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4. Diskussion

4.1 Fachärzte als Gutachter zur Frage der Erwerbsminderung

Die erste Untersuchung dieser Arbeit zeigte, dass innerhalb einer Gruppe von 22 sehr erfahrenen Gutachtern mit hoher Gutachtenfrequenz (Durchschnitt: elf Gutachten pro Monat) die Bewertung eines fiktiven Falles zu äußerst unterschiedlichen Ergebnissen führte.

Schon bei Stellung der ICD-10 Hauptdiagnose wurden sechs verschiedene Diagnosen genannt. Nur 32 % der Gutachter wählten die den ICD-10 Kriterien naheliegendste Diagnose einer rezidivierenden depressiven Episode mit mittelgradigem Schweregrad.

2Teile dieses Abschnittes entsprechen der eigenen Publikation: Dickmann JR, Broocks A: Das psychiatrische Gutachten im Rentenverfahren – wie reliabel? Fortschr Neurol Psychiatr, 75, 397-401 (2007)

49 Variabilität der Diagnosestellung

Die Variabilität der Diagnosestellung in unserer Stichprobe könnte durch ein Alleinstellungsmerkmal der Psychiatrie erklärt werden. Viele Diagnosen können in der Medizin kategorial mit hoher Sicherheit gestellt werden, weil objektive Befunde und Laborparameter existieren. Schwangerschaft, Frakturen oder ein Myokardinfarkt sind Musterbeispiele. In der klinischen Praxis der ambulanten Begutachtung eines Patienten mit einer psychischen Störung fehlen aktuell noch solche diagnostischen Labor- oder Bildgebungsbefunde, die eine Diagnose sichern.

Aktuelle Untersuchungen mittels fMRT-basierter Identifikation von Biomarkern bei affektiven Störungen, die einen Einblick in die komplizierte Pathogenese bei depressiven Erkrankungen erlauben, sind noch auf Studien beschränkt und haben noch keinen Einfluss auf die Diagnose einer affektiven Störung im ambulanten Rahmen [23]. Der Arzt ist auf eine selbst erhobene Krankengeschichte und den psychiatrischen Untersuchungsbefund beschränkt.

Das Diagnosesystem ICD-10 ist kompliziert. ICD-10 kategorisiert unter dem Oberbegriff „Affektive Störungen“ mit dem Kode F30 bis F39 insgesamt 36 Diagnosen. Unter Einschluss der Anpassungsstörungen mit depressiver Symptomatik ergaben sich 51 diagnostische Kategorien [27]. Die Kriterien für kategoriale Zuordnung sind oft „weich“ und die Umstellung auf

„Spektrumsdiagnosen“ im DSM-V bereits vollzogen.

Bei komplizierten Prozessen wie der Diagnostik psychischer Störungen hilft es, strukturiert vorzugehen. Zur sicheren Diagnosestellung ist eine vollständige Exploration des Patienten wichtig. Mit dem standardisierten Verfahren des halbstrukturierten Interviews nach dem AMDP-System (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie) liegt ein Fremdbeurteilungsverfahren zur differenzierten Erfassung psychopathologischer Symptome bei psychischen Erkrankungen vor. Diese lassen sich systematisch vermitteln und erlernen: Im AMDP-Manual [52] werden psychopathologische Begriffe genau definiert und Beispiele für verschiedene Schweregrade gegeben.

Der Leitfaden zur Erfassung psychopathologischer Symptome [53] ist hilfreich zum Erlernen einer differenzierten Exploration des Patienten. Auf diese Weise hat das AMDP System einen weiten Anwendungsbereich in Forschung und Praxis gefunden [54].

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Die Teilnahme an einem Seminar über die standardisierte Befunderhebung unter Anwendung von Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen ist mittlerweile obligat für die Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie [55, 56]. Die Gutachter dieser Studie nutzten nur zu 41 % jegliche Formen von Schätzskalen.

Dies könnte ein möglicher Grund für die Variabilität der gestellten Diagnosen sein.

Von 22 fachärztlichen Gutachtern nannten sechs als Nebendiagnose „schädlicher Gebrauch von Alkohol“. Dies ist erstaunlich, weil die Kombination von depressiv-ängstlicher Symptomatik und Alkoholabusus häufig ist und spezieller Suchttherapie zugänglich wäre, was wiederum Einfluss auf die Prognose der Minderung von Erwerbsfähigkeit hätte.

Variabilität der sozialmedizinischen Begutachtung

Bei der sozialmedizinischen Begutachtung der Minderung der Erwerbsfähigkeit sahen acht Gutachter keine wesentlichen Einschränkungen, vier schätzten das Leistungsvermögen geringer als drei Stunden pro Tag für alle Tätigkeiten ein, und acht hielten Arbeit von drei bis unter sechs Stunden pro Tag noch für möglich. Drei Gutachter gingen von voller Belastbarkeit für alle denkbaren Tätigkeiten aus, sahen aber die Leistungsfähigkeit für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als eingeschränkt an.

Praktisch bedeutete dies für die Versicherte, dass acht Kollegen jede Rentenzahlung für unangemessen hielten, vier für volle Erwerbsminderungsrente plädierten und zehn für eine Teilerwerbsminderungsrente. Die vier Nervenärzte, die das Leistungsvermögen als aufgehoben einschätzen, hatten die korrekte Diagnose nach den ICD-10 Kriterien gestellt.

Erstaunlich ist, dass die Mehrheit allenfalls medizinische Voraussetzungen für eine Teilerwerbsunfähigkeitsrente als gegeben sah. Die Kasuistik nach ICD-10 Kriterien und den Empfehlungen des Verbandes der Rentenversicherungsträger war so konstruiert, dass die Voraussetzungen für eine dauerhaft aufgehobene Erwerbsunfähigkeit gegeben waren. Im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorurteilen über „lasche“ psychiatrische Gutachter erwies sich diese Stichprobe als „hart“ im Urteil.

Ein Grund für die Abneigung einer Mehrheit der Gutachter, aufgehobenes Leistungsvermögen im Berufsleben festzustellen, könnte in einem Detail der

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biografischen Anamnese zu finden sein: der seit 1997 schwelende Konflikt der Versicherten mit ihrem Arbeitgeber, einem weltweit operierenden Telekommunikationsunternehmen. Die Personalpolitik dieses Unternehmens hatte gerade in Nordwestdeutschland nach massenhafter Frühverrentungen von Mitarbeitern hohe Wellen geschlagen und sogar zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen auch gegen Ärzte geführt [57]. Es ist denkbar, dass Mitarbeitern von Großunternehmen in ähnlicher Konstellation inzwischen ein negativer Gutachter-Bias entgegenschlägt. Bachmann et al. haben auf diesen besonders heiklen Punkt der individuellen Erwartungen jedes Gutachters an die Resilienz am Arbeitsplatz eines Antragstellers im Rentenverfahren verwiesen [58].

Der Umstand, dass dieselbe Versicherte bei 22 Gutachtern mit ganz unterschiedlichen Diagnosen und Bewertungen ihrer Leistungsfähigkeit rechnen musste, ist unbefriedigend.

Linden nennt in seinem Editorial zur Publikation dieser Arbeit [59] einen Grund für fehlende Reliabilität in der mangelnden Differenzierung zwischen dem Schweregrad psychischer Funktionsstörungen und den daraus resultierenden Fähigkeitsstörungen. Der zu begutachtende Fall einer depressiven Patientin mit somatoformer Symptomatik lasse auf eine eingeschränkte Fähigkeit zu Sozialkontakten und reduzierte Durchhaltefähigkeit bei Störung von Konzentration und Erschöpfbarkeit schließen.

„Damit wäre die Patientin trotz depressiver Störung arbeitsfähig für Berufe, die z. B. keinen Kundenkontakt erfordern, was für eine Bürotätigkeit gelten könnte. Sie wäre des Weiteren arbeitsfähig, wenn keine konstante Leistung erfordert wird, was für bestimmte Bürotätigkeiten durchaus vorstellbar ist.

Abhängig davon, ob ein Gutachter nun diese Spezialsituation eines Arbeitsplatzes für denkbar hält oder nicht, muss er die Patientin als arbeitsfähig einstufen. Auch diesbezüglich wird das Urteil letztlich dann vom Pessimismus oder Optimismus oder der Weltsicht des Gutachters abhängen“. [59]

Linden geht weiter auf den heiklen Punkt „Zumutbarkeit“ von potentiell auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen freien Positionen ein.

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„Gäbe es keine Sozialversicherung, dann wäre die Patientin sicherlich gezwungen, irgendeiner Tätigkeit nachzugehen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dies gilt im Grundsatz mit ganz wenigen Ausnahmen für alle Menschen, die Sozialleistungen beziehen. Sozialleistungen sind ihrer Natur nach dafür da, Lebenshärten abzumildern, d. h. es einem 67-jährigen oder einer depressiven Frau zu ersparen, den eigenen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit verdienen zu müssen. Bei der Einschätzung einer Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit spielt also das Kriterium der zumutbaren Anstrengung eine wichtige Rolle. Hier kommen selbstverständlich wert- und gesellschaftspolitische Urteile sowohl beim Patienten wie auch dem Gutachter zum Tragen. Warum soll ein Gutachter einen offensichtlich kranken Menschen an den Arbeitsplatz zwingen, wenn gleichzeitig viele gesunde keine Arbeit finden und deswegen Sozialleistungen in gleicher Höhe beziehen, auf die der Kranke Anspruch erhebt. […] Solche Kenntnisse der Gutachter über die allgemeine sozialpolitische Situation im Lande sind explizit oder unbewusst ebenfalls entscheidungsrelevant“. [59]

Was die Bewertung vorgetragener seelischer Symptome durch einen Gutachter angeht, sieht Linden ihn in einer ähnlichen Situation wie ein Richter, der der Schilderung eines Angeklagten zum Tathergang glauben kann oder auch nicht.

Bachmann et al. diskutieren anlässlich der Präsentation eines Studienprotokolls zur Verbesserung der Reliabilität der Begutachtung von Versicherten mit psychischen Erkrankungen in der Schweiz weitere mögliche Einflussfaktoren [58]. Sie nennen an erster Stelle den mangelnden Abgleich zwischen vom Versicherten vorgetragenen Gesundheitseinschränkungen und seinen verbliebenen Fähigkeiten, auf genau definierten Positionen des Arbeitsmarktes noch Erwerbsarbeit ausüben zu können [58]. So wie die Begutachtung in der Schweiz derzeit geregelt sei, diene den Gutachtern jeweils ihre ganz persönliche – und damit begrenzte – Einschätzung des Arbeitsmarktes als Referenz für ihr Urteil [60, 61]. Dies lässt sich auf die Situation im Begutachtungsverfahren der deutschen Rentenversicherung übertragen. Die Autoren verweisen des Weiteren darauf, dass dieses Problem alle Gutachter betrifft, unabhängig davon ob es sich um körperliche oder psychische Einschränkungen handele.

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Verbesserungsmöglichkeiten der sozialmedizinischen Begutachtung

Die Gleichbehandlung der Versicherten bei sozialmedizinischer Begutachtung ist unabdingbar. Das Problem der Beurteilungsvarianz psychischer Erkrankungen, die in dieser Untersuchung erstmalig im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung illustriert worden ist, rückte in den letzten Jahren in den Fokus der Rentenversicherungsträger. Zur Verbesserung der Situation wurde eine Kommission zur Weiterentwicklung der Sozialmedizin in der gesetzlichen Rentenversicherung (SOMENKO) gegründet. In deren Abschlussbericht [62] wurde die zentrale Bedeutung von evidenzbasierter Medizin in Form von Leitlinien zur besseren „( … ) Transparenz und Nachvollziehbarkeit sozialmedizinischer Beurteilungen ( … )“ [S.3, 62] diskutiert.

In 2006 wurden die Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung - Sozialmedizinische Beurteilung bei psychischen und Verhaltensstörungen als Expertenkonsensus publiziert [44]. In der aktuellen Version von 2012 gibt es nun das Kapitel „Störungsspezifische sozialmedizinische Beurteilung“. In diesem werden Beispiele anhand der wichtigen psychischen Verhaltensstörungen als Leitfaden zur krankheitsspezifischen Beurteilung des Leistungsvermögens dargestellt [63]. Vorher existierten nur die relativ allgemein gehaltenen Hinweise zur Begutachtung [42] sowie der Leitfaden Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung [43]. Zusammenfassend sind in den letzten Jahren die Leitlinien für die sozialmedizinische Begutachtung von Patienten deutlich umfangreicher geworden.

Zur Qualitätssicherung und Prüfung sozialmedizinischer Gutachten wurde außerdem 2013 ein neues Prüfverfahren entwickelt. Als zentraler Punkt wurde das bei wissenschaftlichen Publikation praktizierte Peer Review-Verfahren von der Deutschen Rentenversicherung eingeführt [64]. Mit diesem Verfahren werden jedes Jahr 140 Gutachten jedes Rentenversicherungsträgers durch erfahrene und vorab geschulte Sozialmediziner der Rentenversicherungsträger geprüft. Die Gutachten werden auf formale Qualitätskriterien (Formale Gestaltung, Verständlichkeit, Vollständigkeit, medizinisch-wissenschaftliche Grundlagen sowie Wirtschaftlichkeit und als übergeordnetes Kriterium, die Nachvollziehbarkeit des Gutachtens) geprüft und bewertet (keine, leichte, deutliche und gravierende Mängel).

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Dies ist ein erster indirekter Schritt zur Verbesserung der Gutachtenqualität und zur Gleichbehandlung der Versicherten. Diese Form der Qualitätssicherung basiert auf einer retrospektiven Analyse aller Gutachten, die durch das Peer Review-Verfahren in der Zukunft verbessert werden können. Es gibt von der deutschen Rentenversicherung keine Publikationen zu den Folgen eines als mit „gravierenden Mängeln“ bewerteten Gutachtens. Ein solches Gutachten sollte schon während des laufenden Antrages der Versicherten als „ungenügend“ beziffert werden und nicht im Verfahren verwendet werden. Eine interne Studie der DRV analysierte die Gutachtenqualität des Peer Review-Verfahrens nach Aktenlage und stellten fest, dass die Gutachten „in der Mehrzahl den qualitativen Anforderungen genügen“ [65].

Die Qualität des einzelnen Gutachtens kann direkt nur durch eine Verbesserung des Gutachtenprozesses erfolgen. Hier spielten mehrere Faktoren eine Rolle.

Übergreifender Faktor ist aber die Zeit, die sich der Gutachter für einen Versicherten nimmt und damit natürlich auch die Bezahlung des Gutachters. Nach der aktuellen Vergütung werden für ein formfreies Gutachten der gesetzlichen Rentenversicherung im Fachgebiet der Psychiatrie 235,82 € gezahlt [66]. Dieses umfasst das Aktenstudium, die Erhebung der Krankengeschichte, die persönliche Untersuchung und Befragung sowie die sozialmedizinische Beurteilung und das Diktat einschließlich Korrekturen. Die Kosten weiterer diagnostischer Leistungen sind mit diesem Paulschalbetrag abgegolten. Mehraufwand wird in besonderen Fällen mit einer Zeitstunde nach Ziffer 85 der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) nach dem Einfachen des Gebührensatzes vergütet (aktuell 29,14 € pro angefangener Stunde) [67]. Für das Fachgebiet der Psychiatrie inkludiert das Honorar außerdem folgendes:

„eine Erhebung einer biographischen Anamnese, Kombination verschiedener (neuro-) psychologischer Verfahren zur Leistungsbeurteilung, differenzierte Erhebung eines Befundes angelehnt an das AMDP-Manual, soweit für die Fragestellung erforderlich, ggf. Erhebung eines Beschwerdefragebogens“ [66].

Es gibt keine Vorgaben wie viel Zeit sich ein Gutachter für den jeweiligen Patienten nehmen soll. Um ein solches sozialmedizinisches Gutachten zu erstellen schätzt ein erfahrener Gutachter auf dem Gebiet der Psychiatrie den Zeitbedarf auf ca.

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fünfeinhalb Stunden (Anamnese und Exploration 1,5 Stunden, Psychometrie 0,5 Stunden, körperliche und technische Untersuchungen 0,5 Stunden, Studium der Vorberichte 1,0 Stunden, Ausarbeitung, Diktat und Korrektur 1,5 Stunden, Organisatorischer Aufwand mit Terminabsprache und Versand des Gutachtens 0,5 Stunden). Für einen Bruttostundenlohn von ca. 47 € (Vergütungspauschale) wie von der DRV vorgegeben ist dies nicht adäquat und Rentengutachtern würden „wie am Fließband“ produziert werden [persönliche Mitteilung Professor Dr. med. A.

Broocks].

In unserer Untersuchung betrachtete die Mehrheit der befragten Gutachter (68 %) die Honorierung der Rentenversicherungsträger für die Erstellung von Gutachten als unangemessen gering.

Verbesserte Gutachtenqualität durch verbesserte Vergütung am Beispiel von Gerichtsgutachten

Eine verbesserte Vergütung von ärztlichen Gutachten existiert im Rahmen von Gerichtsgutachten. Wenn ein Versicherter nicht mit dem Bescheid der Ablehnung einer Rente einverstanden ist und auch das Widerspruchsverfahren (geregelt im

§ 36 SGB IV) mit einer Ablehnung durchlaufen hat, kann Klage beim zuständigen Sozialgericht erhoben werden. Meistens ist die Beweislage durch die bereits erstellten Gutachten nicht eindeutig, sodass durch den Richter erneut ein oder mehrere Gutachter zur Erstellung eines Sozialgerichtsgutachtens beauftragt werden. Der Versicherte kann auch selbst einen Gutachter bestellen, muss jedoch einen Antrag stellen (§ 109 Sozialgerichtsgesetz, SGG [68]). Der Auftraggeber des Gutachtens bleibt immer das Gericht. Dadurch wird ein vertragliches Verhältnis zwischen Gutachter und Versichertem verhindert [69].

Der Arzt wird vor Gericht als Sachvollständiger persönlich bestellt und in einem Beschluss werden die Beweisfragen formuliert. Die förmlichen Kriterien für ein Gerichtsgutachten sind deutlich strikter und der Aufwand wird dementsprechend auch deutlich höher vergütet.

Nach dem Justizvergütungs- und entschädigungsgesetz (JVEG) für Sachverständige, die von den Gerichten herangezogen werden, gibt es drei medizinische und psychologische Honorargruppen:

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• M1 – einfache gutachterliche Beurteilungen: 65 € pro Stunde

• M2 – beschreibende Begutachtung nach standardisiertem Schema ohne Erörterung spezieller Kausalzusammenhänge mit einfacher medizinischer Verlaufsprognose und durchschnittlichem Schwierigkeitsgrad: 75 € pro Stunde

• M3 – Gutachten mit hohem Schwierigkeitsgrad: 100 € pro Stunde

Gutachten der Rentenversicherung zur Minderung der Erwerbstätigkeit fallen normalerweise in die Honorargruppe M2 [70]. Bei Gerichtsgutachten wird nach Arbeitsaufwand liquidiert, bei der Rentenversicherung gibt es eine Pauschale. Der Vorteil in der Abrechnung nach Arbeitsaufwand besteht besonders im Gebiet der Psychiatrie darin, dass zeitaufwendige Untersuchungen wie z.B. die Erhebung des psychopathologischen Befundes mittels des AMDP Verfahrens auch sorgfältig und gewissenhaft durchgeführt werden. Bei einer pauschalisierten Bezahlung gibt es einen Anreiz zum schnellen und ggf. flüchtigen Handeln.

Es besteht allerdings ein Unterschied zwischen Gutachtenaufträgen der Rentenversicherung und denen der Gerichte. Im Sozialrecht gilt der Grundsatz der Nichtförmlichkeit von Gutachten. Dies hat den Zweck, dass Verfahren „einfach, zweckmäßig und zügig“ (SGB X, §9) durchgeführt werden. Bei einem förmlichen Verfahren, wie bei einem Gutachtenauftrag durch das Gericht, gelten striktere Anforderungen im Sinne der Form – nicht aber der medizinischen Feststellung von Tatsachen. Somit sollte kein Unterschied zwischen einer Verwaltungsentscheidung und einer richterlichen Entscheidung bestehen [43].

Dennoch wurde in einer Studie von Ebert [71] gezeigt, dass es deutliche Unterschiede zwischen Gutachtern der DRV und Gerichtsgutachtern bei der Begutachtung desselben Falles gibt. Die Gutachten der DRV und denen der Sozialgerichte im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten wegen Erwerbsminderungsrenten wurden in einer Stichprobe verglichen. Es konnte eine divergierende Einschätzung des Leistungsvermögens zwischen den Gutachten der DRV und denen der Sozialgerichte festgestellt werden, größtenteils zum Vorteil des Klägers (des Versicherten), dem eine Rente zugesprochen wurde. Insbesondere eine neurologisch-psychiatrische Erkrankung stellte sich als ein Prädiktor für eine unterschiedliche Leistungseinschätzung der Gutachter der DRV und der

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Sozialgerichte dar. Damit stehen die Ergebnisse von Ebert mit denen dieser Studie im Einklang. Besonders auf dem Gebiet der neurologisch-psychiatrischen Gutachten sind divergente Einschätzungen des Leistungsvermögens der Versicherten häufig.

Die Gründe für eine solche divergierende Einschätzung des Leistungsvermögen sind schwierig zu erforschen und Ebert sieht in den Fällen, die vor Gericht verhandelt werden „möglicherweise latent vorbestehende[r] psychische[r]

Erkrankungen der Rentenkläger durch den gegebenenfalls emotional belastenden Rechtsstreit mit ungewissem Ausgang […]“ [71] als einen möglichen Grund für die Divergenz in der sozialmedizinischen Begutachtung des vom Gericht bestellten Gutachters. Ebert vermutet, dass die Begutachtungsverfahren eine psychische Störung möglicherweise verschlechtern, die schlussendlich durch den psychiatrischen Gutachter als erwerbsmindernd eingeschätzt wird.

Eine andere Erklärung könnte in der deutlich besseren Vergütung eines Gutachters für ein Gutachten mit höheren formalen Anforderungen liegen. Höhere Bezahlung könnte zu einer gewissenhafteren Begutachtung des Versicherten führen. Wie in dieser Untersuchung gezeigt, nutzt nur eine Minderheit der DRV Gutachter z.B.

indizierte Eigen- und Fremdbeurteilungsskalen.

Eine bessere Bezahlung der sozialmedizinischen Begutachtung im Verfahren der DRV würde auch, wie bei Forschungsarbeiten in der Regel üblich, Eigen- und Fremdbeurteilungsskalen sowie die Beurteilung etwaiger tendenziöser Haltungen (z.B. Aggravation) beinhalten. Beschwerdenvalidierungstests, wie z.B. dem Strukturierten Fragebogen Simulierter Symptome, in dem simulierte Symptome [72]

erfasst werden, sollten ein Bestandteil eines psychiatrischen Gutachtens sein, falls Zweifel an der Glaubwürdigkeit vorgetragener Beschwerden in der Bewertung des Falls geäußert werden. Diese speziellen Testverfahren sind nicht schnell durchzuführen und müssten von einem fachkundigen Sachverständigen als fester Bestandteil angewandt werden.

Problematik der Gutachterhonorare

Aktuell gibt es einen seit 1997 schwelenden Konflikt bezüglich der Vergütung zwischen der Bundesärztekammer (BÄK) und der DRV Bund [73]. Seit 2012 gibt es nur eine einseitige Vergütungsempfehlung seitens der DRV mit einseitig

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bestimmten Grundhonoraren für die Erstellung von Gutachten. Wie bereits erwähnt, wird von der DRV 235,82 € plus Schreibgebühren und Porto vergütet. Nach JVEG wären für fünf Stunden Arbeitsaufwand in der Honorargruppe M2 mindestens 375 € ohne Zulagen zu vergüten. In einem Positionspapier der BÄK wird folgendes festgestellt:

„Die einseitige Vergütungsempfehlung der DRV vom 01.01.2015 ist für Ärzte nicht bindend. Sie missachtet sowohl die GOÄ als auch die mit § 21 Abs. 3 SGB X in Verbindung mit dem JVEG getroffenen Regelungen und wird abgelehnt.“ [73]

Es wird auf die Möglichkeit des Antrages zur Abrechnung nach JVEG auch gegenüber der Deutschen Rentenversicherung hingewiesen. Weiter heißt es:

„Eine Ablehnung der Kostenübernahme für solche ärztlichen Leistungen kann im Einzelfall sogar dazu führen, dass entweder auf ältere Befunde zurückgegriffen werden muss und deshalb die Aussagekraft des Gutachtens eingeschränkt ist. Dies hätte der Gutachter in seinem Gutachten anzugeben.

Im Einzelfall kann dies dazu führen, dass ein Gutachten ohne die erforderlichen aktuellen Befunde nicht mit der notwendigen Sorgfalt erstellt werden kann und daher der Gutachtenauftrag abzulehnen ist.“ [73]

Eine Abrechnung nach JVEG spricht dem Gutachten einen gewissen „Wert“ zu und trägt wahrscheinlich auch zu einer besseren Gutachtenqualität bei. Grundsätzlich sind aber ärztliche Gutachter auch innerhalb der Honorargruppierung des JVEG im Vergleich zu anderen Fachrichtungen von Sachverständigen niedrig eingestuft.

Zum Beispiel werden Sachvollständige zu den Sachgebieten Rundfunk- und Fernsehtechnik höher eingestuft als Ärzte. In der höchsten Honorargruppe (M3) – also Gutachten mit dem höchsten Schwierigkeitsgrad wie z. B. wissenschaftlich begründete Aussagen zu einer Prognose von Straftätern wird gleichgestellt mit der Schadensfeststellung bei Kraftfahrzeugschäden [74].

Zusammenfassend sind seitens der DRV Schritte zur Verbesserung der Gutachtenqualität eingeleitet worden. Sollte am System der ambulanten Begutachtung von Versicherten durch freiberufliche Ärzte festgehalten werden, können höhere Anforderungen an den Gutachter aber nicht ohne eine adäquate Vergütung erreicht werden.

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