• Keine Ergebnisse gefunden

3 METHODISCHER ZUGANG

4.5 Aspekt Berufswahl und Berufsorientierung

4.5.1 Erklärungsansätze für (geschlechtsspezifische) Berufswahlentscheidungen

Be-rufswahltheorie gibt,152 was auch in der Komplexität des Phänomens begründet ist. „Einigkeit besteht allerdings bei nahezu allen Ansätzen, dass es sich bei der Berufsorientierung um einen Prozess handelt, der bereits früh – im Kindergartenalter – beginnt und zunehmend einerseits differenzierter, andererseits „realistischer“ im Sinne von an den gegebenen Möglichkeiten orientiert wird“ (Faulstich-Wieland 2014, 38). Grundsätzlich kann zwischen soziologischen und psychologischen Erklärungsansätzen unterschieden werden. Aufgrund der Dominanz der

psychologischen Erklärungsansätze in der einschlägigen Literatur sollen zunächst kurz die beiden wichtigsten Strömungen in der Psychologie skizziert werden (vgl. Driesel-Lange 2011, 54ff):

differentialpsychologische Berufswahltheorien und entwicklungs-psychologische Berufswahlthe-orien.153

Der bekannteste differentialpsychologische Erklärungsansatz für Berufswahlentscheidungen ist John Hollands Matching-Modell (1997). Aus seiner Sicht stellt die Benennung beruflicher Interessen zugleich eine Beschreibung der individuellen Persönlichkeit dar. Insofern erweist sich die Kenntnis der individuellen Persönlichkeit wie auch der passenden Berufsumwelt als wesent-lich für Prognosen von Berufswahl und -erfolg sowie Zufriedenheit und Leistung. Kernstück von Hollands Theorie bildet die Typologie von Personen und Umwelt, welche die Grundlage für viele Interessen- und Eignungstests in der Berufsberatung darstellt (vgl. Driesel-Lange 2011, 70ff).

Analog dazu teilt Holland die Berufe in sechs Bereiche ein: realistic (handwerklich-technisch), investigative (untersuchend-forschend), artistic (künstlerisch-kreativ), social

(erziehend-pflegend), enterprizing (führend-verkaufend), conventional (ordnend-verwaltend). Geschlechter-differenzen zeigen sich dabei in der Regel vor allem zwischen den Bereichen realistic und social (vgl. Faulstich-Wieland 2014, 39; Hirschi 2013, 27).

Ausgehend von entwicklungspsychologischen Theorien154 entwirft Ludger Bußhoff (1998) das Konzept des Übergangs. Ziel der Berufsfindung ist die Bewältigung der Differenz zwischen Selbst- und Umweltkonzept (Übergang) aus eigener Kraft. Für das Individuum besteht die Aufgabe sich den veränderten Umweltbedingungen anzupassen und/oder die Umwelt mit der Person in Übereinklang zu bringen (vgl. Driesel-Lange 2011, 70). Aus Sicht Bußhoffs (1998, 21ff) stellen sich Übergänge als Perioden dar, in denen die Identität eine krisenhafte Entwicklung durchläuft. Damit verbunden sind sowohl Gefahren des Verlusts als auch Chancen der Neugestal-tung. Übergänge können darüber hinaus die Folge von freien Entscheidungen sein und/oder von äußeren Umständen. Trotz eines prinzipiell entwicklungstheoretischen Ausgangspunktes integriert Bußhoff in sein Modell der Laufbahnentwicklung, welches einen starken Praxisbezug im Kontext Berufsorientierung und -beratung aufweist sowohl lerntheoretische, differentialpsy-chologische, entscheidungstheoretische als auch psychodynamische Erklärungsansätze sowie Überlegungen zu Kompromissbildungen (vgl. Driesel-Lange 2011, 82). Dementsprechend häufig finden sich Bußhoffs Ausführungen auch in der einschlägigen Literatur.

152vgl. dazu etwa Faulstich-Wieland 2014, Hirschi 2013, Driesel-Lange 2011

153Weitere psychologische Erklärungsansätze wären: Berufswahl als Lernprozess (vgl. dazu Krumboltz et al. 1976) und Berufswahl als Entscheidungsprozess (vgl. dazu Herzog et al. 2006)

154vgl. dazu etwa Ginzberg et al. 1951, Super 1954; 1955

Katja Driesel-Lange (ebd., 74) arbeitet heraus, dass viele der psychologischen Berufs-wahltheorien dahingehend kritisiert wurden, dass sie nur männliche Laufbahnen erklären. Den prominentesten Versuch, auch Geschlechteraspekte systematisch zu berücksichtigen unternahm Linda S. Gottfredson (1981) mit ihrer Entgrenzungs- und Kompromisstheorie. „Sie geht davon aus, dass Menschen Berufe nach geschlechtsspezifischen Typisierungen, Berufsniveau und Tätigkeitsbereich differenzieren. Die individuelle Einschätzung der Eignung für einen Beruf richtet sich nach dem Selbstkonzept und dem Grad an Anstrengung, das jemand bereit ist, für sein Berufsziel aufzubringen. Der Beruf ist dann erstrebenswert, wenn er mit dem Selbstkonzept übereinstimmt“ (Driesel-Lange 2011, 77). In diesem Zusammenhang werden auch Kompromiss-leistungen erforderlich, die sich entlang von drei „Entscheidungsgrenzen“ realisieren: Ge-schlechtstypik-Grenze, Prestige-Grenze und Anstrengungs-Grenze (Interessen). Es wird angenommen, dass, wenn eine große Differenz zwischen Wunsch und Realisierbarkeit besteht, zuerst der Geschlechtstypik der Vorrang gegeben wird, gefolgt von Prestige- und Interessenge-sichtspunkten. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass, wenn die Kompromisserfordernisse nur ein mittleres Maß annehmen, zuerst Prestigegesichtspunkte greifen, bevor Interesse und Geschlechtstypik zum Tragen kommen. Nur wenn Wunsch und Realisierbarkeit nah beieinander liegen und somit nur geringe Kompromissleistungen notwendig sind, greifen zuerst Interessenas-pekte vor der Prestige- und der Geschlechtstypik-Grenze (vgl. Gottfredson 1981, 558ff). Insofern leistet Gottfredsons Modell „ein genaueres Verständnis, wieso „untypische“ Wahlen auf größere Schwierigkeiten stoßen bzw. warum es so schwierig ist, das Spektrum der Interessen zu erwei-tern. Im Prozess der Berufsorientierung werden nach dieser Theorie die beruflichen Aspirationen über- oder umgeschrieben, nämlich dahingehend, dass sich die Wahrnehmung in Bezug auf die Passung zwischen Berufsbild und Selbstbild verändert“ (Faulstich-Wieland 2014, 40).

Hinsichtlich der Erklärung von geschlechterstereotypen Berufswahlentscheidungen werden aber auch psychologische Ausführungen zum Selbstwirksamkeitskonzept und jene zum Stereotyp Threat herangezogen (vgl. Faulstich-Wieland 2014, 39; Hirschi 2013, 32; Reidl/Schaffer 2009, 101ff). Albert Banduras Selbstwirksamkeitskonzept (1997), in welches auch die lernpsychologi-sche Perspektive155 Eingang gefunden hat, betont die Fähigkeit, davon überzeugt zu sein, selbst gesetzte Ziele zu erreichen. Dabei zeigen empirische Studien, dass sich Mädchen und Burschen gerade in Bezug auf die Fähigkeitszuschreibung unterscheiden. Entsprechend der Stereotype trauen sich Mädchen hinsichtlich mathematischer und naturwissenschaftlicher Kompetenzen weniger zu als Jungen.156 Die Forschungen zum Stereotype Threat-Effekt157 führen diesen

Gedanken weiter und fragen danach, ob sich Vorurteile hinsichtlich unterschiedlicher Fähigkeiten auch in unterschiedlichen Leistungen widerspiegeln. „Die beiden wesentlichsten Ergebnisse besagen, dass Frauen in Situationen mit hohem Stereotype Threat Charakter schlechtere Leistungen erzielen als Männer, während sie unter denselben Bedingungen nur durch einen einzigen zusätzlichen Satz am Testformular gleiche Ergebnisse liefern. Dieser Zusatztext lautet:

„Dieser Text ist erfahrungsgemäß geschlechtergerecht – d.h. Frauen und Männer lösen diese Aufgabe gleich gut“ (Thaler 2006 zit. n. Reidl/Schaffer 2009, 102).

155vgl. dazu Krumboltz et al. 1976

156vgl. dazu zusammenfassend Rustemeyer 2009

157vgl. dazu Lent/Brown 2005, Lent et al. 1994

In Bezug auf geschlechtsspezifische Berufswahlprozesse erscheinen überdies die Ausfüh-rungen von Carol Hagemann-White (1992, 1988) zur Bedeutung der in der Adoleszenz ablaufen-den psychischen und sexuellen Entwicklung relevant. Sie arbeitet heraus, dass Burschen wie auch Mädchen in der Jugendphase dem Wunschbild ihres sozialen Umfelds entsprechen wollen. Sie geht davon aus, dass frauentypische Berufe gewählt werden, „weil Mädchen die spätere Verein-barkeit mit Familie für zwingend halten, weil sie übermäßig von Bewertung und Bestätigung durch das soziale Umfeld abhängig sind, weil ihre starke Beschäftigung mit Sexualität alles Interesse von Schule und Beruf abzieht, weil die Sexualität in einem männlich dominierten Beruf ihnen bedrohlich und unerwünscht erscheint, weil sie im Beruf ein ausreichend weitgestecktes Identifikationsobjekt mit Arbeit suchen, weil sie im Kampf um die Anerkennung der Mutter unmittelbar überzeugt sind, später Zeit und Energie für mütterliche Zuwendung zu benötigen“

(Hagemann-White 1992, 80).

Zum Aspekt der Konstanz des Phänomens „Geschlechtsspezifische Berufswahl“ im Zusammenhang mit psychologischen Erklärungsansätzen betont Driesel-Lange (2011, 76) zwar, dass dieses durch Gottfredsons theoretisches Modell erklärt werden kann,158 allerdings gilt es kritisch anzumerken, dass weder Gottfredson noch die angesprochenen Theorien, die Ursache für geschlechterstereotype Interessen hinterfragen 159 und/oder erklären warum diese trotz massiver gesellschaftlicher Transformationsprozesse auch hinsichtlich Geschlechterbilder, welche sich auch in moderneren Erziehungsstilen widerspiegeln, so stabil bleiben.

Wie Hagemann-White greifen auch Ullrich Beck et al. (1999, 104) den Faktor „Pubertät“

auf. Sie betonen, dass BerufswählerInnen zunächst ein bestimmtes persönliches Anspruchs- und Erwartungsniveau erfüllen müssen, um eine selbständige „persönlichkeitsorientierte“ Wahl treffen zu können. Sie gehen daher davon aus, dass in der Frühadoleszenz die Berufswahl faktisch wenig „ich-gesteuert“ erfolgt. Stattdessen wird diese vor allem durch die soziale Herkunft und den Berufs- und Bildungsmarkt bestimmt, womit soziologische Erklärungsansätze zur Bildungs- und Berufswahl angesprochen wären. Ursula Nissen et al. (2003, 121) unterscheiden in diesem Zusammenhang prinzipiell zwischen struktur- und subjektorientierten Ansätzen.160 Allerdings betonen sie wie auch Hannelore Faulstich-Wieland (2014, 38), dass, gerade in Bezug auf die Situation von jungen Frauen, ein starker Zusammenhang zwischen subjektiven Wegen und strukturellen Bedingungen besteht. Stärker strukturorientierte Ansätze fokussieren vor allem die Bedingungen des Arbeitsmarktes, die lenkend auf die Entscheidungen von (jungen) Männern und Frauen einwirken und knüpfen an funktionale Erklärungen gesellschaftlicher Arbeitsteilung oder Machtdifferenzen an, die sich aus dieser Arbeitsteilung ergeben (vgl. Nissen et al. 2003, 121).

Solche Ansätze thematisieren das Individuum nur bedingt als handelnden Akteur und betonen stattdessen, dass die geschlechtsspezifische Segregation „kein Ausdruck einer außerberuflichen motivierten individuellen Wahl (ist), sondern Folge von Zwängen und Widerständen, denen sich Frauen stellen müssen“ (ebd.). Nissen et al. (ebd., 122ff) zählen dazu die Theorie der statistischen Diskriminierung161 sowie den vielfach diskutierten, auch kritisierten und mittlerweile als überholt

158Ursächlich ist der Umstand, dass sich die Geschlechtsidentität relativ früh herausbildet (zwischen dem 6. und 8.

Lebensjahr) und insofern auch der Ausschluss von geschlechtsuntypischen Berufsoptionen ebenfalls relativ früh erfolgt und dieser Aspekt des Selbstkonzepts daher gleichzeitig änderungsresistenter ist.

159Wie Faulstich-Wieland (2014, 43) in Anlehnung an Brändle/Grundmann (2013) und auch Makarova/Herzog (2013, 185) herausarbeitet, weicht Gottfredson in späteren Arbeiten von der eher sozialkonstruktivistischen Sichtweise ab und vertritt eine biologische Auffassung nach der die Geschlechterdifferenzen natürlich seien.

160vgl. dazu auch Makarova/Herzog 2013, 180

161vgl. dazu Offe/Hinrichs 1984, Baron/Bielby 1986

geltenden Ansatz des „weiblichen Arbeitsvermögens“.162 Ebenfalls darunter subsumiert sind Ausführungen zur Berufswahl im Kontext geschlechtsspezifisch segmentierter Ausbildungs- und Arbeitsmärkte163 sowie jene zum Geschlecht als Statuszuweisung im Berufsbildungssystem.164

All diese struktur-theoretischen Ansätze zur Berufswahl, wie Nissen et al. (ebd., 127) eben-falls betonen, können nicht klären warum junge Frauen selbst nach wie vor und trotz deutlich gestiegener qualifikatorischer Voraussetzungen überwiegend „weibliche“ Berufsfelder und Ausbildungen wählen. Ebenso bleibt offen, warum die Nachfolgeeffekte von diversen Modellver-suchen sowohl von Seiten der Betriebe aber eben auch der jungen Frauen so gering ausgefallen sind. Insofern plädieren Nissen et al. (ebd., 128), vor allem in Anlehnung an Doris Lemmermöhle (1997) aber auch Peter Wahler und Andreas Witzel (1996) dafür, Berufswahlprozesse als

Wechselwirkungsprozesse zwischen subjektiver Handlungsfähigkeit und

gesellschaftlich-strukturellen Bedingungen zu verstehen und interpretieren solche Ansätze dennoch als subjektori-entierte Ansätze, die in der Sozialisation- und Geschlechterforschung entstanden.

Ganz allgemein wird in der Soziologie davon ausgegangen, dass Bildungs- und Berufsent-scheidungen stark von der sozialen Herkunft bzw. den Milieubedingungen beeinflusst werden, genauso wie Maßstäbe und Ziele von Jugendlichen zu großen Teilen aus den Konventionen und Lebensbedingungen der Herkunftsfamilie bzw. des Herkunftsmilieus stammen (vgl. Beck et al.

1999, 94). So erweisen sich Einstellungen von Angehörigen verschiedener Klassen, insbesondere jene zur Schule, zur Schulbildung und der durch die Ausbildung gebotenen Zukunft, zu großen Teilen als Ausdruck des ihrer sozialen Zugehörigkeit entsprechenden Systems implizierter oder expliziter Werte. Pierre Bourdieu (2001, 31ff) bezeichnet dieses Phänomen, dass Familien entsprechend ihrer objektiven Chancen ihre Ambitionen ausrichten, als „Wahl des Schicksals“.

Wenn es zum Beispiel von den klassischen Fächern am Gymnasium heißt: „Das ist nichts für uns.", dann heißt das mehr als "Dazu fehlen uns die Mittel.", da in dieser „Formel“ sowohl eine Unmöglichkeit als auch ein Verbot zum Ausdruck kommt. Die angesprochenen objektiven Bedingungen, welche die Einstellung der Eltern bestimmen, bestimmen auch jene der Kinder und in weiterer Folge ihre gesamte Einstellung gegenüber der Schule. Bourdieu konstatiert daher, dass sich Individuen stets gemäß den Zwängen, denen sie unterworfen sind, entscheiden. Individuell hat es jedoch den Anschein, als ob diese Entscheidungen von einer „Berufung“, dem Interesse oder dem Geschmack abgleitet wurden, was wiederum zur Folge hat, dass der Einfluss der objektiven Bedingungen verschleiert wird.

Auch Beck et al. (1999, 114) halten fest, dass es für jedes sozialstrukturell unterscheidbare Schichtmilieu eine Gruppe von milieukonformen Berufen gibt, die von den Angehörigen dieses Milieus besonders leicht zu ergreifen sind, da sie im Einklang mit den verfügbaren Ausbildungs-ressourcen stehen, während andere Berufe einen relativ höheren Aufwand erforderlich machen würden. Die Ausführungen von Beck et al. verweisen insofern auch auf einen in der aktuellen soziologischen Bildungsforschung dominanten Erklärungsansatz für Bildungswahlentscheidun-gen: den Rational-Choice-Ansatz165 (vgl. Stocké 2012, 423). Solche Ansätze gehen davon aus, dass Bildungsentscheidungen und Ungleichheiten im Bildungserwerb das Resultat instrumenteller rationaler Entscheidungen unter Bedingungen unterschiedlicher Ressourcenknappheit sind. Der prominenteste Vertreter ist Raymond Boudon (1974) und sein Konzept der primären und

162vgl. dazu Beck-Gernsheim 1976, Ostner 1978

163vgl. dazu etwa Sengenberger 1978, Lappe 1981, Kreckl 1983

164vgl. dazu Krüger 1991

165vgl. dazu etwa Blossfeld/Shavit 1993, Esser 1999, Becker 2000, Ditton et al. 2005

sekundären Herkunftseffekte. Während die primären Herkunftseffekte auf Leistungsunterschiede aufgrund der sozialen Herkunft verweisen, beziehen sich die sekundären Herkunftseffekte explizit auf herkunftsabhängige Bildungsentscheidungen. Die Unterschiede im familialen Bildungsverhal-ten sind dabei Resultat einer Bewertung der Bildungsabschlüsse relativ zur eigenen sozialen Herkunft, d.h. ungleiche Bildungsabschlüsse für Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten werden im Verhältnis zur Schichtzugehörigkeit als gleichwertig angesehen (vgl. Kupfer 2010, 4f). Der zentrale Unterschied zu Bourdieu, welcher ebenfalls von einer der sozialen Zugehörig-keit entsprechenden Bildungsaspiration ausgeht (vgl. Bourdieu 2001), ist, dass sich dieser vehement dagegen ausspricht, die Vorstellung einer/eines rational Handelnden (mit seinem theoretischen Ursprung im Konzept des homo economicus) als anthropologischen Ausgangspunkt menschlichen Handelns heranzuziehen (vgl. Bourdieu 1981).

Zu Bourdieus Ausführungen sei noch angemerkt, dass er diese dezidiert nicht als subjektori-entierten Ansatz verstanden wissen will und seine KritikerInnen sogar im Gegenteil die stark strukturalistischen Züge hervorstreichen. Doch Bourdieus Habitus-Feld-Konzept im Sinne eines Handlungs- und Strukturansatzes geht davon aus, dass geschlechtsspezifische Bildungs- und Berufswahlentscheidungen, wie auch Lemmermöhle (1997) ausführt, „(..) in einem komplexen Zusammenhang von gesellschaftlichen Strukturen und Zuweisungsprozessen sowie subjektiven Konstruktionen an das soziale Geschlecht gebunden (sind)“ (ebd., 34). „Das Zusammenwirken objektiver Rahmenbedingungen und subjektiver Verarbeitung bei der Berufsfindung geschieht dabei nicht in einem einmaligen Akt der Wahl, sondern stellt einen Prozess in der alltäglichen Lebensführung und der biographischen Entwicklung der Mädchen und jungen Frauen dar“

(Nissen et al. 2003, 128). Bezüglich solcher Ansätze und mit speziellem Fokus auf geschlechts-spezifische Berufswahlentscheidungen führen Nissen et al. (ebd., 129ff) drei einschlägige AutorInnen bzw. AutorInnen-Gruppen an. Walter Heinz et al. (1985), die junge Frauen als selbständig Handelnde im Berufsfindungsprozess verstehen und dennoch den Berufswunsch nicht als Formulierung eines Wunschberufs interpretieren, sondern als einen Kompromiss „(..) mit dem das Ergebnis gesellschaftlicher Zwänge als subjektives gewolltes Produkt verarbeitet wird“ (ebd.

133f). Während Heinz et al. insofern stärker die Folgen von restriktiven Ausbildungs- und Arbeitsmarktbedingungen thematisieren, rückt Lemmermöhle-Thüsing (1990) die Mädchen als selbständig Handelnde in den Mittelpunkt. „Produktions- und Geschlechterverhältnisse begrenzen zwar die in ihnen handelnden Individuen, sind aber nicht Ergebnis gleichsam natürlicher

Entwicklungen oder neutraler Sachzwänge, sondern historisch geworden sowie interessengebun-den, und deshalb veränderbar und gestaltbar. Im Berufsfindungsprozess sind die Mädchen nicht nur Objekte struktureller Bedingungen und gesellschaftlicher Zuweisungen, sondern auch selbständig Handelnde. Es bedarf immer auch ihrer Zustimmung, wenn einengende und benach-teiligende Bedingungen stabilisiert und reproduziert werden sowie ihres Widerstandes, wenn sie verändert werden sollen“ (ebd., 168). Gertrud Kühnlein und Angela Paul-Kohlkopf (1996) interpretieren, auch in Anlehnung an den psychologischen Ansatz von Hagemann-White (1992), die Berufswahl als symbolische Handlung. „Die Wahl eines Frauenberufs wäre zudem eine Konstruktion zur gelungenen Entwicklung einer weiblichen Identität. Anders als bei der Wahl eines Männerberufs brauchen die Frauen daher bei dieser Entscheidung keinen gesonderten Nachweis ihrer „Weiblichkeit“ zu erbringen“ (Kühnlein/Paul-Kohlkopf 1996, 122).

Hannelore Faulstich-Wieland (2014, 41) führt zur Erklärung von Genderdifferenzen in der Entwicklung von Berufswünschen überdies das Konzept der sozialen Konstruktion von Ge-schlecht (sogenannte Doing-Gender-Ansätze)166 ins Feld. Aus einer solchen Perspektive kann menschliches Handeln immer vor der Folie der Geschlechtszugehörigkeit beurteilt werden. Beim Doing-Gender handelt es sich „(..) dabei sowohl um einen Sozialisations- wie um einen interakti-ven Prozess, denn zum einen eignen sich Kinder und Jugendliche an, was „angemessen“ für ihr Geschlecht ist, zum anderen spielt die Wahrnehmung und Inszenierung der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht in den alltäglichen Interaktionen eine Rolle. (..) (Zwar gibt es) (..) keine Zwangsläufigkeit in der Herstellung geschlechtsdifferenter Berufswahlen, das Durchbrechen der als selbstverständlich angenommenen Ordnungen ist theoretisch zweifellos möglich, praktisch jedoch keineswegs einfach“ (ebd.). Insofern sprechen auch diese Ausführungen, wie auch Heidrun Hoppe et al. (2001, 14) oder Doris Lemmermöhle (2001, 177) herausarbeiten, gegen frauenspezifische Förderprogramme, um die Berufspalette von jungen Frauen zu erweitern, sondern wird sogar eher von einer Verschärfung geschlechtsspezifischer Berufswahlentscheidun-gen ausgeganBerufswahlentscheidun-gen.

Auf Basis dieses aktuellen soziologischen Verständnisses geschlechtsspezifischer Berufs-wahlentscheidungen als Ursache eines komplexen Zusammenspiels von individuellen Hand-lungsmustern und strukturellen Bedingungen zu interpretieren, gepaart mit dem Umstand, dass nur sehr wenige empirische Daten zur Situation von Mädchen und jungen Frauen im Berufsfin-dungsprozess vorliegen und diese überdies nicht die Beharrungstendenzen erklären können (vgl.

Nissen et al. 2003, 119), erscheint das Heranziehen eines praxeologischen Struktur- und Handlungsansatzes im Sinne Bourdieus überaus fruchtbar. Von besonderem Interesse ist dabei auch, dass ein Handlungs- und Strukturansatz, wie er in dieser Arbeit zur Anwendung kommt, nicht alleine auf die Strukturkategorie Geschlecht abzielt, sondern auch auf die soziale Herkunft.

Das erlaubt es, junge Frauen im Kontext ihrer unterschiedlichen sozialen Lagen zu fassen, genauso wie die Wechselwirkung zwischen Struktur und Handlung betont wird.167 Der hohe Stellenwert eines praxelogischen Zugangs ergibt sich wiederum aus dem Umstand, dass „(..) die meisten der vorliegenden Veröffentlichungen zu dieser Thematik, gleich aus welcher For-schungsdisziplin, (..) auf Überlegungen und Hypothesen (beruhen), die wenigsten sind mit empirischen – vor allem aktuellen – Daten aus sozialwissenschaftlichen Untersuchungen untermauert“ (ebd., 135). Und auch Faulstich-Wieland hält 2014 fest: „Es fehlt insgesamt an empirischen Studien, die den komplexen Prozess der Berufsorientierung als Zusammenhang von individuellen Entwicklungen und institutionellen Maßnahmen in umfassender Weise in den Blick nehmen. Deutlich wird aus den bisherigen Studien, dass Jugendliche häufig nur wenige Berufe kennen, nicht genug über berufliche Möglichkeiten wissen und sich wesentlich an gut Bekanntem orientieren“ (Faulstich-Wieland 2014, 42).

166vgl. dazu West/Zimmermann 1991, Faulstich-Wieland 2014, Gildemeister 2009, Wetterer 2009

167siehe dazu im Detail Kapitel 2