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1. Einleitung und Fragestellung

1.1 Bedeutung depressiver Störungen in der Sozialmedizin

1. Einleitung und Fragestellung

1.1 Bedeutung depressiver Störungen in der Sozialmedizin

Psychische Erkrankungen sind von zunehmender Bedeutung für die Sozialmedizin.

Geschätzte 12 % der Weltbevölkerung und 20 % der Europäer leiden unter psychischen Störungen. Depressionen stehen an erster Stelle [1].

Bei einer in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) 1998 durchgeführten Studie gaben 4,8 % der befragten Männer und 7,8 % der befragten Frauen zwischen 18 und 65 Jahren an, während der letzten vier Wochen an einer Depression gelitten zu haben. Die Inzidenz innerhalb eines Jahres betrug 15 % für Frauen und 8,1 % für Männer [2]. Die 12-Monats-Prävalenz irgendeiner affektiven Störung wurde mit 11,9 % angegeben; bei 8,3 % der erwachsenen Allgemeinbevölkerung wurde eine

„Major Depression“ (depressive Episode) diagnostiziert. Dies entsprach in der BRD vier Millionen Menschen, die in den Jahren 1998 und 1999 an einer depressiven Episode gelitten hatten [3]. Das Risiko einmal während des Lebens unter einer depressiven Episode zu leiden, beträgt nach einer Metaanalyse von 17 Studien aus der Europäischen Union ca. 20 % [4].

Depressionen sind keine Alterserkrankung wie Diabetes mellitus Typ II oder Niereninsuffizienz. Sie treffen viele junge Menschen im erwerbsfähigen Alter mit ähnlichen Altersmittelwerten für Männer (33 Jahre) und Frauen (32 Jahre) [5].

Ein Maßstab der mit Erkrankung einhergehenden Einschränkungen der Lebensqualität und Erwerbsfähigkeit, ist das Konzept der behinderungsbereinigten Lebensjahre (disability-adjusted life years, DALY). Nach Definition der WHO sind dies Jahre, die einem Menschen durch frühen Tod oder schwere Behinderung bei einer bestimmten Erkrankung verloren gehen. Für die Altersgruppe der 15- bis 44-Jährigen steht die Depression bei Frauen nach diesem Parameter an zweiter und bei Männern an dritter Stelle [6]. Ein Gipfel der Erstmanifestation im jungen Erwachsenenalter verursacht besonders viele verlorene Jahre.

Depressive Erkrankungen führen in Deutschland oft zu einer vorzeitigen Berentung.

Im Jahr 2007 wurden insgesamt 160 005 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit bewilligt, davon 53 887 (34 %) wegen psychischer Erkrankungen.

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18 678 Frühberentungen (6 741 Männer, 11 937 Frauen) erfolgten aufgrund affektiver Störungen. Das entsprach ca. 12 % der Frühberentungen aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit im Jahr 2007. Das mittlere Berentungsalter lag zwischen 50 und 54 Jahren. Knapp 30 % aller Frühberentungen wegen psychischer Erkrankung waren durch Depressionen bedingt. 39 % aller Frühberentungen bei Frauen erfolgten wegen psychischer Erkrankungen und lagen damit noch vor Erkrankungen des Bewegungsapparates (16 %) [7-9].

Von 1996 bis 2015 stieg der Anteil neu bewilligter Erwerbsminderungsrenten wegen psychischer Erkrankung von 20,1 % auf 42,9 % (Tabelle 1). Darunter war die Depression die häufigste Diagnose [10].

Jahr

Erwerbsminderungsrentenneuzugänge nach ausgewählten Diagnosehauptgruppen (Männer und Frauen, Anteile in Prozent, ohne Fälle mit nicht erfasster 1. Diagnose und ohne Renten für Bergleute wegen Vollendung des 50. Lebensjahres)

Nach: Deutsche Rentenversicherung, Statistikpublikationen: Erwerbsminderungsrenten im Zeitverlauf 2016, Seite 2.

Die Depression verursacht direkte und indirekte Kosten. Direkte Kosten sind ärztliche und psychologische Behandlungen (ambulant, stationär, Rehabilitation, Medikamente).

Indirekte Kosten liegen im Vergleich zu den direkten Kosten noch deutlich höher.

Sie setzen sich aus einer Minderung der Arbeitsleistung, Arbeitsunfähigkeit (AU), Frühberentungen und Leistungen erbracht durch pflegende Angehörige zusammen.

Verlorene Erwerbstätigkeitsjahre machen dies anschaulich. Zu den indirekten Kosten werden Verlust an Lebensqualität durch Schmerzen, psychisches Leiden und Ausschluss vom sozialen Leben gezählt, wobei diese „intangiblen Kosten“ nicht in einen Geldwert umgerechnet werden können.

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Im Jahr 2006 beliefen sich die direkten Kosten für die Behandlung aller psychischen Erkrankungen auf 26,65 Milliarden Euro. Durch Depression verursachte direkte Kosten stiegen von 3,9 Milliarden Euro (2002) auf 4,2 Milliarden (2004) und 4,6 Milliarden 2007 [11]). Die ESEMed-Studie bezifferte die jährlichen medizinischen Versorgungskosten bei Depression mit 1278 Euro pro Patient, wovon 53 % auf Krankenhausaufenthalte, 34 % auf ambulante Versorgung und 9 % auf Medikamentenverbrauch entfielen [12].

Indirekte Kosten beeinflusst der Arzt auch durch sozialmedizinische Gutachten. Er bestimmt z. B. durch die Attestierung von Arbeitsunfähigkeit die Dauer der Lohnfort- oder Krankengeldzahlung. Die sozialmedizinische Stellungnahme auf Anforderung des Rentenversicherungsträgers lenkt den Weg zu Rehabilitationsleistungen oder Frühberentung. Das durch die Rentenversicherung in Auftrag gegebene sozialmedizinische Gutachten hat entscheidenden Einfluss auf die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Es existieren verschiedene Modelle, mit deren Hilfe man versucht, solche indirekten Krankheitskosten zu berechnen. Weil hier bisher keine Einigung auf allgemein anerkannte Berechnungsformeln erzielt werden konnte, beschränken sich die meisten sozialmedizinischen Statistiken auf die Erfassung der direkten Erkrankungskosten. Die Ermittlung verlorener Erwerbstätigkeitsjahre ist dagegen einfacher und ein hilfreiches Konstrukt zur Beurteilung der ökonomischen Bedeutung von Depressionen [13].

Verlorene Erwerbstätigkeitsjahre setzen sich aus Zeiten der Arbeitsunfähigkeit und Frühberentung zusammen. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen liegt immer eine ärztliche Diagnose zugrunde. Sie werden von den Krankenkassen flächendeckend und zeitnah erfasst. 2005 waren es in Deutschland 11 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage allein bei der Behandlungsdiagnose Depression [14].

Arbeitsunfähigkeit während Rehabilitationsbehandlungen, sowie Arbeitsunfähigkeits- bzw. Dienstunfähigkeit bei Selbständigen und Beamten kann nur geschätzt werden. Nicht erfasst wurde kurzzeitige Arbeitsunfähigkeit unter drei Tagen, für die der Arbeitnehmer kein ärztliches Attest vorlegen muss. Diagnosen werden nach der internationalen Klassifikation der Krankheiten (International Statistical Classification of Diseases, ICD) auf den Attesten dokumentiert und

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können Merkmalen wie Geschlecht, Alter oder Beruf zugeordnet werden. Nicht alle AU-Tage wurden durch die Krankenkassen erfasst, seitdem die Hartz-IV-Gesetze Meldungen über Arbeitsunfähigkeit bei Beziehern von Arbeitslosengeld II nicht mehr vorsahen. Auf Bundesebene stieg die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage wegen seelischer Erkrankungen ständig an. Dabei war die Prävalenz bei weiblichen Arbeitnehmern um zwei Drittel höher als bei Männern. Stärker betroffen als die Gesamtwirtschaft war dabei der Dienstleistungssektor [15].

Die gesetzlichen Krankenkassen werten regelmäßig die Daten der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ihrer Mitglieder aus. Die Techniker Krankenkasse publiziert jährlich ihren Gesundheitsreport. Auf 100 ganzjährig Versicherte entfielen 2008 137 Tage Arbeitsunfähigkeit bei psychischer Erkrankung. Dies war der höchste Stand seit Beginn der Auswertungen im Jahr 2000. Diagnosen wurden nach den ICD-Richtlinien kodiert. Durchschnittlich 48,8 Tage entfielen auf die Diagnose einer depressiven Episode (F32), 13,1 Tage auf die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung (F33) und 22,6 Tage auf Reaktion auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43).

Besonders markant war die Diskrepanz zwischen 69 Fehltagen für Frauen und 35 Fehltagen für Männer bei der Diagnose depressive Episode [16].

Für Deutschland lagen noch keine umfassenden Berechnungen indirekter Krankheitskosten vor. Für 2007 gab das Statistische Bundesamt in seinem Jahrbuch 147 000 verlorene Erwerbstätigkeitsjahre durch Depression an. Das entsprach 3.5 % des gesamten Verlustes von Erwerbstätigenjahren. 22 % der durch psychische Erkrankungen verlorenen Jahre waren durch depressive Störungen bedingt [17]. Bei Renten wegen Erwerbsminderung stehen die affektiven Störungen und insbesondere die depressiven Störungen nach der Statistik der deutschen Rentenversicherung an erster Stelle [7].

5 1.2 Reliabilität der Diagnose Depression

Depression kann als Gemütszustand, als Symptom, als Syndrom oder als klinische Diagnose definiert werden. Eine solche klinische Diagnose ist in der Psychiatrie bis heute fast ausschließlich auf das gestützt, was der Erkrankte berichtet und was der Arzt erfragen und beobachten kann. Aktuell werden bildgebende sowie Laborverfahren in der klinischen Praxis nur zum Ausschluss anderer organischer Ursachen psychischer Symptome genutzt. Eine Bildgebung des Schädels z.B.

mittels Magnetresonanztomographie (MRT) oder Labortests der Schilddrüsenhormone sind für die diagnostische Abklärung einiger psychischer Störungen notwendig [18].

Es gibt Studien, die mittels funktioneller MRT spezielle Biomarker beschreiben, die bei Patienten mit einer Depression verändert sind [19-21]. Diese Informationen können Hinweise für ein Ansprechen auf eine bestimmte Therapieform geben.

Jedoch zeigen die verschiedenen Biomarker in vielen unterschiedlichen Bereichen des Gehirns auch die Komplexität einer psychischen Erkrankung auf neuronaler Ebene [22]. Dies sind Verfahren, die in den kommenden Jahren eine wichtigere Rolle in der Diagnostik und insbesondere der Subklassifikation der Depression spielen könnten [23]. Aktuell sind noch keine Labortests oder bildgebenden Verfahren, für den Haus- oder Facharzt in der Ambulanz verfügbar, die routinemäßig bei der Mehrzahl der Patienten zum Einsatz kommen könnten.

Für die Diagnosestellung psychischer Erkrankungen gibt es zum einen die Kriterien der ICD-10 und die in klinischen Studien oft genutzten Kriterien des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4. Auflage bis 2013, aktuell 5. Auflage). Die affektiven Störungen werden im Kapitel F des ICD-10 aufgelistet.

Es gibt 36 verschiedenen Diagnosen unter sieben Kategorien:

F30.- Manische Episode

F39.- Nicht näher bezeichnete affektive Störungen

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Die Kriterien für eine Depression nach ICD-10 sind in Haupt- und Zusatzsymptome unterteilt. Abbildung 1 stellt den Algorithmus zur Diagnose einer depressiven Episode nach ICD-10 dar.

Abbildung 1

Diagnose depressiver Episoden nach ICD-10 Kriterien, aus: [24]

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Nach diesen Kriterien kann der Schweregrad einer Depression beurteilt werden, der sich dann in der kodierten Diagnose nach ICD-10 widerspiegelt:

• F32.0 leichte depressive Episode

• F32.1 mittelgradige depressive Episode

• F32.2 schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome

• F33.3 schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen

Bei rezidivierend auftretenden Depressionen entsprechend die Diagnosen:

• F33.0 rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode

• F33.1 rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode

• F33.2 rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome

• F33.3 rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen

Das Erkennen einer Depression sowie die daraus resultierende korrekte Diagnosestellung ist der erste Schritt in der Behandlung eines Patienten und ggf.

resultierender Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Eine solche Diagnosestellung sollte reliabel sein.

Die Reliabilität ist ein Begriff aus der Statistik und beschreibt die Genauigkeit oder Zuverlässigkeit einer Messung. Unter den gleichen Rahmenbedingungen eines Experimentes oder z. B. einer Diagnosestellung durch einen Arzt, soll es immer zu den gleichen Ergebnissen ohne zufällige Fehler kommen. Wenn ein Experiment erneut wiederholt wird und dasselbe Ergebnis erzielt wird, ist dies ein Hinweis auf ein reliables Ergebnis [vgl. 25].

Erster Ansprechpartner für die meisten Patienten in Deutschland ist der Allgemeinarzt. Deshalb ist es wichtig, dass Allgemeinärzte eine Depression „sicher“

diagnostizieren können. Wittchen et al. untersuchten in ihrer Studie „Depression 2000“ die diagnostische Sicherheit von Hausärzten. 50% konnten die korrekte Diagnose Depression im klinischen Alltag stellen und von ihren diagnostizierten Patienten wiederum die Hälfte einer spezifischen Behandlung zuführen.

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22 % dieser Patienten stellten sie eine Überweisung zum Psychiater aus. In dieser Studie wurden Verbesserungsmöglichkeiten in der Diagnostik und möglicher Behandlungsoptionen aufgezeigt [26].

1.3 Die Erfassung des Schweregrades einer Depression mithilfe psychometrischer Instrumente

Die Trennschärfe der Kriterien für eine leichtgradige und mittelgradige depressive Episode in der ICD-10 ist nicht hoch. Trennendes Kriterium für die mittelgradige Episode im Gegensatz zur leichtgradigen ist die mangelnde Fähigkeit, die Anforderungen des Alltags bewältigen zu können. Bei einer leichtgradigen Episode ist der Patient „wahrscheinlich noch in der Lage, den meisten Aktivitäten im Alltag nachzugehen“ (ICD-10, [27]). Bei einer mittelgradigen Episode hat er „große Schwierigkeiten, den üblichen Aktivitäten weiter nachzugehen“. Die Beurteilerübereinstimmung (Interrater-Reliabilität) für eine solche Abgrenzung dürfte schwer herzustellen sein. Der letzte Satz des einleitenden Textes der ICD zu den diagnostischen Kriterien einer depressiven Episode betont die Notwendigkeit der Erfassung der Ausprägung jedes einzelnen typischen Symptoms und Zeichens einer Depression für die Einstufung des Schweregrades, gibt aber keine Anleitung, wie das geschehen sollte:

„F32.- Depressive Episode

Bei den typischen leichten (F32.0), mittelgradigen (F32.1) oder schweren (F32.2 und F32.3) Episoden leidet der betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert.

Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten.

Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten "somatischen" Symptomen begleitet werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung,

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Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust. Abhängig von Anzahl und Schwere der Symptome ist eine depressive Episode als leicht, mittelgradig oder schwer zu bezeichnen.“ [27]

Die Erfassung des Schweregrades einer Depression, wird für den Arzt zusätzlich erschwert, sobald sekundärer Krankheitsgewinn möglich wird.

Das Problem des sekundären Krankheitsgewinns ist jedem System inhärent, das Lohnersatzleistungen im Krankheitsfall vorsieht. Gerade bei psychischen Erkrankungen kann man Simulation und Aggravation der Versicherten schwer ausschließen. Simulation bedeutet „bewusstes, zweckgerichtetes Vortäuschen einer psychischen oder somatischen Störung“ [28]. Aggravation wird als „die bewusste, absichtlich verschlimmernde bzw. überhöhende Darstellung einer tatsächlich vorhandenen Störung zum Zweck der Erlangung von unmittelbaren (materiellen) Vorteilen“ definiert [29].

In einer Begutachtungssituation (z.B. ein Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente aufgrund einer psychischen Erkrankung) ist der Anreiz einer Aggravation gegeben.

In der Literatur gibt es nur Schätzungen zur Prävalenz von Aggravation. Im sozialmedizinischen Begutachtungskontext wird die Prävalenz einer Aggravation auf 20 – 40 % geschätzt [29]. Diese Schätzung ist aber bei fehlenden empirischen Studien umstritten [28]. Insbesondere bei leicht- bis mittelgradigen Depressionen dürfte dies häufiger der Fall sein als bei schwergradigen, eventuell sogar psychotischen Krankheitsbildern.

Die klinische Forschung hat dieses Manko psychiatrischer Klassifikationssysteme erkannt und durch den Einsatz von Schätzskalen zu lösen versucht. Grundsätzlich stehen Selbstbeurteilungsskalen und Fremdbeurteilungsskalen zur Verfügung. Eine der am häufigsten verwandten Selbstbeurteilungsskalen ist das Beck-Depressions-Inventar [30]. Die Sensitivität und Spezifität der Selbstbeurteilungsskalen zur Erfassung des Schweregrades depressiver Syndrome ist hoch [31]. Der Einsatz von Selbstbeurteilungsskalen in einer Begutachtungssituation stößt allerdings an Grenzen [32], z.B. bei Aggravationsverhalten des Patienten.

Das Beck-Depressions-Inventar (BDI) in seiner 1996 revidierten Form (BDI-II) weist den 21 Aussagen jeweils vier Antwortmöglichkeiten zu, die in aufsteigender

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Reihenfolge von null bis drei einem jeweils höheren Schweregrad entsprechen, was in dieser klar strukturierten Form jedem auch noch so testpsychologisch naiven Probanden einsichtig sein dürfte [33]. Das BDI-II enthält keine Fragen, die versuchen, Plausibilität oder eine Tendenz der Bevorzugung der Antworten zu erkennen, die mit zwei oder drei gekennzeichnet sind. Fremdbeurteilungsskalen bieten hier den Vorteil, dass der Kliniker den durch die Exploration erhobenen psychopathologischen Befund sowie die besonderen Umstände einer Begutachtungssituation berücksichtigen kann und fremdanamnestische Informationen einbeziehen darf.

Im Hinblick auf die Validität gelten Fremdbeurteilungsskalen als überlegen.

Voraussetzung ist, dass der einschätzende Arzt oder Therapeut über eine langjährige Erfahrung mit der betreffenden Erkrankung verfügt und in der Anwendung des psychometrischen Instrumentes geschult ist. Ein Beispiel: ein sehr wehleidig veranlagter Patient mit einer leichten Depression würde in der BDI-Selbstbeurteilung extrem hohen Leidensdruck kodieren. Der erfahrene Beurteiler kann diese Selbsteinschätzung aber vor dem Hintergrund seiner fundierten Kenntnisse über verschiedene Schweregrade depressiver Erkrankungen abgleichen, sodass die kodierte Symptomatik einer leichten depressiven Phase entspricht. Dies bietet die Gelegenheit, Eigen- und Fremdbeurteilung miteinander in Beziehung zu setzen.

Die auch heute noch am häufigsten eingesetzte Fremdbeurteilungsskala ist die Hamilton-Skala (Hamilton Rating Scale for Depression, HAM-D) mit 17 Items [34, 35]. Sie wurde 1960 durch den britischen Psychiater Max Hamilton eingeführt und entwickelte sich zur Eichschätzskala für spätere Skalen. Vom National Institute of Mental Health (Bethesda, USA) wurde sie in die Batterie der Beurteilungsinstrumente aufgenommen, die der Evaluation pharmakologischer Therapien bei Depression dient. Sie ist das Standardmessinstrument in klinischen Zulassungsstudien, die von forschenden pharmazeutischen Unternehmen der amerikanischen Food and Drug Administration (Arzneimittelzulassungsbehörde der Vereinigten Staaten) vorgelegt werden müssen. Sie war ebenso primäres Messinstrument für den Ausgang der kollaborativen Vergleichsstudie Pharmakotherapie versus Psychotherapie in der Behandlung der Depression, die vom National Institute of Mental Health durchgeführt wurde. Die Probleme beim

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Einsatz der HAM-D Skala bei Forschungsarbeiten haben Bagby und Mitarbeiter [36]

ausführlich diskutiert.

Hamilton legt in seinen eigenen Anleitungen zur Durchführung der Bewertung einige allgemeine Richtlinien fest. Für jedes Item soll Ausprägung und Häufigkeit eines Symptoms bewertet werden. Die Befragung sollte derzeitige und retrospektive Symptome für einen Zeitraum von zwei Wochen umfassen. Jedes Item sollte strikt separat bewertet werden, um den sogenannten Halo-Effekt zu vermeiden: Jemand der unter Item „Suizidalität“ hoch bewertet wurde, wird häufig automatisch auch im Hinblick auf das Item „depressive Stimmung“ hoch eingestuft, obgleich dies nicht immer der Fall sein muss. Der Untersucher darf kollaterale Informationen von Angehörigen und aus Krankenakten in die Bewertung einfließen lassen.

Neun Items werden durch eine 5-Punkte-Skala bewertet mit 0 Punkte = nicht vorhanden bis 4 Punkte = schwergradig. Sieben Items werden mit 0 – 2 Punkten bewertet. Die HAM-D Skala findet sich im Anhang dieser Arbeit.

Der Summenwert ergibt sich aus der Addition aller Punkte. Der Maximalwert beträgt in der HAM-D Skala mit 17 Items 51 Punkte. Zur Auswertung werden in der Literatur verschiedene Grenzwerte angegeben, die sich um jeweils einen Punkt unterscheiden. Tabelle 2 zeigt eine mögliche Einteilung der Schwere der Depression nach der aktuell gültigen S3 Leitlinie Unipolare Depression für Deutschland [37].

≤ 8 Punkte keine Depression bzw. klinisch unauffällig oder remittiert 9 – 16 Punkte leichtes depressives Syndrom

17 bis 24 Punkte mittelgradiges depressives Syndrom

≥ 25 Punkte schweres depressives Syndrom Tabelle 2

Cut-off Werte für die HAM-D Skala (17 Item Version)

Tabelle nach S3 Leitlinie Unipolare Depression, Version 5, 2015, S. 184

12 1.4 Behandlung der Depression

Nach der S3 Leitlinie Unipolare Depression [38] steht am Anfang einer Therapie der Depression das Aufklärungsgespräch mit dem Patienten, in dem die allgemeinen Behandlungsziele dargelegt werden. Die Behandlungsoptionen sollten mit dem Patienten nach dem Prinzip der partizipierenden Entscheidungsfindung diskutiert werden. Akute Suizidalität, schwerwiegende psychosoziale Stressoren oder deutliche psychotische Symptome können eine notfallmäßige stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Fachklinik notwendig machen. Die Erfassung des Schweregrades der Depression ist für die Therapie und Verlaufskontrolle wichtig. Bei leichtgradiger Symptomatik kann dem Patienten eine aktiv abwartende Begleitung für einen Zeitraum von maximal 14 Tagen oder eine niederschwellige Intervention (z.B. Bibliotherapie, psychoedukativ-supportive Gespräche) angeboten werden. Bei anhaltender Symptomatik sowie als erster Schritt bei einer mittelgradigen Depression wird das Angebot von Psychotherapie oder Pharmakotherapie unter Beobachtung für 3 – 4 Wochen empfohlen. Bei einer schweren Depression wird eine Kombination aus Psychotherapie und Pharmakotherapie angeraten. Nach einem Monat sollte das Ansprechen auf die Therapie überprüft werden, um eine Besserung zu dokumentieren und die Therapie fortzusetzen oder eine Anpassung des Therapieregimes einzuleiten. Für die genauen Empfehlungen zur Auswahl der geeigneten Substanzklassen wird auf die aktuell gültige Leitlinie verwiesen [38].

Eine Pharmakotherapie sollte mindestens 4-9 Monate über die Remission einer depressiven Episode hinaus fortgesetzt werden. Nach zwei oder mehr depressiven Episoden wird zur medikamentösen und psychotherapeutischen Rezidivprophylaxe über zwei Jahre geraten.

Eine stationäre Behandlung wird bei akuter Suizidalität oder Fremdgefährdung sowie dem Risiko psychosozialer Isolation empfohlen. Unzureichende ambulante Behandlungsoptionen sowie die Gefahr der „Therapieresistenz“ bei einer chronischen Depression stellen ebenfalls eine Indikation für stationäre Behandlung dar.

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Die Indikation für eine stationäre Rehabilitationsbehandlung ist laut Sozialgesetzbuch (SGB) neuntes Buch gegeben, wenn die

„ ( … ) Therapieziele zur Festigung von Behandlungserfolgen, der

Behandlung von Krankheitsfolgen, der Verbesserung des Umgangs mit der (chronischen bzw. chronifizierten) Erkrankung oder der Verbesserung oder Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit bestehen.“ [38]

Bei mittelschweren bis schweren depressiven Episoden ist die Arbeitsfähigkeit des Patienten in den meisten Fällen eingeschränkt, sodass die Attestierung von Arbeitsunfähigkeit durch den Hausarzt oder den behandelnden Psychiater erfolgt.

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1.5 Durch sozialmedizinische Begutachtung ausgelöste Lohnersatzleistungen

Wie für alle Erkrankungen gilt auch für Depressionen, dass bei entsprechendem Schweregrad Arbeitsunfähigkeit durch den Arzt festgestellt werden muss, um Lohnersatzleistungen zu erhalten.

Laut Definition des G-BA liegt Arbeitsunfähigkeit vor,

„(…) wenn der Versicherte auf Grund von Krankheit seine zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann. Bei der Beurteilung ist darauf abzustellen, welche Bedingungen die bisherige Tätigkeit konkret geprägt haben. Arbeitsunfähigkeit liegt auch vor, wenn auf Grund eines bestimmten Krankheitszustandes, der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit bedingt, absehbar ist, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder die Gesundung abträgliche Folgen erwachsen, die Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorrufen.“

[Beschluss des G-BA vom 01.12.2013, §2 (1), Bundesanzeiger Nr. 61, S. 6501]

Durch eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung weist der Betroffene dies gegenüber Arbeitgeber und Krankenversicherung nach. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind in der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des G-BA [39]

Durch eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung weist der Betroffene dies gegenüber Arbeitgeber und Krankenversicherung nach. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind in der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des G-BA [39]