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3 METHODISCHER ZUGANG

5.3 Workaholic mit traditionellem Geschlechterbild

5.3.2 Eine berufliche Ausbildung wird favorisiert

In dieser Phase der Umorientierung macht sie ihre Tante, die selbst Frisörin ist und sie in schulischen und beruflichen Dingen immer wieder berät, auf ihre Begabung für den FrisörInnen-Beruf aufmerksam. Sie ist der Meinung, da müsse Ina „etwas daraus machen“. Ina schneidet und färbt sich seit geraumer Zeit die Haare selbst und als Kind habe sie, wie wohl alle Mädchen – so Inas Annahme – ihrer Barbie die Haare geschnitten. So steht bald fest, dass sie trotz ihres ursprünglichen Ekels vor diesem Beruf eine Umschulung zur Stylistin anstrebt. Doch zu Beginn herrscht Ratlosigkeit, wie eine Umschulung ohne die Absolvierung einer regulären Lehre möglich sein soll. Als erwachsene Frau mit einer Reihe von Fixkosten (Miete, Auto usw.) scheint ein normales Lehrverhältnis, gerade im Bereich der StylistInnen, die mit einer der niedrigsten Lehrlingsentschädigungen auskommen müssen, nicht realisierbar. Sie erkundigt sich bei allen möglichen Bildungseinrichtungen, aber niemand kann ihr weiterhelfen. Kurz bevor sie aus Verzweiflung bereit ist, eine Stelle als Aushilfe in einem Frisörsalon anzunehmen, um überhaupt mal in dem Beruf Fuß zu fassen, erfährt sie durch eine Bekannte per Zufall von dem Konzept

„Stiftung“ und dass ihr das Arbeitsmarktservice eventuell weiterhelfen könne. Es ist das erste Mal, dass das AMS als mögliche Anlaufstelle für berufliche Fragen in Erscheinung tritt. Noch am Vormittag ruft sie beim AMS an und plötzlich geht alles sehr schnell, „fast ein wenig zu schnell“.

Denn bereits mittags teilt ihr die Betreuerin mit, eine Stiftung für sie gefunden zu haben. Insofern fehle nur noch ein Betrieb und bekommt den Hinweis, dass sie arbeitslos gemeldet sein müsse.

Ina kündigt, genießt den Sommer und erfährt bei einem Konzertbesuch durch eine Bekannte, die bei ihrem jetzigen Arbeitgeber beschäftigt ist, dass man dort immer auf der Suche nach „älteren“

Leuten bzw. UmsteigerInnen sei. Sie geht schnuppern und „es passt“, ganz ohne unzählige Bewerbungen und Aufnahmetests. Nun, mit 25 Jahren und einer Lehre „im Schnelldurchlauf“, 244 steht sie kurz vor der Abschlussprüfung und kann sich „gar nichts anderes mehr vorstellen“, als Stylistin zu sein. Die Umschulung, so ihr Fazit, hat ihr zu ihrem Traumjob verholfen, der

komplett zu ihr passt. Der Ekel vor Haaren und ungepflegten KundInnen ist verflogen. Und trotz ihrer vielen „Umwege“ bis zum passenden Job bereut sie nichts. Denn die ehrgeizige Ina

liebäugelt bereits mit der Selbständigkeit und da ist, so ihre profunde Einschätzung, eine kaufmännische Ausbildung immer von Vorteil.

sie sich „im Nachhinein (..) schon ein paar Mal gedacht (hat, dass) eine HAK oder irgendwas nicht so blöd“ gewesen wäre. Angesichts des ursprünglichen Wunschberufs der Sachbearbeiterin und der großen Konkurrenz in diesem Feld scheint sie, auch objektiv gesehen, mit dieser

Einschätzung nicht unrecht zu haben. Auch im Kontext Lehre mit Matura betont sie: „Wäre auf jeden Fall eine Option gewesen und hätte ich wahrscheinlich auch gemacht, wenn ich es von Anfang an gewusst hätte.“

Doch trotz dieser prinzipiellen Wertschätzung der Matura wird doch deutlich, dass sie das Konzept der Lehre stärker inkorporiert hat und gerade dem Aspekt der Dualität mehr abgewinnen kann, als einer rein schulischen Ausbildung. „Ich glaube, dass das Thema Lehre trotzdem immer bleibt. (..) Weil einen Beruf lernen find‘ ich super. Also ja, es ist Schule genauso super, aber es ist auch oft so, dass wenn irgendwer eine Schule macht, dass der nachher da steht und sagt, ja was mache ich jetzt überhaupt oder wo fange ich an und wenn ich anfange, was kann ich. Und der im Betrieb sagt genauso, der hat die Schule gemacht, der kann es theoretisch, aber praktisch kannst du nichts anfangen mit ihm. Und wenn ich einen Beruf lerne, dann habe ich von Anfang an immer mit dem zu tun und mach‘ das auch im Betrieb.“ Gleichzeitig schwingt bei der Bewertung der Berufsausbildung auch eine arbeitgeberInnen-orientierte Sichtweise mit, die sicherlich nicht entkoppelt von der beruflichen Tätigkeit des Vaters verstanden werden kann. Dennoch wäre sie, je nach Talenten, bei ihren eigenen Kindern für alle Bildungswege offen: „Wenn wer begabt ist in der Schule, dann kann ich genauso sagen, ja sicher, dann gehst du eben weiter. Ich mein‘, wie es eben passt. Das muss man schau‘n.“ Wenngleich Ina der Matura also einen gewissen Wert beimisst und deren Erwerb prinzipiell erstrebenswert findet, schwingt doch immer eine gewisse Skepsis mit. Der Besuch einer höheren Schule ist daher sicher kein „must-have“, sondern eher eine Option, die unter gewissen Umständen auch passend sein kann. Spannend in diesem Zusammenhang ist auch, dass Ina scheinbar kaum zwischen Allgemeinbildender (AHS) und Berufsbildender höherer Schule (BHS) unterscheidet bzw. auch die Berufsbildenden höheren Schulen nicht mit einem gewissen Praxisbezug in Verbindung bringt – immerhin führen BHS sowohl zur Reifeprüfung wie zu einem Berufsabschluss. Daher liegt die Vermutung nahe, dass sich hier nicht nur eine spezifische Bildungstradition/-haltung widerspiegelt, sondern auch eine gewisse (innerfamiliäre) Systemunkenntnis hinsichtlich der Konzeption von Berufsbildenden höheren Schulen.

Hauptverantwortlich dafür, dass keine nähere Auseinandersetzung mit den schulischen Möglichkeiten trotz der Einwände der Tante stattfand, dürfte dennoch die familiäre Bildungstra-dition sein. Die duale Berufsausbildung wird geschätzt und als fundierte Basis für berufliche Chancen und Erfolge erlebt. Vor allem ermöglicht sie eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt. Der Vater ist ohne Berufsausbildung erfolgreich in sein Berufsfeld eingestiegen und mittlerweile mit seinem gut funktionierenden Familienbetrieb ein erfolgreicher Unternehmer.

Fleiß, Ehrgeiz und praktische Intelligenz scheinen demzufolge insgesamt wichtiger als theoreti-sches und formal anerkanntes Wissen. Der Verankerung der Ausbildung im Betrieb mit dem Fokus auf eine praktische und auf das Unternehmen zugeschnittene Kompetenzentwicklung wird viel abgewonnen. Man verbindet mit der Lehre eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten: Der Betrieb gewinnt Fachkräfte, die entsprechend der vorhandenen Bedürfnisse ausgebildet werden und die Lehrlinge stehen am Ende nicht vor dem Dilemma der Unwissenheit, wie und wo sie eigentlich einsetzbar sind und haben durch ihre praktische Kompetenz bessere Chancen am

Arbeitsmarkt. 245 So hätte sich der Vater auch von seinem Sohn erwartet, dass dieser eine Lehre im väterlichen Betrieb beginnt und so das Geschäft von Grund auf erlernt. Allerdings gelten, wie gerade der Bürobereich zeigt, die proklamierten Vorteile der dualen Berufsausbildung nicht in allen Segmenten des Arbeitsmarktes.

Retrospektiv gesehen kritisiert Ina auf indirekte Weise aber auch ihre starke Fokussierung auf nur eine Option im Sekundar-II-Bereich, in dem sie feststellt nicht ausreichend informiert gewesen zu sein über „die Bandbreite“ an Möglichkeiten. Ohne ihre Eltern explizit dafür verantwortlich machen zu wollen, zeigt sich, dass sie in diesem Kontext doch eine gewisse Vernachlässigung von elterlichen Pflichten verortet. Denn wenn es einmal um ihre eigenen Kinder gehen wird, möchte sie einen anderen Zugang wählen und diese mit umfangreichen Informationen über mögliche Bildungswege versorgen. Eine Bringschuld der Schule sieht sie hingegen nicht. Die Informationslücken im Kontext Bildungs- und Berufsmöglichkeiten ziehen sich durch Inas gesamte Biografie. Dabei zeigen sich nicht nur allgemeine Informationsdefizite in Bezug auf die Bildungswege, sondern auch hinsichtlich möglicher Beratungs-/ Unterstützungs-stellen. Letzteres erweist sich insofern als „problematisch“, da auch die Familie den vorhandenen Informationslücken nur bedingt entgegenwirkt oder entgegenwirken kann. Zwar wird deutlich, dass prinzipiell mit den Eltern und auch der Tante über solche Themen gesprochen wird, diese aber auch auf „Bekanntes“ zurückgreifen und keinen breiteren Suchprozess anstoßen. „Lediglich“

die starke Empfehlung, das neunte Schuljahr in der Polytechnischen Schule zu absolvieren, könnte als solch ein Anstoß interpretiert werden. Allerdings verweisen die Polytechnischen Schulen sowohl im Alltagsverständnis wie auch in struktureller Hinsicht vor allem auf die Lehre und zeigen demgemäß vor allem die vielen Möglichkeiten in diesem Segment (über 250

Lehrberufe) auf. Doch auch im Poly, in dem scheinbar andere Problematiken den Schulalltag beherrschen, kommt es zu keiner umfassenden Information. Zwar dürfte ihr ans Herz gelegt worden sein, sich nicht von vornherein auf den Büroberuf zu fixieren und sich auch andere Berufe anzuschauen – nur so scheint es erklärbar, dass sie kurzfristig überhaupt Stylistin und Kosmetikerin ins Auge fasste. Es bleibt jedoch sowohl die Fokussierung auf „klassische Frauenberufe“ bestehen wie auch eine richtige Reflexion der eigenen Interessen und Talente ausbleibt. Im Gespräch wird beispielsweise klar, dass ihre seit der Kindheit bestehende starke Verbundenheit zu Pferden und die sicherlich vorhandenen Kompetenzen durch viele Stunden im Stall und beim Reittraining im Berufsorientierungsprozess zu keinem Zeitpunkt thematisiert und/oder berücksichtigt wurden. Die Möglichkeit, in diese Richtung eine Ausbildung zu machen, wurde weder von ihren Eltern, anderen Verwandten oder ihr selbst, noch im schulischen Kontext aufgegriffen. Dass nie in Betracht gezogen wurde, diese Leidenschaft zum Beruf zu machen, kann sich Ina im Nachhinein eigentlich nur durch Unwissenheit erklären: „Aber vielleicht auch deswegen, weil ich zu wenig darüber gewusst habe, was es eigentlich in diesem Bereich gibt.

Also, was ich jetzt im Nachhinein vielleicht anders machen würde, dass ich überhaupt in die Pferdewirtschaftsschule gehe (..). Das hätte mich auf jeden Fall interessiert.“ Obwohl Ina betont, dass Sekretärin schon als Kind ihr Traumberuf war, wird doch auch klar, dass eine „echte“

berufliche Orientierung, auch im Sinne einer Reflexion der eigenen Stärken und Schwächen

245Faktisch lag die Arbeitslosenquote bei Personen, deren höchste abgeschlossene Ausbildung eine Lehre ist, 2014 bei 4,9% und entspricht somit in etwa jener der BHS (4,6%) und doch deutlich über jener von BMS- (3,5%) sowie Uni- bzw. FachhochschulabsolventInnen (3,9%). Gleichzeitig lag sie auch merklich unter jener der Pflichtschul- (12,2%) wie auch AHS-AbsolventInnen (6,6%). Quelle: Online-Datenbank der Statistik Austria (Arbeitsmarkt/Erwerbsstatus/

Arbeitsmarktstatistiken 2014: Detailergebnisse A Wohnbevölkerung und B Bildung)

sowie der eigenen Interessen, ausgeblieben ist und stattdessen auf bekannte bzw. die beliebtesten Optionen für junge Frauen zurückgegriffen wurde.

Wie im Fall von Martina246 begünstigt das Zusammenspiel von objektiven Strukturen und individuellen Handlungs- und Denkschemata einen stark geschlechterstereotypen Berufsorientie-rungsprozess. In Inas Familie herrscht ein traditionell-konservatives Geschlechterbild vor, welches auch von Ina im Grunde antizipiert wird. Außerdem identifiziert sie sich stark mit geschlechtsspezifischen Tätigkeiten; so sehr, dass andere Berufe abseits des „frauentypischen Mainstreams“ oder männlich konnotierte Berufe auch nicht als Gedankenexperiment vorkommen.

Die Polytechnische Schule, die aufgrund der SchülerInnen-Zusammensetzung strukturell überfordert scheint, kann ihrem Kernauftrag – fundierte berufliche Orientierung aus einer arbeitsmarktpolitischen und pädagogischen Perspektive – nur mehr begrenzt nachkommen. Es wird zwar versucht, die SchülerInnen dazu zu bewegen, sich mehrere Berufe anzuschauen, aber eine intensivere Form der Berufsorientierung im Sinne einer Persönlichkeitsentwicklung und die Öffnung der Berufspalette werden nicht realisiert. So bewegt man sich auch dort auf geschlechts-spezifischen Pfaden. In der Schule selbst fällt sie nicht als „Problemfall“ auf: Sie hat einen konkreten Berufswunsch, der „realistisch“ ist. Insofern wird kein Handlungsbedarf sichtbar, auch nicht aus der Perspektive des familiären Umfeldes. Ihre Umschulung wird überdies nur notwen-dig, weil ihre beruflichen Ambitionen von ihren ArbeitgeberInnen nie ernst genommen wurden und nicht aufgrund eines Mismatches zwischen Interessen und Fähigkeiten und dem Beruf an sich.

Als für Ina klar wird, dass sie sich beruflich verändern möchte, werden wieder deutliche Informationslücken sichtbar, vor allem hinsichtlich der Frage, an wen bzw. welche Stelle man sich bezüglich Bildungsfragen und Berufswechsel wenden kann. Es ist dem Zufall zu verdanken, dass sie sich schließlich beim AMS wiederfindet und eine „zweite Chance“ erhält. Doch auch in dieser Phase führen fehlende Informationen zu einer, aus individueller Sicht, vergebenen attraktiven Möglichkeit. Denn die „Lehre mit Matura“ ist ihr auch damals, trotz einer bereits absolvierten kaufmännischen Lehre, noch kein Begriff und in der aktuellen Situation, so ihre Einschätzung, ist es zu spät: „Nein, das ist dann zu schwer. Da müsste ich dann noch die Abendschule machen und das wäre dann schon wieder zu viel, also momentan zumindest.“ Die insgesamt vorhandenen Informationslücken in Bezug auf das Bildungssystem bedeuten aber auch, dass aus einer Bourdieu’schen Sichtweise die Voraussetzungen für Entscheidungen im Sinne eines Rational-Choice-Ansatzes zu keinem Zeitpunkt gegeben waren.

246siehe Kapitel 5.2