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Rechtfertigung und Grundsätze der Sozialpolitik

2. Sozialpolitische Grundlagen

2.2. Rechtfertigung und Grundsätze der Sozialpolitik

Eine Rechtfertigung sozialpolitischen Handelns hat es schon zu vorchristlichen Zeiten gegeben, um den inneren Frieden damaliger Gesellschaften zu bewahren, die durch sehr große soziale Unterschiede in der Bevölkerung geprägt war (LAMPERT 1980: 26). Die

„neuzeitliche Sozialpolitik“ (LAMPERT &ALTHAMMER 2004: 13) ist zunehmend seit Anfang des 19. Jahrhunderts in den industrialisierten Gesellschaften zur Stärkung des Politischen Systems und zur Erhaltung des innergesellschaftlichen Friedens notwendig geworden, da Lücken in der sozialen Absicherung durch die zunehmende Entflechtung familiärer und

anderer gewachsener Sozialstrukturen entstanden sind. Später sind aus dieser sozial-politischen Entwicklung die staatlichen Sozialversicherungen hervorgegangen.

Gegenwärtig gibt es für staatliche Sozialpolitik verschiedene Gründe: Zuerst ist hier die Absicherung kranker und behinderter Menschen zu nennen und solcher, die ihren Lebensunterhalt nicht durch eigene Arbeit verdienen können. Weiter besteht Bedarf zur Absicherung des Risikos eines Ausfalles der eigenen Arbeitsleistung durch Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit oder Alter für die Masse der Bevölkerung, da einzelne Individuen bei Wegfall ihrer Arbeitskraft in den meisten Fällen über keine ausreichenden Grundlagen zur weitern Lebensgestaltung verfügen. Zusätzlich sind unvorhersehbare Aufwendungen im Falle von Krankheit oder Unfall vom Einzelnen ohne Unterstützung sozialer Sicherungssysteme nicht finanzierbar (LAMPERT &ALTHAMMER 2004: 14f).

Staatliche Sozialpolitik ist in modernen und postindustriellen Gesellschaften auch deshalb ein wichtiges Instrument, da wirtschaftliche Entwicklung oft mit dem Umbruch sozialer und wirtschaftlicher Strukturen einhergeht. Erst soziale Absicherungsinstrumente machen einen immer schnelleren Wandel möglich, diesen für die Benachteiligten überhaupt hinnehmbar und geben die notwendige Flexibilität zur Umstrukturierung ganzer Wirtschaftsbereiche in Zeiträumen, die oft nur Bruchteile einer Generation betragen (ebenda: 15, 466). Staatliche Sozialpolitik ist somit auch als Absicherung des Arbeitskräftepotentials und der Leistungs-fähigkeit einer Gesellschaft zu verstehen (ebenda: 465).

Die Notwendigkeit für staatliche Sozialpolitik hängt auch von den Zielen einer Gesellschaft ab. Staaten, die wie Deutschland auf sozialstaatlichen Grundprinzipien aufbauen, streben nach der Umsetzung oben genannter Ziele Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit, wozu es sozialpolitischer Instrumente bedarf. Letztere erlauben jedem Individuum die Wahrnehmung seiner Grundrechte (ebenda: 15f, 140). Auch Marktversagen kann in marktwirtschaftlich organisierten Staaten sozialpolitische Eingriffe notwendig machen. Für die spätere Diskussion erscheint das Vorhandensein privatwirtschaftlich nicht versicherbarer Risiken als relevanter „zentraler Funktionsmangel“ eines solchen Systems (ebenda: 144).

Grundsätze

Die vier grundsätzlichen Prinzipien von Sozialpolitik sind Solidarität, Subsidiarität, das Ver-sicherungsprinzip und die Selbstverantwortung. Die Prinzipien sind als Handlungsanweisun-gen zu verstehen, auf denen sozialpolitische Instrumente aufbauen und mit deren Hilfe die oben genannten abstrakteren Ziele erreicht werden können (RIBHEGGE 2004: 42).

Nach dem Solidaritätsprinzip ist jeder Einzelne für das Gesamtwohl einer Gesellschaft oder eines Bereiches derselben verantwortlich und umgekehrt dieselbe Gesellschaft für das Wohl

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des Einzelnen (NELL-BREUNING 1985: 47f). In einem solidarischen System werden Steuern oder Beiträge entsprechend der Leistungsfähigkeit des Einzelnen erbracht. Nur in einem solchen System kann die Diskussion nach sozialer Gerechtigkeit aufkommen, da für Leistungen nicht unbedingt Gegenleistungen erfolgen müssen und das Solidaritätsprinzip somit eine Umverteilung zum Wohle der Schwächeren darstellt. Beispielhaft für dieses Prinzip ist die deutsche gesetzliche Krankenversicherung zu nennen, da die Beiträge nach der Leistungsfähigkeit der Versicherten erhoben werden, die Leistungen davon aber abgekoppelt sind und nach anderen Kriterien wie z. B. dem Gesundheitszustand des Versicherten etc. erbracht werden.

Problematisch in einem Solidarsystem ist das s. g. Free-Rider-Problem, welches OLSON

erstmals verallgemeinert beschreibt. Gemeint ist das Verhalten von Eigennutzen-maximierern, die egoistisch Solidarleistungen ausnutzen, ohne auf diese wirklich ange-wiesen zu sein. Als Beispiel kann der Bezug von Arbeitslosengeld angeführt werden, wenn gleichzeitig die Aufnahme eines zumutbaren Jobs verweigert wird (RIBHEGGE 2004: 43).

Das Subsidiaritätsprinzip fordert „solidarisches Verhalten in abgestufter Form“ (RIBHEGGE

2004: 43). An erster Stelle steht die Eigenverantwortung des Einzelnen. Eigene Kräfte sollen mobilisiert werden und erst, wenn diese nicht ausreichen, kann die Inanspruchnahme der Solidargemeinschaft erfolgen. Ein wichtiger Teil dieses Prinzips ist auch die Hilfe zur Selbsthilfe, die NELL-BREUNING (1985: 48) als die beste Form der Gemeinschaftshilfe darstellt. Für dieses Prinzip spricht, dass der Informationsfluss im direkten Umfeld eines Hilfebedürftigen am besten ist und Hilfe daher am zielgenauesten und effizientesten geleistet werden kann. Desweiteren ist die Motivation zur Hilfeleistung im direkten Umfeld – hier ist zuerst die Familie und dann der Kreis der Freunde oder Nachbarn zu nennen – am höchsten (RIBHEGGE 2004: 44f). Das Subsidiaritätsprinzip widerspricht allerdings dem Verursacher-prinzip: der Verursacher eines Schadens ist somit für diesen nicht mehr allein verantwortlich, sondern seine Familie und sein Umfeld stehen ebenfalls in der Pflicht der Wiedergut-machung.

Beim Versicherungsprinzip erfolgt ein Austausch von Leistungen; anders ausgedrückt hat eine eingebrachte Leistung eine Gegenleistung zur Folge. Es gilt also das Leistungsprinzip.

Bei engerem Zusammenhang zwischen Höhe der Leistung und Höhe der Gegenleistung spricht man auch vom Äquivalenzprinzip. Beispielhaft verdeutlicht die gesetzliche Rentenver-sicherung dieses Prinzip, da die Höhe der Rentenleistung von den Einzahlungen abhängig ist. In Sozialversicherungen, ebenso auch bei der gesetzlichen Rentenversicherung, wird das Versicherungsprinzip an manchen Stellen durch das Solidarprinzip aufgehoben. Somit erfolgt bei einer Versicherung eine intertemporale Umverteilung, in einem Solidarsystem hingegen

eine interpersonelle Umverteilung im gleichen Zeitraum. Das Versicherungsprinzip kann marktwirtschaftlich erfolgreich betrieben werden (RIBHEGGE 2004: 46) und findet in privaten Renten- und Krankenversicherungen Anwendung.

Die drei Prinzipien der Solidarität, der Subsidiarität und der Versicherung dienen der Umsetzung der sozialpolitischen Ziele Sicherheit und Gerechtigkeit.

Das Prinzip der Selbstverantwortung hingegen führt zur Erhaltung oder Erhöhung der individuellen Freiheit und einer geringeren Fremdbestimmung (RIBHEGGE 2004: 46). Bei selbstständigen Unternehmern wird in Deutschland die Selbstverantwortung eingefordert, da diese nicht in den allgemeinen Sozialversicherungsorganen pflichtversichert sind. Eine Ausnahme davon stellt der Einbezug der landwirtschaftlichen Unternehmer in die LUV dar.

Je stärker die staatliche Versorgung und Fürsorge ausgeprägt ist, desto mehr rückt die Selbstverantwortung in den Hintergrund. So hat die gesetzliche Rentenversicherung für Arbeitnehmer zeitweilig dazu geführt, dass der Einzelne für seine Alterssicherung fast überhaupt keine Selbstverantwortung mehr übernommen hat. Dieser Trend ist allerdings durch die Reformen der letzten Jahre wegen derzeitiger und zukünftiger Finanzierungs-engpässe wieder umgekehrt worden.

Weiterhin spielt heutzutage die Nachhaltigkeit eine zunehmende Rolle in der Sozipolitik.

„Kinder bekommen die Leute sowieso“ behauptete Konrad Adenauer im Jahr 1956 (INSTITUT DER DEUTSCHEN WIRTSCHAFT 2004). Diese Aussage stimmt aber schon seit vielen Jahren nicht mehr, was auch bei Betrachtung der demographischen Entwicklung deutlich wird. Die gestiegene Lebenserwartung hat ebenfalls dazu beigetragen, dass die gesetzliche Renten-versicherung mit ihrer Umlagefinanzierung an Belastungsgrenzen stößt. Eine entsprechende Anpassung der Lebensarbeitszeit ist erst vor kurzem durchgesetzt worden.

In der deutschen Sozialpolitik ist es auch auf anderer Ebene zu Fehlentwicklungen gekommen. Relevant für die spätere Diskussion der LUV sind u. a. die Trägervielfalt und Intransparenz der Sozialversicherungen sowie die Ausrichtung nach dem Kausalitätsprinzip, welches in vielen Fällen unterschiedlich hohe Leistungen vorsieht, je nach Zuständigkeit des Sozialversicherungsträgers (LAMPERT & ALTHAMMER 2004: 470). Eine weitere Fehlent-wicklung kann darin gesehen werden, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Beitrags- oder Steuerzahler durch finanzielle Belastungen sozialer Sicherungsinstrumente teilweise stärker eingeschränkt wird. Überbelastungen können einerseits zu Beitrags- und Steuervermeidung führen, aber andererseits auch zu einem Anspruchsdenken der zahlen-den Personen führen, welches mit einem Solidarsystem nicht mehr viel zu tun hat (ebenda:

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476f). Auch die Akzeptanz eines Sozialsystems kann unter übermäßiger Belastung bei entsprechenden Bevölkerungsgruppen verloren gehen.

Landwirtschaftliche Sozialpolitik ist in Deutschland auch mit Agrarstrukturpolitik verknüpft. So wird beispielsweise eine Altersrente dem Versicherten erst ausbezahlt, wenn er den landwirtschaftlichen Betrieb an seinen Nachfolger abgegeben hat. Die Betriebsübergabe erfolgt daher in den meisten Fällen spätestens im 65. Lebensjahr des Landwirtes. Der vergleichsweise hohe Anteil an Steuermitteln in der Finanzierung der LSV wirkt verlangsamend auf den Agrarstrukturwandel, da die Bundesmittel zumindest teilweise als Beitragssubvention angesehen werden.

Im Kap. 2.3 werden Ausgestaltungsmöglichkeiten und die Organisation der staatlichen Sozialversicherungen dargestellt, die zur sozialen Absicherung der (Staats-)Bürger gegen Erwerbsrisiken wie Alter, Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit in Deutschland eingerichtet worden sind.

2.3. Sozialversicherungen in Deutschland