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3. Ergebnisse

3.1 Reliabilität der Diagnosefindung und sozialmedizinischer Beurteilung

3.1.1 Charakteristika der Teilnehmer

22 von 30 angeschriebenen Gutachtern (Rücklaufquote: 73 %) sandten die Studienunterlagen komplett ausgefüllt und somit auswertbar zurück. Sieben Anschreiben wurden nicht beantwortet, ein Arzt sandte die Unterlagen wegen Überlastung zurück.

In Tabelle 3 sind die Charakteristika der Teilnehmer dargestellt.

Alle (22 von 22) Teilnehmer nannten den präsentierten Fall realistisch. 15 von 22 Teilnehmern (68%) betrachteten die Honorierung der Rentenversicherungsträger für die Erstellung von Gutachten als unangemessen niedrig.

Gutachter (n= 22) Durchschnitt Spannweite Alter (Jahre) 47,7 37 – 63 Facharzttätigkeit (Jahre) 13,7 1,75 – 25 Gutachtertätigkeit (Jahre) 10,6 1 – 20 Gutachten pro Monat (Anzahl) 11,5 1 – 30 Facharzt/-ärztin für Neurologie (Anzahl) 1

Facharzt/-ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie(Anzahl) 1 Facharzt/-ärztin für Neurologie und Psychiatrie (Anzahl) 20

Nutzung von Schätzskalen bei Gutachten (%) 41 Tabelle 3

Charakteristika der Studienpopulation, erste Untersuchung (Gruppe der fachärztlichen Gutachter)

38 3.1.2 Diagnosestellung

Die Diagnosestellung der Gutachter nach ICD-10 wies eine hohe Variabilität auf.

Häufigste genannte Hauptdiagnose war die rezidivierende depressive Störung mittel- oder schwergradig (F33.1 und F33.2) mit sieben Nennungen. Die Verteilung der Hauptdiagnosen ist in Abbildung 5 graphisch dargestellt.

Die Nebendiagnosen der fachärztlichen Gutachter sind in Tabelle 4 (folgende Seite) dargestellt. Der Häufigkeit nach wurden somatoforme Störung (9 Nennungen), Alkoholmissbrauch (6), Persönlichkeitsstörungen (3), Anpassungsstörungen (3) sowie anhaltende affektive Störungen (Cyclothymia, Dysthymia jeweils eine Nennung) genannt. Vier Gutachter, die die depressive Episode nicht als Hauptdiagnose genannt hatten, führten diese als Nebendiagnose.

Abbildung 5

Hauptdiagnosen nach ICD-10 der fachärztlichen Gutachter

F 33.1 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtige Episode mittelgradig F 33.2 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtige Episode schwergradig

ohne psychotische Symptome F 32.1 Depressive Episode, mittelgradig

F 43.2 Anpassungsstörung, prolongierte depressive Reaktion F 34.1 Dysthymia

F 45.4 Somatoforme Störung, nicht näher spezifiziert F 60.7 Persönlichkeitsstörung, abhängig

Z 56.- Kontaktanlässe mit Bezug auf das Berufsleben (Probleme im Beruf)

F33.1

39 ICD

Schlüssel

Beschreibung Anzahl der Nennungen als

Diagnose

Z56 Kontaktanlässe mit Bezug auf das Berufsleben (Probleme im Beruf)

1 0 0 0

Tabelle 4

Verteilung der Haupt- und Nebendiagnosen der fachärztlichen Gutachter

40 3.1.3 Sozialmedizinische Beurteilung Letzte berufliche Tätigkeit

Sechs Gutachter bescheinigten der Versicherten ein Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden täglich, acht Gutachter ein Leistungsvermögen von drei bis sechs Stunden täglich und acht Gutachter ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr (Abbildung 6).

Abbildung 6

Sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit (Die Abweichungen vom Gesamtwert 100 % sind durch Rundungen zu erklären.)

Alle denkbaren Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt

Vier Gutachter bescheinigten der Versicherten ein Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden täglich, sieben Gutachter ein Leistungsvermögen von drei bis sechs Stunden täglich und elf Gutachter ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr (Abbildung 7).

≥ 6 Stunden 36% (n= 8)

3-6 Stunden 36% (n= 8)

< 3 Stunden 27% (n=6)

41 Abbildung 7

Sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit für alle denkbaren Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt

Zusammengefasste sozialmedizinische Beurteilung als Kriterium für die Gewährung einer Rente

Vier Gutachter bescheinigten der Versicherten ein Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit und alle anderen denkbaren Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Damit waren die medizinische Voraussetzung für Gewährung einer vollen Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt (siehe Tabelle 5, grau hinterlegtes Feld).

Acht Gutachter bescheinigten der Versicherten ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr, sowohl in der letzten beruflichen Tätigkeit als auch für alle Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und damit fehlende medizinische Voraussetzungen für Rentenzahlung.

Sieben Gutachter sahen für die letzte berufliche Tätigkeit und alle anderen Tätigkeiten eine Belastbarkeit von 3 bis 6 Stunden als gegeben. Ein Gutachter sah für die letzte berufliche Tätigkeit eine Belastbarkeit von 3 bis 6 Stunden als gegeben, für alle denkbaren Tätigkeiten 6 Stunden und mehr. Zwei Gutachter sahen für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden, aber für

≥ 6 Stunden 50%

(n= 11) 3-6 Stunden

32% (n= 7)

< 3 Stunden 18% (n= 4)

42

alle anderen Tätigkeiten eine Belastbarkeit von sechs Stunden und mehr (Tabelle 5).

Tabelle 5

Antworten der Gutachter zur Beurteilung der sozialmedizinischen Leistungsfähigkeit in der zuletzt ausgeführten Tätigkeit und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als

zusammenhängende Aussagen

Sieben Gutachter (35 %) hielten eine Besserung des Gesundheitszustandes der Versicherten für unwahrscheinlich, 13 Gutachter (65 %) für wahrscheinlich.

Sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit für…

… die zuletzt ausgeübte Tätigkeit

< 3 Stunden 3 bis 6 Stunden ≥ 6 Stunden

den allgemeinen Arbeitsmarkt < 3 Stunden 4 0 0

3 bis 6 Stunden 0 7 0

≥ 6 Stunden 2 1 8

43

3.2 Reliabilität der Diagnosestellung und Beurteilung der Arbeitsfähigkeit (zweite Untersuchung)

3.2.1 Hausärzte

Die Standardformulare nach Muster 1a (siehe Anhang) wurden bei allen vier Veranstaltungen an insgesamt 184 Allgemeinärzte oder hausärztlich tätige Internisten ausgegeben. Im ersten Durchgang wurden 182 der Formulare (98 %) korrekt ausgefüllt und abgegeben. Zwei Teilnehmer wollten nicht an der schriftlichen Befragung teilzunehmen. Im zweiten Durchgang wurde eine Rücklaufquote von 95 % erreicht.

Diagnosestellung

Nach Präsentation der Kasuistik und des Video-Interviews (erster Durchgang) streuten die Diagnosen über alle sechs vorgegeben ICD Schlüssel und nur 24 % der Teilnehmer entschieden sich anhand der ICD Kriterien für die korrekte Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung mit gegenwärtig schwergradiger Episode ohne psychotische Symptome (Abbildung 8, folgende Seite). „Schädlicher Alkoholmissbrauch“ wurde von keinem Teilnehmer genannt.

Nach diesem ersten Durchlauf mit Präsentation der Kasuistik erfolgte die Intervention in Form eines standardisierten HAM-D Rater Trainings und ein 17-Item Standardrating des Video-Interviews. Die Verteilung der Punkte nach der HAM-D Skala ist in Tabelle 6 dargestellt.

Anzahl der Teilnehmer

n=181, keine Angaben: n= 2 HAM-D Punkte Schweregrad der Depression

9 (5 %) < 17 normal/leichtgradig

148 (82 %) 18-23 mittelgradig

22 (12 %) > 24 schwergradig

Tabelle 6

Verteilung der HAM-D Punkte der Allgemeinärzte, Abweichungen auf 100% aufgrund von Rundung

Im zweiten Durchgang nannten 44 % der Teilnehmer die korrekte Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung mit gegenwärtig schwergradiger Episode ohne psychotische Symptome.

44 Abbildung 8

Diagnosen der Allgemeinärzte vor (hellgraue Balken) und nach (dunkelgraue Balken) dem HAM-D Training

n= 42

% Initiale Diagnosestellung (n= 182) % nach HAMD Training (n= 179)

45 Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit

Die Anzahl der Tage, die als vermutliche Dauer für fortbestehende Arbeitsunfähigkeit angegeben wurden, wird in Abbildung 9 graphisch dargestellt.

Auffällig ist eine Gruppierung der attestierten Tage nach Wochen, sodass eine statistische Beurteilung mittels parametrischer Verfahren nicht möglich war. Die durchschnittliche Zahl der attestierten Tage der Arbeitsunfähigkeit war nach dem HAM-D Training signifikant höher (P <0,001, Mann-Whitney-Test, Tabelle 7).

Abbildung 9

Bewertung der Arbeitsunfähigkeit in Tagen vor und nach dem HAM-D Training

Tabelle 7

Durchschnittliche Anzahl der attestierten Tage der Arbeitsunfähigkeit der Allgemeinärzte vor und nach der Intervention mittels des HAM-D Trainings.

In eckigen Klammern das 95% Konfidenzintervall. Mann-Whitney-Test bei nicht normalverteilten Daten zur Ermittlung des P-Wertes und Berechnung der Effektstärke (r) nach Pearson.

Allgemeinärzte Tage [95% KI] P (r)

Keine AU ausgestellt 1-7 Tage 8-14 Tage 15-28 Tage

Anzahl der Allgemeirzte

Dauer der zertifizierten Arbeitsunfähigkeit Initiale Bewertung der Arbeitsunfähigkeit

Bewertung der Arbeitsunfähigkeit nach HAMD Training

46 3.2.2 Fachärzte

Die Standardformulare nach Muster 1a wurden bei der Veranstaltung für Fachärzte an insgesamt 20 Teilnehmer ausgegeben. Alle Teilnehmer gaben korrekt ausgefüllte Vordrucke zurück.

Nach Präsentation der Kasuistik sowie des Video-Interviews diagnostizierten 20 % der Fachärzte die korrekte Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung mit gegenwärtig schwergradiger Episode ohne psychotische Symptome (Abbildung 10, folgende Seite). Die HAM-D Verteilung ist in Tabelle 8 dargestellt.

Anzahl der Teilnehmer

n=20 HAM-D Punkte Schweregrad der Depression

1 (5 %) < 17 normal/leichtgradig

13 (65 %) 18-23 mittelgradig

6 (30 %) > 24 schwergradig

Tabelle 8

Verteilung der HAM-D Punkte der Fachärzte

Nach der Intervention diagnostizierten 50 % der Fachärzte die korrekte Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung mit gegenwärtig schwergradiger Episode ohne psychotische Symptome (Abbildung 10). Die Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit ist in Tabelle 9 dargestellt. Die Zahl der durchschnittlich attestierten Tage der Arbeitsunfähigkeit war nach der Intervention signifikant höher.

Fachärzte für Psychiatrie und

Durchschnittliche Anzahl der attestierten Tage der Arbeitsunfähigkeit der Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie vor und nach der Intervention mittels des HAM-D Trainings.

In eckigen Klammern das 95% Konfidenzintervall. Mann-Whitney-Test mit Berechnung der exakten Signifikanz bei n < 30 zur Ermittlung des P-Wertes und Berechnung der Effektstärke (r) nach Pearson.

47 Abbildung 10

Diagnosen der Fachärzte vor und nach dem HAM-D Training

n= 7

% Initiale Diagnosestellung (n= 20) % nach HAMD Training (n= 20)

48

4. Diskussion

In der vorgelegten Arbeit sollte in einer ersten Untersuchung mit 22 Psychiatern zunächst die Reliabilität der Diagnosestellung und Einschätzung der Erwerbsfähigkeit untersucht werden. Dies erfolgte anhand eines Falles, bei dem alle diagnostischen Kriterien einer mittelgradigen rezidivierenden depressiven Episode erfüllt waren. Die Begutachtung durch erfahrene Fachärzte fiel äußerst heterogen aus.

In einem zweiten Experiment mit 182 Hausärzten sowie 20 Nervenärzten sollte die Reliabilität von Diagnosestellung und Einschätzung der Arbeitsfähigkeit ermittelt werden, um anschließend den Effekt des Einsatzes einer Schätzskala auf die Reliabilität zu untersuchen. Erneut fand sich bei der Diagnose einer schweren depressiven Episode eine ausgeprägte Heterogenität der Diagnosestellung und Einschätzung der Arbeitsfähigkeit. Der Einsatz der HAM-D Fremdbeurteilungsskala erhöhte die diagnostische Reliabilität in dieser Stichprobe.

Dies ist die erste Untersuchung dieser Art an den benannten Arztgruppen und dieser speziellen Erkrankung. Die Problematik der Reliabilität sozialmedizinischer Begutachtung bei depressiver Erkrankung war bis 2007 ein wissenschaftlich weitgehend unbearbeitetes Feld.

4.1 Fachärzte als Gutachter zur Frage der Erwerbsminderung im Rentenverfahren2

Die erste Untersuchung dieser Arbeit zeigte, dass innerhalb einer Gruppe von 22 sehr erfahrenen Gutachtern mit hoher Gutachtenfrequenz (Durchschnitt: elf Gutachten pro Monat) die Bewertung eines fiktiven Falles zu äußerst unterschiedlichen Ergebnissen führte.

Schon bei Stellung der ICD-10 Hauptdiagnose wurden sechs verschiedene Diagnosen genannt. Nur 32 % der Gutachter wählten die den ICD-10 Kriterien naheliegendste Diagnose einer rezidivierenden depressiven Episode mit mittelgradigem Schweregrad.

2Teile dieses Abschnittes entsprechen der eigenen Publikation: Dickmann JR, Broocks A: Das psychiatrische Gutachten im Rentenverfahren – wie reliabel? Fortschr Neurol Psychiatr, 75, 397-401 (2007)

49 Variabilität der Diagnosestellung

Die Variabilität der Diagnosestellung in unserer Stichprobe könnte durch ein Alleinstellungsmerkmal der Psychiatrie erklärt werden. Viele Diagnosen können in der Medizin kategorial mit hoher Sicherheit gestellt werden, weil objektive Befunde und Laborparameter existieren. Schwangerschaft, Frakturen oder ein Myokardinfarkt sind Musterbeispiele. In der klinischen Praxis der ambulanten Begutachtung eines Patienten mit einer psychischen Störung fehlen aktuell noch solche diagnostischen Labor- oder Bildgebungsbefunde, die eine Diagnose sichern.

Aktuelle Untersuchungen mittels fMRT-basierter Identifikation von Biomarkern bei affektiven Störungen, die einen Einblick in die komplizierte Pathogenese bei depressiven Erkrankungen erlauben, sind noch auf Studien beschränkt und haben noch keinen Einfluss auf die Diagnose einer affektiven Störung im ambulanten Rahmen [23]. Der Arzt ist auf eine selbst erhobene Krankengeschichte und den psychiatrischen Untersuchungsbefund beschränkt.

Das Diagnosesystem ICD-10 ist kompliziert. ICD-10 kategorisiert unter dem Oberbegriff „Affektive Störungen“ mit dem Kode F30 bis F39 insgesamt 36 Diagnosen. Unter Einschluss der Anpassungsstörungen mit depressiver Symptomatik ergaben sich 51 diagnostische Kategorien [27]. Die Kriterien für kategoriale Zuordnung sind oft „weich“ und die Umstellung auf

„Spektrumsdiagnosen“ im DSM-V bereits vollzogen.

Bei komplizierten Prozessen wie der Diagnostik psychischer Störungen hilft es, strukturiert vorzugehen. Zur sicheren Diagnosestellung ist eine vollständige Exploration des Patienten wichtig. Mit dem standardisierten Verfahren des halbstrukturierten Interviews nach dem AMDP-System (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie) liegt ein Fremdbeurteilungsverfahren zur differenzierten Erfassung psychopathologischer Symptome bei psychischen Erkrankungen vor. Diese lassen sich systematisch vermitteln und erlernen: Im AMDP-Manual [52] werden psychopathologische Begriffe genau definiert und Beispiele für verschiedene Schweregrade gegeben.

Der Leitfaden zur Erfassung psychopathologischer Symptome [53] ist hilfreich zum Erlernen einer differenzierten Exploration des Patienten. Auf diese Weise hat das AMDP System einen weiten Anwendungsbereich in Forschung und Praxis gefunden [54].

50

Die Teilnahme an einem Seminar über die standardisierte Befunderhebung unter Anwendung von Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen ist mittlerweile obligat für die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie [55, 56]. Die Gutachter dieser Studie nutzten nur zu 41 % jegliche Formen von Schätzskalen.

Dies könnte ein möglicher Grund für die Variabilität der gestellten Diagnosen sein.

Von 22 fachärztlichen Gutachtern nannten sechs als Nebendiagnose „schädlicher Gebrauch von Alkohol“. Dies ist erstaunlich, weil die Kombination von depressiv-ängstlicher Symptomatik und Alkoholabusus häufig ist und spezieller Suchttherapie zugänglich wäre, was wiederum Einfluss auf die Prognose der Minderung von Erwerbsfähigkeit hätte.

Variabilität der sozialmedizinischen Begutachtung

Bei der sozialmedizinischen Begutachtung der Minderung der Erwerbsfähigkeit sahen acht Gutachter keine wesentlichen Einschränkungen, vier schätzten das Leistungsvermögen geringer als drei Stunden pro Tag für alle Tätigkeiten ein, und acht hielten Arbeit von drei bis unter sechs Stunden pro Tag noch für möglich. Drei Gutachter gingen von voller Belastbarkeit für alle denkbaren Tätigkeiten aus, sahen aber die Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als eingeschränkt an.

Praktisch bedeutete dies für die Versicherte, dass acht Kollegen jede Rentenzahlung für unangemessen hielten, vier für volle Erwerbsminderungsrente plädierten und zehn für eine Teilerwerbsminderungsrente. Die vier Nervenärzte, die das Leistungsvermögen als aufgehoben einschätzen, hatten die korrekte Diagnose nach den ICD-10 Kriterien gestellt.

Erstaunlich ist, dass die Mehrheit allenfalls medizinische Voraussetzungen für eine Teilerwerbsunfähigkeitsrente als gegeben sah. Die Kasuistik nach ICD-10 Kriterien und den Empfehlungen des Verbandes der Rentenversicherungsträger war so konstruiert, dass die Voraussetzungen für eine dauerhaft aufgehobene Erwerbsunfähigkeit gegeben waren. Im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorurteilen über „lasche“ psychiatrische Gutachter erwies sich diese Stichprobe als „hart“ im Urteil.

Ein Grund für die Abneigung einer Mehrheit der Gutachter, aufgehobenes Leistungsvermögen im Berufsleben festzustellen, könnte in einem Detail der

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biografischen Anamnese zu finden sein: der seit 1997 schwelende Konflikt der Versicherten mit ihrem Arbeitgeber, einem weltweit operierenden Telekommunikationsunternehmen. Die Personalpolitik dieses Unternehmens hatte gerade in Nordwestdeutschland nach massenhafter Frühverrentungen von Mitarbeitern hohe Wellen geschlagen und sogar zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen auch gegen Ärzte geführt [57]. Es ist denkbar, dass Mitarbeitern von Großunternehmen in ähnlicher Konstellation inzwischen ein negativer Gutachter-Bias entgegenschlägt. Bachmann et al. haben auf diesen besonders heiklen Punkt der individuellen Erwartungen jedes Gutachters an die Resilienz am Arbeitsplatz eines Antragstellers im Rentenverfahren verwiesen [58].

Der Umstand, dass dieselbe Versicherte bei 22 Gutachtern mit ganz unterschiedlichen Diagnosen und Bewertungen ihrer Leistungsfähigkeit rechnen musste, ist unbefriedigend.

Linden nennt in seinem Editorial zur Publikation dieser Arbeit [59] einen Grund für fehlende Reliabilität in der mangelnden Differenzierung zwischen dem Schweregrad psychischer Funktionsstörungen und den daraus resultierenden Fähigkeitsstörungen. Der zu begutachtende Fall einer depressiven Patientin mit somatoformer Symptomatik lasse auf eine eingeschränkte Fähigkeit zu Sozialkontakten und reduzierte Durchhaltefähigkeit bei Störung von Konzentration und Erschöpfbarkeit schließen.

„Damit wäre die Patientin trotz depressiver Störung arbeitsfähig für Berufe, die z. B. keinen Kundenkontakt erfordern, was für eine Bürotätigkeit gelten könnte. Sie wäre des Weiteren arbeitsfähig, wenn keine konstante Leistung erfordert wird, was für bestimmte Bürotätigkeiten durchaus vorstellbar ist.

Abhängig davon, ob ein Gutachter nun diese Spezialsituation eines Arbeitsplatzes für denkbar hält oder nicht, muss er die Patientin als arbeitsfähig einstufen. Auch diesbezüglich wird das Urteil letztlich dann vom Pessimismus oder Optimismus oder der Weltsicht des Gutachters abhängen“. [59]

Linden geht weiter auf den heiklen Punkt „Zumutbarkeit“ von potentiell auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen freien Positionen ein.

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„Gäbe es keine Sozialversicherung, dann wäre die Patientin sicherlich gezwungen, irgendeiner Tätigkeit nachzugehen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dies gilt im Grundsatz mit ganz wenigen Ausnahmen für alle Menschen, die Sozialleistungen beziehen. Sozialleistungen sind ihrer Natur nach dafür da, Lebenshärten abzumildern, d. h. es einem 67-jährigen oder einer depressiven Frau zu ersparen, den eigenen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen zu müssen. Bei der Einschätzung einer Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit spielt also das Kriterium der zumutbaren Anstrengung eine wichtige Rolle. Hier kommen selbstverständlich wert- und gesellschaftspolitische Urteile sowohl beim Patienten wie auch dem Gutachter zum Tragen. Warum soll ein Gutachter einen offensichtlich kranken Menschen an den Arbeitsplatz zwingen, wenn gleichzeitig viele gesunde keine Arbeit finden und deswegen Sozialleistungen in gleicher Höhe beziehen, auf die der Kranke Anspruch erhebt. […] Solche Kenntnisse der Gutachter über die allgemeine sozialpolitische Situation im Lande sind explizit oder unbewusst ebenfalls entscheidungsrelevant“. [59]

Was die Bewertung vorgetragener seelischer Symptome durch einen Gutachter angeht, sieht Linden ihn in einer ähnlichen Situation wie ein Richter, der der Schilderung eines Angeklagten zum Tathergang glauben kann oder auch nicht.

Bachmann et al. diskutieren anlässlich der Präsentation eines Studienprotokolls zur Verbesserung der Reliabilität der Begutachtung von Versicherten mit psychischen Erkrankungen in der Schweiz weitere mögliche Einflussfaktoren [58]. Sie nennen an erster Stelle den mangelnden Abgleich zwischen vom Versicherten vorgetragenen Gesundheitseinschränkungen und seinen verbliebenen Fähigkeiten, auf genau definierten Positionen des Arbeitsmarktes noch Erwerbsarbeit ausüben zu können [58]. So wie die Begutachtung in der Schweiz derzeit geregelt sei, diene den Gutachtern jeweils ihre ganz persönliche – und damit begrenzte – Einschätzung des Arbeitsmarktes als Referenz für ihr Urteil [60, 61]. Dies lässt sich auf die Situation im Begutachtungsverfahren der deutschen Rentenversicherung übertragen. Die Autoren verweisen des Weiteren darauf, dass dieses Problem alle Gutachter betrifft, unabhängig davon ob es sich um körperliche oder psychische Einschränkungen handele.

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Verbesserungsmöglichkeiten der sozialmedizinischen Begutachtung

Die Gleichbehandlung der Versicherten bei sozialmedizinischer Begutachtung ist unabdingbar. Das Problem der Beurteilungsvarianz psychischer Erkrankungen, die in dieser Untersuchung erstmalig im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung illustriert worden ist, rückte in den letzten Jahren in den Fokus der Rentenversicherungsträger. Zur Verbesserung der Situation wurde eine Kommission zur Weiterentwicklung der Sozialmedizin in der gesetzlichen Rentenversicherung (SOMENKO) gegründet. In deren Abschlussbericht [62] wurde die zentrale Bedeutung von evidenzbasierter Medizin in Form von Leitlinien zur besseren „( … ) Transparenz und Nachvollziehbarkeit sozialmedizinischer Beurteilungen ( … )“ [S.3, 62] diskutiert.

In 2006 wurden die Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung - Sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen als Expertenkonsensus publiziert [44]. In der aktuellen Version von 2012 gibt es nun das Kapitel „Störungsspezifische sozialmedizinische Beurteilung“. In diesem werden Beispiele anhand der wichtigen psychischen Verhaltensstörungen als Leitfaden zur krankheitsspezifischen Beurteilung des Leistungsvermögens dargestellt [63]. Vorher existierten nur die relativ allgemein gehaltenen Hinweise zur Begutachtung [42] sowie der Leitfaden Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung [43]. Zusammenfassend sind in den letzten Jahren die Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung von Patienten deutlich umfangreicher geworden.

Zur Qualitätssicherung und Prüfung sozialmedizinischer Gutachten wurde außerdem 2013 ein neues Prüfverfahren entwickelt. Als zentraler Punkt wurde das bei wissenschaftlichen Publikation praktizierte Peer Review-Verfahren von der Deutschen Rentenversicherung eingeführt [64]. Mit diesem Verfahren werden jedes Jahr 140 Gutachten jedes Rentenversicherungsträgers durch erfahrene und vorab geschulte Sozialmediziner der Rentenversicherungsträger geprüft. Die Gutachten werden auf formale Qualitätskriterien (Formale Gestaltung, Verständlichkeit, Vollständigkeit, medizinisch-wissenschaftliche Grundlagen sowie Wirtschaftlichkeit und als übergeordnetes Kriterium, die Nachvollziehbarkeit des Gutachtens) geprüft und bewertet (keine, leichte, deutliche und gravierende Mängel).

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Dies ist ein erster indirekter Schritt zur Verbesserung der Gutachtenqualität und zur Gleichbehandlung der Versicherten. Diese Form der Qualitätssicherung basiert auf einer retrospektiven Analyse aller Gutachten, die durch das Peer Review-Verfahren in der Zukunft verbessert werden können. Es gibt von der deutschen Rentenversicherung keine Publikationen zu den Folgen eines als mit „gravierenden Mängeln“ bewerteten Gutachtens. Ein solches Gutachten sollte schon während des laufenden Antrages der Versicherten als „ungenügend“ beziffert werden und nicht im Verfahren verwendet werden. Eine interne Studie der DRV analysierte die Gutachtenqualität des Peer Review-Verfahrens nach Aktenlage und stellten fest, dass die Gutachten „in der Mehrzahl den qualitativen Anforderungen genügen“ [65].

Die Qualität des einzelnen Gutachtens kann direkt nur durch eine Verbesserung des Gutachtenprozesses erfolgen. Hier spielten mehrere Faktoren eine Rolle.

Übergreifender Faktor ist aber die Zeit, die sich der Gutachter für einen Versicherten nimmt und damit natürlich auch die Bezahlung des Gutachters. Nach der aktuellen Vergütung werden für ein formfreies Gutachten der gesetzlichen Rentenversicherung im Fachgebiet der Psychiatrie 235,82 € gezahlt [66]. Dieses umfasst das Aktenstudium, die Erhebung der Krankengeschichte, die persönliche Untersuchung und Befragung sowie die sozialmedizinische Beurteilung und das Diktat einschließlich Korrekturen. Die Kosten weiterer diagnostischer Leistungen sind mit diesem Paulschalbetrag abgegolten. Mehraufwand wird in besonderen

Übergreifender Faktor ist aber die Zeit, die sich der Gutachter für einen Versicherten nimmt und damit natürlich auch die Bezahlung des Gutachters. Nach der aktuellen Vergütung werden für ein formfreies Gutachten der gesetzlichen Rentenversicherung im Fachgebiet der Psychiatrie 235,82 € gezahlt [66]. Dieses umfasst das Aktenstudium, die Erhebung der Krankengeschichte, die persönliche Untersuchung und Befragung sowie die sozialmedizinische Beurteilung und das Diktat einschließlich Korrekturen. Die Kosten weiterer diagnostischer Leistungen sind mit diesem Paulschalbetrag abgegolten. Mehraufwand wird in besonderen