• Keine Ergebnisse gefunden

1. Einleitung und Fragestellung

1.3 Die Erfassung des Schweregrades einer Depression

Die Trennschärfe der Kriterien für eine leichtgradige und mittelgradige depressive Episode in der ICD-10 ist nicht hoch. Trennendes Kriterium für die mittelgradige Episode im Gegensatz zur leichtgradigen ist die mangelnde Fähigkeit, die Anforderungen des Alltags bewältigen zu können. Bei einer leichtgradigen Episode ist der Patient „wahrscheinlich noch in der Lage, den meisten Aktivitäten im Alltag nachzugehen“ (ICD-10, [27]). Bei einer mittelgradigen Episode hat er „große Schwierigkeiten, den üblichen Aktivitäten weiter nachzugehen“. Die Beurteilerübereinstimmung (Interrater-Reliabilität) für eine solche Abgrenzung dürfte schwer herzustellen sein. Der letzte Satz des einleitenden Textes der ICD zu den diagnostischen Kriterien einer depressiven Episode betont die Notwendigkeit der Erfassung der Ausprägung jedes einzelnen typischen Symptoms und Zeichens einer Depression für die Einstufung des Schweregrades, gibt aber keine Anleitung, wie das geschehen sollte:

„F32.- Depressive Episode

Bei den typischen leichten (F32.0), mittelgradigen (F32.1) oder schweren (F32.2 und F32.3) Episoden leidet der betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert.

Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten.

Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten "somatischen" Symptomen begleitet werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung,

9

Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust. Abhängig von Anzahl und Schwere der Symptome ist eine depressive Episode als leicht, mittelgradig oder schwer zu bezeichnen.“ [27]

Die Erfassung des Schweregrades einer Depression, wird für den Arzt zusätzlich erschwert, sobald sekundärer Krankheitsgewinn möglich wird.

Das Problem des sekundären Krankheitsgewinns ist jedem System inhärent, das Lohnersatzleistungen im Krankheitsfall vorsieht. Gerade bei psychischen Erkrankungen kann man Simulation und Aggravation der Versicherten schwer ausschließen. Simulation bedeutet „bewusstes, zweckgerichtetes Vortäuschen einer psychischen oder somatischen Störung“ [28]. Aggravation wird als „die bewusste, absichtlich verschlimmernde bzw. überhöhende Darstellung einer tatsächlich vorhandenen Störung zum Zweck der Erlangung von unmittelbaren (materiellen) Vorteilen“ definiert [29].

In einer Begutachtungssituation (z.B. ein Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente aufgrund einer psychischen Erkrankung) ist der Anreiz einer Aggravation gegeben.

In der Literatur gibt es nur Schätzungen zur Prävalenz von Aggravation. Im sozialmedizinischen Begutachtungskontext wird die Prävalenz einer Aggravation auf 20 – 40 % geschätzt [29]. Diese Schätzung ist aber bei fehlenden empirischen Studien umstritten [28]. Insbesondere bei leicht- bis mittelgradigen Depressionen dürfte dies häufiger der Fall sein als bei schwergradigen, eventuell sogar psychotischen Krankheitsbildern.

Die klinische Forschung hat dieses Manko psychiatrischer Klassifikationssysteme erkannt und durch den Einsatz von Schätzskalen zu lösen versucht. Grundsätzlich stehen Selbstbeurteilungsskalen und Fremdbeurteilungsskalen zur Verfügung. Eine der am häufigsten verwandten Selbstbeurteilungsskalen ist das Beck-Depressions-Inventar [30]. Die Sensitivität und Spezifität der Selbstbeurteilungsskalen zur Erfassung des Schweregrades depressiver Syndrome ist hoch [31]. Der Einsatz von Selbstbeurteilungsskalen in einer Begutachtungssituation stößt allerdings an Grenzen [32], z.B. bei Aggravationsverhalten des Patienten.

Das Beck-Depressions-Inventar (BDI) in seiner 1996 revidierten Form (BDI-II) weist den 21 Aussagen jeweils vier Antwortmöglichkeiten zu, die in aufsteigender

10

Reihenfolge von null bis drei einem jeweils höheren Schweregrad entsprechen, was in dieser klar strukturierten Form jedem auch noch so testpsychologisch naiven Probanden einsichtig sein dürfte [33]. Das BDI-II enthält keine Fragen, die versuchen, Plausibilität oder eine Tendenz der Bevorzugung der Antworten zu erkennen, die mit zwei oder drei gekennzeichnet sind. Fremdbeurteilungsskalen bieten hier den Vorteil, dass der Kliniker den durch die Exploration erhobenen psychopathologischen Befund sowie die besonderen Umstände einer Begutachtungssituation berücksichtigen kann und fremdanamnestische Informationen einbeziehen darf.

Im Hinblick auf die Validität gelten Fremdbeurteilungsskalen als überlegen.

Voraussetzung ist, dass der einschätzende Arzt oder Therapeut über eine langjährige Erfahrung mit der betreffenden Erkrankung verfügt und in der Anwendung des psychometrischen Instrumentes geschult ist. Ein Beispiel: ein sehr wehleidig veranlagter Patient mit einer leichten Depression würde in der BDI-Selbstbeurteilung extrem hohen Leidensdruck kodieren. Der erfahrene Beurteiler kann diese Selbsteinschätzung aber vor dem Hintergrund seiner fundierten Kenntnisse über verschiedene Schweregrade depressiver Erkrankungen abgleichen, sodass die kodierte Symptomatik einer leichten depressiven Phase entspricht. Dies bietet die Gelegenheit, Eigen- und Fremdbeurteilung miteinander in Beziehung zu setzen.

Die auch heute noch am häufigsten eingesetzte Fremdbeurteilungsskala ist die Hamilton-Skala (Hamilton Rating Scale for Depression, HAM-D) mit 17 Items [34, 35]. Sie wurde 1960 durch den britischen Psychiater Max Hamilton eingeführt und entwickelte sich zur Eichschätzskala für spätere Skalen. Vom National Institute of Mental Health (Bethesda, USA) wurde sie in die Batterie der Beurteilungsinstrumente aufgenommen, die der Evaluation pharmakologischer Therapien bei Depression dient. Sie ist das Standardmessinstrument in klinischen Zulassungsstudien, die von forschenden pharmazeutischen Unternehmen der amerikanischen Food and Drug Administration (Arzneimittelzulassungsbehörde der Vereinigten Staaten) vorgelegt werden müssen. Sie war ebenso primäres Messinstrument für den Ausgang der kollaborativen Vergleichsstudie Pharmakotherapie versus Psychotherapie in der Behandlung der Depression, die vom National Institute of Mental Health durchgeführt wurde. Die Probleme beim

11

Einsatz der HAM-D Skala bei Forschungsarbeiten haben Bagby und Mitarbeiter [36]

ausführlich diskutiert.

Hamilton legt in seinen eigenen Anleitungen zur Durchführung der Bewertung einige allgemeine Richtlinien fest. Für jedes Item soll Ausprägung und Häufigkeit eines Symptoms bewertet werden. Die Befragung sollte derzeitige und retrospektive Symptome für einen Zeitraum von zwei Wochen umfassen. Jedes Item sollte strikt separat bewertet werden, um den sogenannten Halo-Effekt zu vermeiden: Jemand der unter Item „Suizidalität“ hoch bewertet wurde, wird häufig automatisch auch im Hinblick auf das Item „depressive Stimmung“ hoch eingestuft, obgleich dies nicht immer der Fall sein muss. Der Untersucher darf kollaterale Informationen von Angehörigen und aus Krankenakten in die Bewertung einfließen lassen.

Neun Items werden durch eine 5-Punkte-Skala bewertet mit 0 Punkte = nicht vorhanden bis 4 Punkte = schwergradig. Sieben Items werden mit 0 – 2 Punkten bewertet. Die HAM-D Skala findet sich im Anhang dieser Arbeit.

Der Summenwert ergibt sich aus der Addition aller Punkte. Der Maximalwert beträgt in der HAM-D Skala mit 17 Items 51 Punkte. Zur Auswertung werden in der Literatur verschiedene Grenzwerte angegeben, die sich um jeweils einen Punkt unterscheiden. Tabelle 2 zeigt eine mögliche Einteilung der Schwere der Depression nach der aktuell gültigen S3 Leitlinie Unipolare Depression für Deutschland [37].

≤ 8 Punkte keine Depression bzw. klinisch unauffällig oder remittiert 9 – 16 Punkte leichtes depressives Syndrom

17 bis 24 Punkte mittelgradiges depressives Syndrom

≥ 25 Punkte schweres depressives Syndrom Tabelle 2

Cut-off Werte für die HAM-D Skala (17 Item Version)

Tabelle nach S3 Leitlinie Unipolare Depression, Version 5, 2015, S. 184

12 1.4 Behandlung der Depression

Nach der S3 Leitlinie Unipolare Depression [38] steht am Anfang einer Therapie der Depression das Aufklärungsgespräch mit dem Patienten, in dem die allgemeinen Behandlungsziele dargelegt werden. Die Behandlungsoptionen sollten mit dem Patienten nach dem Prinzip der partizipierenden Entscheidungsfindung diskutiert werden. Akute Suizidalität, schwerwiegende psychosoziale Stressoren oder deutliche psychotische Symptome können eine notfallmäßige stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Fachklinik notwendig machen. Die Erfassung des Schweregrades der Depression ist für die Therapie und Verlaufskontrolle wichtig. Bei leichtgradiger Symptomatik kann dem Patienten eine aktiv abwartende Begleitung für einen Zeitraum von maximal 14 Tagen oder eine niederschwellige Intervention (z.B. Bibliotherapie, psychoedukativ-supportive Gespräche) angeboten werden. Bei anhaltender Symptomatik sowie als erster Schritt bei einer mittelgradigen Depression wird das Angebot von Psychotherapie oder Pharmakotherapie unter Beobachtung für 3 – 4 Wochen empfohlen. Bei einer schweren Depression wird eine Kombination aus Psychotherapie und Pharmakotherapie angeraten. Nach einem Monat sollte das Ansprechen auf die Therapie überprüft werden, um eine Besserung zu dokumentieren und die Therapie fortzusetzen oder eine Anpassung des Therapieregimes einzuleiten. Für die genauen Empfehlungen zur Auswahl der geeigneten Substanzklassen wird auf die aktuell gültige Leitlinie verwiesen [38].

Eine Pharmakotherapie sollte mindestens 4-9 Monate über die Remission einer depressiven Episode hinaus fortgesetzt werden. Nach zwei oder mehr depressiven Episoden wird zur medikamentösen und psychotherapeutischen Rezidivprophylaxe über zwei Jahre geraten.

Eine stationäre Behandlung wird bei akuter Suizidalität oder Fremdgefährdung sowie dem Risiko psychosozialer Isolation empfohlen. Unzureichende ambulante Behandlungsoptionen sowie die Gefahr der „Therapieresistenz“ bei einer chronischen Depression stellen ebenfalls eine Indikation für stationäre Behandlung dar.

13

Die Indikation für eine stationäre Rehabilitationsbehandlung ist laut Sozialgesetzbuch (SGB) neuntes Buch gegeben, wenn die

„ ( … ) Therapieziele zur Festigung von Behandlungserfolgen, der

Behandlung von Krankheitsfolgen, der Verbesserung des Umgangs mit der (chronischen bzw. chronifizierten) Erkrankung oder der Verbesserung oder Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit bestehen.“ [38]

Bei mittelschweren bis schweren depressiven Episoden ist die Arbeitsfähigkeit des Patienten in den meisten Fällen eingeschränkt, sodass die Attestierung von Arbeitsunfähigkeit durch den Hausarzt oder den behandelnden Psychiater erfolgt.

14

1.5 Durch sozialmedizinische Begutachtung ausgelöste Lohnersatzleistungen

Wie für alle Erkrankungen gilt auch für Depressionen, dass bei entsprechendem Schweregrad Arbeitsunfähigkeit durch den Arzt festgestellt werden muss, um Lohnersatzleistungen zu erhalten.

Laut Definition des G-BA liegt Arbeitsunfähigkeit vor,

„(…) wenn der Versicherte auf Grund von Krankheit seine zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann. Bei der Beurteilung ist darauf abzustellen, welche Bedingungen die bisherige Tätigkeit konkret geprägt haben. Arbeitsunfähigkeit liegt auch vor, wenn auf Grund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen.“

[Beschluss des G-BA vom 01.12.2013, §2 (1), Bundesanzeiger Nr. 61, S. 6501]

Durch eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung weist der Betroffene dies gegenüber Arbeitgeber und Krankenversicherung nach. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind in der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des G-BA [39]

veröffentlicht. Der Arzt nennt die Diagnose und die vermutliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit. Diese Bescheinigung muss spätestens am vierten Tag Arbeitgeber und Krankenkasse vorgelegt werden. Dadurch wird der Anspruch auf Lohnfortzahlung sichergestellt. Bei einer Krankheitsdauer von weniger als drei Tagen genügt die mündliche Mitteilung, allerdings kann der Arbeitgeber ein ärztliches Attest verlangen. Für gesetzlich Krankenversicherte existiert ein Formular mit drei Durchschlägen nach Muster 1a (siehe Anhang). Die Krankenkasse erhält das erste Blatt mit Nennung der Diagnose und der ICD- Kodierung. Das zweite Blatt ohne Nennung der Diagnose erhält der Arbeitgeber. Das dritte Blatt verbleibt in der Krankenakte des Arztes. Versicherte der privaten Krankenkassen erhalten ein formloses Attest mit Freitext. Die Entgeltfortzahlung wird durch das Entgeltfortzahlungsgesetz geregelt. Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung durch den

15

Arbeitgeber besteht für sechs Wochen. Daran anschließend erhalten gesetzlich Krankenversicherte ein Krankengeld in Höhe von 70% des letzten Bruttogehaltes, höchstens 90% des letzten Nettogehaltes und es besteht eine beitragsfreie Krankenversicherung. Die weiteren Anteile des Arbeitnehmers für die Sozialversicherungsbeiträge in die Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherungskassen müssen weitergezahlt werden (§§ 44 – 51 SGB V [40]).

Versicherte in einer privaten Krankenversicherung erhalten nur durch Abschluss einer Krankentagegeldversicherung nach sechs Wochen weitere Lohnersatzleistungen von ihrer privaten Versicherung bei Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit.

Krankengeld der gesetzlichen Krankenversicherung wird maximal für 78 Wochen innerhalb von drei Jahren wegen derselben Erkrankung gezahlt. Danach wird der Versicherte „ausgesteuert“, d.h. er muss sich bei der Bundesagentur für Arbeit melden, um Arbeitslosengeld bei bestehender Arbeitsunfähigkeit zu erhalten, die allerdings durch die Bundesagentur für Arbeit anders definiert wird und sich nicht mehr auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit bezieht.

Hier liegt Arbeitsunfähigkeit dann vor, wenn der Versicherte nicht dazu in der Lage ist, 15 Stunden pro Woche irgendeiner Art von Erwerbstätigkeit krankheitsbedingt nachzugehen [41]. Die Agentur für Arbeit zahlt Arbeitslosengeld bei Arbeitsunfähigkeit als Überbrückung bis zur Genesung oder Gewährung einer Rente oder Auslaufen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld I. Den früher geltenden

„Berufsschutz“, der sich an der zuletzt ausgeübten Tätigkeit orientierte, gibt es in der gesetzlichen Sozialversicherung nicht mehr.

Nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes bei Arbeitsunfähigkeit treten Ersatzleistungen in Form von Arbeitslosengeld II in Kraft, sofern keine Rente gewährt wurde.

Für Mitglieder der gesetzlichen Rentenversicherung ist der Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zum 01.01.2001 neu geregelt worden. Für den Arzt als Gutachter sind drei Formen der Rente von Bedeutung:

1. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit für Versicherte mit Geburtsdatum vor dem 02.01.1961 nach § 240 SGB VI.

16

2. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 SGB. VI, und 3. Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB VI.

Erwerbsminderungsrenten sind befristet. Lediglich bei eindeutig ungünstiger Prognose kann bereits initial eine unbefristete Rente bewilligt werden [42].

Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sollen hier nicht angeführt werden, da diese von der Verwaltung geprüft werden und für den Gutachter nur von marginaler Bedeutung sind.

Nach § 43 SGB VI sind Versicherte vollständig erwerbsgemindert, wenn sie auf Grund von Krankheit oder Behinderung dauerhaft nicht mehr in der Lage sind, mindestens drei Stunden pro Tag zu arbeiten. Die Begutachtung muss den gesamten Arbeitsmarkt einbeziehen, d.h. alle denkbaren Tätigkeiten mit Ausnahme besonders seltener Berufe und sogenannter „Schonarbeitsplätze“. Ist das Leistungsvermögen auf unter 3 Stunden täglich abgesunken, so erhält der Versicherte eine volle Erwerbsminderungsrente.

Liegt ein Leistungsvermögen von 3 bis unter 6 Stunden täglich vor, so erhält der Versicherte eine Rente in Höhe der Hälfte der vollen Erwerbsminderungsrente, sofern er vor Antragsstellung Teilzeit gearbeitet hatte.

Keine Rente wird bei einem Leistungsvermögen ab sechs Stunden mehr gewährt, sofern der Gutachter nicht zusätzliche qualitative Einschränkung wie herabgesetzte Wegefähigkeit oder unübliche Pausen nennt [42].

Die Aussage „Rehabilitation vor Rente“ gilt noch immer. Meistens wird schon bei Bezug von Krankengeld nach Auslaufen der Lohnersatzleistung durch den Arbeitgeber vom MDK geprüft, ob man den Rentenversicherungsträger für die Kosten einer Rehabilitationsmaßnahme in Anspruch nehmen kann. Die Krankenkasse kann den Versicherten während der Zahlung von Krankengeld auffordern, einen Antrag auf Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben bei der Rentenversicherung zu stellen.

17

1.6 Sozialmedizinische Begutachtung bei Depression

Die sozialmedizinische Begutachtung ist der Schlüssel für die Zuteilung von Lohnersatzleistungen. Das SGB, Ausführungsvorschriften der Körperschaften des öffentlichen Rechtes und die Rechtsprechung der Sozialgerichte regeln ein komplexes System von Lohnersatzleistungen. Der vielleicht wichtigste Vorgang, nämlich die sozialmedizinische ärztliche Begutachtung, ist inhaltlich wenig reguliert.

Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) gibt im Abstand von Jahren regelmäßig das Glossar „Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung“ heraus [43]. Diese Arbeit bezieht sich auf die Auflage 2003.

Affektive Störungen werden im Kapitel 23.4.3 über vier Seiten diskutiert. Mit den depressiven Störungen befasst sich eine halbe Seite. Laut dieser Empfehlungen der DRV bedingt eine mittelgradig oder schwergradig ausgeprägte depressive Symptomatik regelmäßig Arbeitsunfähigkeit. Rezidivierende depressive Störungen und Dysthymie verursachen als chronische Erkrankungen eine langfristige Einschränkung der Leistungsfähigkeit insbesondere bei Komorbiditäten. Eine ungünstige Prognose ist bei mittelschwer bis schwer ausgeprägter Symptomatik, chronifiziertem Verlauf, erfolglosen Behandlungsversuchen in ambulanten und stationärem Rahmen und nach gescheiterten Rehabilitationsbehandlungen zu stellen.

2006 erschien die Leitlinie „Sozialmedizinische Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung“ [44]. Für die affektiven Störungen werden folgende Richtlinien in der Begutachtung vorgegeben:

„Rezidivierende depressive Störungen können zwar ebenfalls zu wiederholter und z. T. längerer Arbeitsunfähigkeit führen, sie bedingen in der Regel aber keine erhebliche Gefährdung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben.

Kommt es im Rahmen von unvollständigen Remissionen allerdings zu Residualzuständen z.B. mit hypomanischer Dauerverstimmung, Restdepressivität oder erhöhter emotionaler Labilität, ist eine Beeinträchtigung des qualitativen und/oder des quantitativen Leistungsvermögens zu prüfen. Dies gilt insbesondere auch für Krankheitsbilder mit häufigem und kurzfristigem Wechsel der Episoden

18

(rapid cyclers), bei denen aufgrund der fortdauernden Leistungseinschränkungen eine Berentung in Betracht zu ziehen ist.

Die sozialmedizinische Beurteilung der anhaltenden affektiven Störungen muss ebenfalls die Neigung zur Chronifizierung in Rechnung stellen, so dass sich die Einschätzung des Leistungsvermögens im Einzelfall sehr schwierig gestalten kann.

In der Regel sind die von einer Dysthymia betroffenen Patienten trotz monatelanger Depressivität und Müdigkeit in der Lage, die wesentlichen Anforderungen des täglichen Lebens unter Einschluss der Berufstätigkeit - allerdings oft auf eingeschränktem Niveau - zu bewältigen. Hier kann es zu qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit kommen.

Vorbestehende quantitative Einschränkungen manifestieren sich gelegentlich erst bei einem Wegfall bestehender Förderfaktoren in der beruflichen oder persönlichen Umgebung, so dass dann von einem aufgehobenen Leistungsvermögen auszugehen ist.“

[Leitlinie für die sozialmedizinische Beurteilung von Menschen mit psychischen Störungen, DRV, 2006, Kapitel 3.5, Affektive Störungen, S.

36f]

Die gesetzliche Krankenversicherung hatte 2003 durch den G-BA Richtlinien erarbeiten lassen [41], die in erster Linie den formalen Ablauf der Begutachtung bei Arbeitsunfähigkeit regeln, z.B. den Ersatz von Symptomen als Begründung der Arbeitsunfähigkeit durch eine Diagnose auf der ärztlichen Bescheinigung nach sieben Tagen oder den Wechsel von Mustervordruck 1 auf Mustervordruck 17 nach Ablauf der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber. Inhaltliche Vorgaben für die Beurteilung von Arbeitsunfähigkeit bei psychischen Erkrankungen wurden durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) und die gesetzlichen Krankenkassen nur auf lokalen Foren diskutiert. Verbindliche Richtlinien existierten nicht.

19

1.7 Der Ablauf der Begutachtung in der Praxis

Der Versicherte meldet sich zunächst beim Arbeitgeber arbeitsunfähig. Meistens muss er innerhalb von drei Tagen die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Muster 1, siehe Anhang) eines Arztes vorlegen mit Durchschlag an die Krankenkasse. Der Arbeitgeber erfährt nur die festgelegte Dauer der Arbeitsunfähigkeit sowie den Namen und das Fachgebiet des behandelnden Arztes.

Vor Auslaufen der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber (nach sechs Wochen) wird der Versicherte von seiner Krankenkasse angeschrieben und der behandelnde Arzt wird um ein Kurzgutachten gebeten. Es wird das Formular der Kassenärztlichen Bundesvereinigung nach Muster 52 mit folgenden Fragen genutzt:

1. Wegen welcher Diagnose(n) (ICD-10) besteht die Arbeitsunfähigkeit?

2. Welche Tätigkeiten übte der Versicherte bis zum Beginn der Arbeitsunfähigkeit aus?

3. Ist der Zeitpunkt des Wiedereintritts der Arbeitsfähigkeit absehbar?

4. Welche diagnostischen/therapeutischen Maßnahmen sind in Bezug auf die Arbeitsunfähigkeit auslösende(n) Diagnose(n) vorgesehen?

5. Weitere behandelnde Ärzte (Name und Anschrift des Arztes und Fachrichtung)?

6. Welche weiteren Maßnahmen sind angezeigt?

7. Gibt es bei der Überwindung der Arbeitsunfähigkeit andere Probleme?

8. Besteht oder droht eine Erwerbsminderung?

9. Sonstiges / Bemerkungen zum Gesundheitszustand

(Kassenärztliche Bundesvereinigung, Muster 52, siehe Anhang und [45]) Vor Ablauf der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber erfolgt in aller Regel eine Begutachtung durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). Dieser entscheidet, ob Arbeitsunfähigkeit weiter besteht und Krankengeld gezahlt wird.

Gleichzeitig prüft der MDK die Notwendigkeit medizinischer Behandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen. Gegebenenfalls wird der Versicherte aufgefordert, einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen. Vor Gewährung einer Rente sollten die zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft worden sein.

20

1.8 Die Position der Ärzte als Gutachter im System der Sozialversicherung Die Berufsordnung für Ärzte steckt den Rahmen ab, in dem sich ein Gutachter bewegt. In der Leitlinie der Rentenversicherung „Hinweise zur Begutachtung“

werden Funktion und Pflichten des Gutachters im Verwaltungsverfahren beschrieben: An oberster Stelle wird Eigenverantwortlichkeit und das Nichtgebundensein an Weisungen betont [42]. Auch das Sozialgesetzbuch nimmt diesen Grundsatz auf:

„ (…) Die Ärzte des Medizinischen Dienstes sind bei der Wahrnehmung ihrer medizinischen Aufgaben nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen. (…) “

[§ 275 Abs. 5 SGB V]

Dies bezieht sich konkret allerdings nur auf Ärzte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen im Begutachtungsverfahren der gesetzlichen Sozialversicherung.

Der Arzt muss ein Gutachten mit Sorgfalt und nach bestem Wissen erstellen und dies in einem angemessenen Zeitrahmen. In allen Zweifelsfällen soll er vor Entscheidungen stets Rücksprache mit dem Auftraggeber nehmen. Sein Fachwissen muss dem Begutachtungsgegenstand genügen. Das Gutachten muss ihn als gewissenhaft in der Anamneseerhebung und bei seinen Beobachtungen

Der Arzt muss ein Gutachten mit Sorgfalt und nach bestem Wissen erstellen und dies in einem angemessenen Zeitrahmen. In allen Zweifelsfällen soll er vor Entscheidungen stets Rücksprache mit dem Auftraggeber nehmen. Sein Fachwissen muss dem Begutachtungsgegenstand genügen. Das Gutachten muss ihn als gewissenhaft in der Anamneseerhebung und bei seinen Beobachtungen