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3 METHODISCHER ZUGANG

5.5 Die Lehre als Notlösung in einer problematischen Lebensphase

5.5.1 Die Pubertät schlägt voll zu

Nach dem Start ihrer Bildungslaufbahn mit vier Jahren im Kindergarten und dem Besuch der örtlichen Volksschule wechselt sie in die nächstgelegene Hauptschule; jene Schule „wo jeder hingeht aus dem Ort“. Deshalb stellt sich für Margit auch nie die Frage nach einem Gymnasium, denn „das war einfach so“. Danach erweist sich die Fachschule für wirtschaftliche Berufe mit dem Schwerpunkt Gesundheit und Soziales als logischer Weg. Denn diese Schule bietet die optimale Vorbereitung für ihre Wunschausbildung zur Krankenpflegerin. Dieser Wunsch ist so dominant, dass sie auf die Frage nach ihrer Bildungslaufbahn damit zu erzählen beginnt, dass sie vom „Kindergarten weg eigentlich immer Krankenschwester werden“ wollte und sie sich von einem Abschluss der Fachschule bessere Chancen bei der Aufnahme in die Schule für Gesund-heits- und Krankenpflege erwartete. Folglich erweist sich ihre erste Bildungswahlentscheidung an der zweiten Schwelle als bewusst, gut durchdacht und auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet.

Doch alles kommt anders als erwartet. Im ersten der drei Jahre kommt sie noch „gut durch“, doch im zweiten Jahr – Margit ist gerade 15 Jahre alt – beginnen die Probleme. Obwohl sie die Krebsdiagnose des Vaters in diesem Zusammenhang nie erwähnt, deutet die Rekonstruktion der biografischen Chronologie stark daraufhin, dass er diese etwa in diesem Zeitraum erhält. Margit selbst stellt fest, dass ihr damals alles andere wichtiger war: „Fortgehen war wichtiger, die Freunde waren wichtiger und Spaß haben, aber die Schule halt einfach gar nicht. Und da hab ich mir immer gedacht, nein, das geht nicht, fortgehen und Spaß haben und Schule. Und dann habe ich mich für das andere entschieden. Und dann habe ich immer nur das getan, was ich wollte.“

Sie beginnt, regelmäßig die Schule zu schwänzen. „Ich war gar nie in der Schule. Ich bin in der Früh in die Schule gefahren mit dem Bus. (..) Um sechs ist mein Bus gegangen. (..) Und dann bin ich bei der Schule ausgestiegen und bin, zack, in die Stadt gegangen. Dann war ich den ganzen Tag in der Stadt. Ich war nie in der Schule.“ Dabei entwickelt sie „viele Tricks“, um ihr Fernblei-ben vom Unterricht zu rechtfertigen. Sie ruft im Sekretariat an, um sich für die ganze Woche krank zu melden, geht direkt zur Schulärztin und täuscht Beschwerden vor oder legt sich

„meistens am Montag“, wenn sie „vom Fortgehen noch müde“ ist, ins Krankenzimmer, bis sie nach Hause geschickt wird. Auch bei Iris262 und Yvonne263 beginnt das Bröckeln der schulischen Laufbahn mit zunehmendem Schulabsentismus.

Der Umstand, dass es „ganz viele Gespräche“ mit dem Klassenvorstand gibt und auch die Mutter einmal in die Schule kommen muss, ändert an ihrem Verhalten nichts. Einerseits, weil die Mutter im Zuge dieser Unterredung scheinbar nur über die schlechten Leistungen und die

Gefährdung, das Schuljahr nicht positiv absolvieren zu können, informiert wird. „Meine Mama hat das nicht gewusst. Ich hab ihr immer nur die guten Noten gebracht zum Unterschreiben. Alles andere habe ich mir immer selber unterschrieben.“ Die Fehlzeiten werden aber nach Margits Wissen nicht thematisiert. So ärgert sich ihre Mutter zwar über die Faulheit ihrer Tochter aber erkennt die eigentliche Problematik nicht. In den Fällen von Iris264 und Yvonne265 hingegen bleibt eine solche Intervention seitens der Schule aus. Andererseits scheitern eigene Versuche, „wieder öfter zu gehen“, sowohl an dem Verpassten als auch am Schamgefühl, welches durch stichelnde Kommentare der MitschülerInnen und LehrerInnen verstärkt wird. „Und dann war ich eben schon

262siehe Kapitel 5.1.4

263siehe Kapitel 5.1.6

264Iris kämpft gerade mit dem Verlust ihrer Mutter.

265Yvonnes Eltern befinden sich gerade im Trennungsprozess und schenken aus Yvonnes Empfinden den Kindern in dieser Phase nur begrenzt Aufmerksamkeit.

so lange nicht mehr da, dass sie mich dann immer schon so blöd angeredet haben: Hey, die sieht man auch wieder mal und so. Und das war mir halt unangenehm und jetzt bin ich dann wieder ganz selten gegangen. Und dann hat mich halt der Stoff… Dann hab‘ ich es auch nicht mehr nachlernen können, weil mir einfach in jedem Fach alles gefehlt hat. Es hat mir nichts gebracht, dass ich mir die Zetteln und alles noch kopiert hab von den anderen. Weil, wenn du einfach im Unterricht nicht da bist, dann kannst du es auch nicht. Und dann hab ich es gar nicht mehr gepackt mit dem Lernen.“

Im Nachhinein ist sie über ihr Verhalten geradezu entsetzt und bereut es zutiefst. Denn dadurch hat sie sich ihren Weg zum Traumberuf unnötig erschwert. Doch damals denkt sie diesbezüglich anders, empfindet ein Gefühl der Überlegenheit. „Ich hab mir einfach gedacht, ich krieg‘ sowieso was ich will und wenn ich Krankenschwester werden will, dann werde ich

Krankenschwester. Ich hab da einfach gar nicht nachgedacht.“ Wie schwierig und turbulent diese Zeit für sie war, zeigt sich auch daran, dass sie in dieser Phase sogar die Beziehung zu ihrer geliebten Kusine auf eine harte Probe stellt, „weil da waren halt dann schon die anderen Sachen wichtiger.“ Klar scheint, dass ihr „pubertärer Schub“ und die damit verbundene Flucht vor (schulischen) Pflichten und insgesamt den mütterlichen bzw. familiären Erwartungen in diesem Zusammenhang zeitlich in etwa mit der Krebsdiagnose des Vaters zusammenfallen. Inwieweit diese Botschaft als ursächlich dafür interpretiert werden kann, lässt sich nur mutmaßen, vor allem auch, weil die an und für sich sehr redselige und offene Margit darüber kaum ein Wort verliert bzw. nicht darüber sprechen kann. Dennoch beginnt für sie damit wieder eine Zeit, in der sie einen Elternteil regelmäßig im Krankenhaus besuchen muss. Auch bei den anderen Schulabbre-cherinnen im Sample stehen die schulischen Probleme im Zusammenhang mit privaten Turbulen-zen. Im Fall von Katrin266 und Yvonne leben die Eltern in Scheidung, Iris Mutter erlag beim Eintritt in die höhere Schule ihrer Krebserkrankung und ein Abnabelungsprozess zum Vater setzt ein. Anita wiederum will sich ganz allgemein von „den Fesseln“ ihrer Eltern befreien, was mit tiefgreifenden Konflikten einhergeht. Nur bei Brigitte ist der Auslöser der Probleme direkt im schulischen Umfeld zu suchen, in dem sie massive Schwierigkeiten mit einer speziellen Lehrerin hat.

Nach dem verlorenen Jahr ist Margit zunächst fest entschlossen, das Jahr zu wiederholen.

Denn Schule ist „einfach gemütlich und es geht nicht um viel eigentlich“. Doch dazu muss sie zuerst ihre Mutter überreden, die von Beginn an Druck aufbaut und betont, dass Margit keine Klasse wiederholen darf. Denn schlechte Noten sind für sie nur ein Ausdruck davon, dass sich Margit nicht richtig bemüht. Sie ermahnt sie, die Schule ernst zu nehmen, sonst müsse sie eine Lehre beginnen. „Sie wollte immer, dass was weitergeht.“ Trotz der klaren Haltung der Mutter schafft es Margit, sie umzustimmen, noch einen Versuch starten zu dürfen. Doch dann verlässt sie selbst der Mut. Zwei Wochen vor Schulbeginn beschließt sie, die Schule abzubrechen und ihre Mutter lässt sie gewähren. Wie diese Entscheidung letztendlich zu Stande kam, kann sie sich selbst nur bedingt erklären. „Ich hab dann so Angst gekriegt vor der Schule auf einmal. (..) Ich glaub‘, weil ich einfach in der Zweiten, weil ich es so schleifen lassen hab, dass ich dann bei den Lehrern nicht mehr so beliebt war.“ Mit Ausnahme von Yvonne entschieden sich auch die anderen Schulabbrecherinnen ganz bewusst gegen eine Klassenwiederholung und für die

Alternative der dualen Berufsausbildung. Eine nicht unbedeutende Rolle spielte dabei immer der Anreiz, sein eigenes Geld verdienen zu können.

266siehe Kapitel 5.1.1

Margit bricht mit 16 Jahren die Schule ab und ist von da an auf der Suche nach einer Lehr-stelle, in einer Zeit (Ende August/ Anfang September), in der die meisten Lehrstellen bereits vergeben sind. Ihr Such- und Bewerbungsprozess beginnt am Arbeitsmarktservice (AMS), wo sie sich eine Liste mit den freien Lehrstellen in der Region geben lässt. Detaillierte Informationen über die jeweiligen Berufsbilder holt sie sich über das Internet und das für Jugendliche eingerich-tete Online-Berufslexikon. Anhand dieser aktuell am regionalen Lehrstellenmarkt verfügbaren Lehrberufe beginnt Margit sich, nach dem Ausschlussprinzip zu bewerben. Sie möchte ein

„Handwerk“ erlernen und kann sich nur wenig für „so Bürosachen oder so“ erwärmen. „Ich muss immer was tun mit meinen Händen.“ So bewirbt sie sich als Zahntechnikerin, wo sie sogar gemeinsam mit zwei anderen jungen Frauen einen Aufnahmetest macht, und als Optikerin, weil sich „das cool anhört“. Sie hätte sich aber auch vorstellen können, eine KFZ-Mechanikerin-Lehre zu beginnen. Während sich ihr Vater begeistert zeigt, handelt es sich doch um seinen Traumberuf aus der Jugendzeit, ist ihre Mutter entschieden dagegen und so bewirbt sie sich nicht. „Ich habe dann gar nicht mehr diskutiert mit ihr. Habe mir gedacht: Naja okay, dann halt nicht.“ Dabei erweist sich Margits Findungsprozess hinsichtlich eines passenden Lehrberufs als insgesamt relativ halbherzig, denn im Grunde genommen ist es ihr von Beginn an egal, welche Ausbildung sie beginnt. Die Devise lautet: Hauptsache irgendeinen Ausbildungsabschluss, um danach endlich in die Gesundheits- und Krankenpflegeschule einsteigen zu können. Auch das eint Margit mit den anderen Schulabbrecherinnen, die zwar in der Regel den ursprünglichen Berufswunsch nicht mehr oder kaum mehr verfolgen, aber die neue Berufsfindung ebenfalls eher oberflächlich betreiben. Stattdessen gilt es, ehest möglich (irgend)eine Lehrstelle zu bekommen.

Neben dieser Reihe von Berufen fasst Margit von Beginn an den Lehrberuf Köchin ins Au-ge. Sie hat in der Fachschule diesbezüglich schon Erfahrungen sammeln können und findet Kochen „eh ganz gemütlich“. Außerdem besitzt sie durch den Fachschulbesuch bereits die entsprechende Berufskleidung, was sich angesichts der hohen Kosten für diese als ganz praktisch erweist. „Und ich weiß auch nicht, das hat dann einfach am besten gepasst. (..) Und ich hab mir einfach gedacht, ja das passt schon.“ Gleichzeitig gibt es in diesem Bereich in größerem Umfang freie Stellen und so interpretiert Margit für sich Köchin als beste Option. Den Doppellehrberuf Gastronomiefachfrau zieht sie, trotz der Empfehlung ihrer Mutter, nicht in Erwägung. Einerseits, weil sie die Lehre „so schnell wie möglich“ hinter sich bringen möchte, um dann endlich mit der Krankenpflegeausbildung beginnen zu können, andererseits widerstrebt ihr die Idee des „perfek-ten Service“ und die damit verbundene unterwürfige Art. Trotz der Fokussierung auf einen stark nachgefragten Lehrberuf (im Sinne von freien Lehrstellen), findet sie in der näheren Umgebung keine Stelle. Auf Druck der Mutter muss sie daher ihren Suchradius deutlich erweitern, obwohl sie „nie weg wollte“ und sich heftig wehrt. Schließlich bekommt sie eine Zusage von einem großen Hotel, wo sie von nun an in einem kleinen Zimmer lebt. Ihre persönliche Leidensge-schichte in der Gastronomie beginnt.