilung der sozialmedizinischen Leistungsfähigkeit in der zuletzt ausgeführten Tätigkeit und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als

zusammenhängende Aussagen

Sieben Gutachter (35 %) hielten eine Besserung des Gesundheitszustandes der Versicherten für unwahrscheinlich, 13 Gutachter (65 %) für wahrscheinlich.

Sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit für…

… die zuletzt ausgeübte Tätigkeit

< 3 Stunden 3 bis 6 Stunden ≥ 6 Stunden

den allgemeinen Arbeitsmarkt < 3 Stunden 4 0 0

3 bis 6 Stunden 0 7 0

≥ 6 Stunden 2 1 8

43

3.2 Reliabilität der Diagnosestellung und Beurteilung der Arbeitsfähigkeit (zweite Untersuchung)

3.2.1 Hausärzte

Die Standardformulare nach Muster 1a (siehe Anhang) wurden bei allen vier Veranstaltungen an insgesamt 184 Allgemeinärzte oder hausärztlich tätige Internisten ausgegeben. Im ersten Durchgang wurden 182 der Formulare (98 %) korrekt ausgefüllt und abgegeben. Zwei Teilnehmer wollten nicht an der schriftlichen Befragung teilzunehmen. Im zweiten Durchgang wurde eine Rücklaufquote von 95 % erreicht.

Diagnosestellung

Nach Präsentation der Kasuistik und des Video-Interviews (erster Durchgang) streuten die Diagnosen über alle sechs vorgegeben ICD Schlüssel und nur 24 % der Teilnehmer entschieden sich anhand der ICD Kriterien für die korrekte Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung mit gegenwärtig schwergradiger Episode ohne psychotische Symptome (Abbildung 8, folgende Seite). „Schädlicher Alkoholmissbrauch“ wurde von keinem Teilnehmer genannt.

Nach diesem ersten Durchlauf mit Präsentation der Kasuistik erfolgte die Intervention in Form eines standardisierten HAM-D Rater Trainings und ein 17-Item Standardrating des Video-Interviews. Die Verteilung der Punkte nach der HAM-D Skala ist in Tabelle 6 dargestellt.

Anzahl der Teilnehmer

n=181, keine Angaben: n= 2 HAM-D Punkte Schweregrad der Depression

9 (5 %) < 17 normal/leichtgradig

148 (82 %) 18-23 mittelgradig

22 (12 %) > 24 schwergradig

Tabelle 6

Verteilung der HAM-D Punkte der Allgemeinärzte, Abweichungen auf 100% aufgrund von Rundung

Im zweiten Durchgang nannten 44 % der Teilnehmer die korrekte Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung mit gegenwärtig schwergradiger Episode ohne psychotische Symptome.

44 Abbildung 8

Diagnosen der Allgemeinärzte vor (hellgraue Balken) und nach (dunkelgraue Balken) dem HAM-D Training

n= 42

% Initiale Diagnosestellung (n= 182) % nach HAMD Training (n= 179)

45 Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit

Die Anzahl der Tage, die als vermutliche Dauer für fortbestehende Arbeitsunfähigkeit angegeben wurden, wird in Abbildung 9 graphisch dargestellt.

Auffällig ist eine Gruppierung der attestierten Tage nach Wochen, sodass eine statistische Beurteilung mittels parametrischer Verfahren nicht möglich war. Die durchschnittliche Zahl der attestierten Tage der Arbeitsunfähigkeit war nach dem HAM-D Training signifikant höher (P <0,001, Mann-Whitney-Test, Tabelle 7).

Abbildung 9

Bewertung der Arbeitsunfähigkeit in Tagen vor und nach dem HAM-D Training

Bewertung der Arbeitsunfähigkeit in Tagen vor und nach dem HAM-D Training