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Neuere Arbeiten zur politischen Sozialisation beschäftigen sich vor allem mit den Folgen der Individualisierung für die politische Sozialisation.

Heitmeyer verweist darauf, dass sich politische Sozialisation heute „in der Auseinanderset-zung mit gesellschaftlich abgesicherten, ambivalenten Individualisierungsschüben, mit der zugrunde liegenden ökonomischen Risikoproduktion für die soziale und ökonomische Um-welt und mit dem Bewältigungsverlust von Problemen der institutionalisierten Politik“71 voll-zieht. Die derzeitige politische Situation charakterisiert Heitmeyer durch eine Paradoxie, die zum einen dadurch gekennzeichnet ist, dass die zentralen Problemzonen immer größer wer-den und zum anderen dadurch, dass die politischen Gruppen, die diese Entwicklung kritisch begleiten, immer ruhiger werden. Diese Paradoxie versucht er mit Hilfe der ökonomischen Risikoproduktion, dem Gestaltwandel des Politischen und der politischen Ambivalenz von Individualisierungsprozessen zu erklären. Dass die Risikoproduktion im Beck’schen Sinne heute Bestandteil der Produktionsweise ist und nicht auf Ablehnung stößt, lässt sich nach Heitmeyer anhand von drei Merkmalen erklären. Hier ist zunächst die Ambivalenz der Prob-lemlagen zu nennen, d.h. die untrennbare Verkoppelung von Vor- und Nachteilen. So bringt beispielsweise die Gentechnologie für die Medizin durchaus Vorteile, auf der anderen Seite birgt sie aber auch unabsehbare Gefahren. Ein weiteres Element ist die so genannte Zeit- und Kausaldestruktion, also das Auseinanderfallen von Verursacherzeitpunkt und dem

70 Hopf, C. (1997): Familie, Persönlichkeit, Politik. Eine Einführung in die politische Sozialisation, Seite 130

71 Heitmeyer (1991): Politische Sozialisation und Individualisierung, Seite 15

barwerden der Folgen und schließlich die so genannte „Entmündigung der Sinne“, worunter Beck den Verfall der Wirkungsweise traditioneller Sensoren für politisches Handeln versteht.

Ein Beispiel hierfür ist der Reaktorunfall in Tschernobyl, dessen Folgen im Grunde erst jetzt immer deutlicher werden. Heitmeyer geht davon aus, dass diese Elemente weitreichende Auswirkungen auf die subjektive Verarbeitung von Problemlagen haben.

Unter dem Gestaltwandel der Politik versteht Heitmeyer die Entgrenzung von Politik, die sei-ner Meinung nach von der strukturellen Schwächung institutionalisierter Politik im doppelten Sinne ablenken soll. „Einerseits erweitern sich die Handlungsspielräume außerhalb des politi-schen Systems, es entstehen Ansprüche auf politische Partizipation in den Formen einer neu-en politischneu-en Kultur (Bürgerinitiativneu-en usw.); auf der anderneu-en Seite wird die technisch-ökonomische Entwicklung mit ihrer gestiegenen Reichweite in einer neuen Weise politisch und gewinnt sogar den Status einer quasi-politischen Entscheidungsinstanz, jenseits von Par-lament und Administration die zu ausführenden Organen werden. Kurz gesagt: „Das Politi-sche wird unpolitisch und das UnpolitiPoliti-sche politisch“ (Beck 1986, 305), bei gleich bleibenden Fassaden. Diese werden unter anderem durch den ständigen Rekurs auf kollektiv geteilte Werte wie Gerechtigkeit etc. aufrechterhalten.“72 Diese Diskrepanz zwischen Durchkapitali-sierung und der Propagierung gemeinsamer Werte wird zumindest ansatzweise von Jugendli-chen, die noch nicht in dieses System integriert sind, erkannt.

Als letzten Punkt zur Erklärung der politischen Paradoxie verweist Heitmeyer auf die politi-sche Ambivalenz von Individualisierungsprozessen, wobei unter Individualisierungsprozessen in diesem Zusammenhang zu verstehen ist, dass der Einzelne einerseits immer mehr aus Bin-dungen und Versorgungsbezügen herausgelöst wird und zur Sicherung seiner Existenz auf sich selbst und sein persönliches Arbeitsmarktschicksal angewiesen ist, er aber andererseits zur Sicherung seiner privaten Existenz von Verhältnissen und Regulierungen abhängig ist, die sich seinem Zugriff entziehen.

Für die politische Sozialisation Jugendlicher bedeutet die hier beschriebene Situation, dass sich zwar die individuellen Handlungsspielräume durch Wert- und Lebensstilpluralisierun-gen erhöhen, sich aber auf der anderen Seite die Chancen Interessen zu bündeln, verringern.

Denn gesellschaftliche Probleme werden immer weniger als solche erkannt, „weil im Zuge der Individualisierung die Menschen sich selbst als Akteure und Gestalter ihres Lebensweges begreifen müssen. Daher werden auch gesellschaftliche Probleme immer deutlicher als Teil

72 Heitmeyer (1991): Politische Sozialisation und Individualisierung, Weinheim, Seite 19

der eigenen Entscheidungsmöglichkeiten aber auch der Entscheidungszwänge gedeutet.“73 Darüber hinaus führt der wachsende Konkurrenzdruck zu einer Individualisierung unter Glei-chen, d.h. zur Individualisierung in Beziehungs- und Verhaltensfeldern, die eigentlich durch Gemeinsamkeiten wie beispielsweise gleiche Ausbildung oder gleiche Erfahrungen gekenn-zeichnet sind.

Ein weiteres Problem für politische Gruppen aber auch politisches Engagement im Allgemei-nen besteht in der zur Verfügung stehenden Zeit. Die heute existierende Zeitflexibilität sug-geriert zwar ein Mehr an frei einteilbarer Zeit, doch tatsächlich nimmt die kollektiv geteilte Zeit ab. Für Jugendliche hat dies zur Folge, dass für ihre Probleme, Nöte und Wünsche immer weniger Zeit bleibt und dies bei einer gleichzeitigen Auflösung traditioneller Rollenbilder, also in einer Situation, in der die jeweiligen Handlungsweisen eigentlich kommunikativ aus-gehandelt werden müssten, doch gerade dafür fehlt die Zeit. Über diese Zeiterfahrung wird eine modernitätsabgestützte Entgesellschaftung vorangetrieben, die die Entsolidarisierung auf der Wert- und Lebensstilebene auch auf der Zeitverfügungsebene fortsetzt und die kollektiven öffentlichen Artikulationsmöglichkeiten weiter untergräbt. Zeitflexibilität als gesellschaftli-cher Zwang entpuppt sich als politische Destruktion (...).“74

Eine ähnlich ambivalente Rolle spielt die Enttraditionalisierung für politisches Handeln.

Einerseits bietet sie die Chance, aus loyalitätsverpflichtenden Sozialbindungen auszusteigen, auf der anderen Seite hat sie jedoch auch zur Folge, dass der Einzelne zum Träger immer mehr Entscheidungen wird und so die Kriterien für die höhere Begründungspflicht immer subjektiver werden. Wenn es aber immer beliebiger wird, „was ich tue, dann kehrt zum einen Sinnlosigkeitsempfinden und zum anderen Verständigungsverlust ein. Beides bedeutet für kollektiv politisches Handeln gleichermaßen ein Desaster.“75

Als Folge dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen sieht Heitmeyer drei extreme Ori-entierungsmuster, in denen sich in unterschiedlicher Weise die Bedingungen von Risikopro-duktion, Individualisierungsprozessen und den Veränderungen von Politik niederschlagen.

Zum einen fundamentalistische Orientierungen, „mit denen gegen die Kontingenzprobleme anzukämpfen versucht wird durch die Absolutsetzung von Werten und Weltbildentwürfen.

Darin liegt auch eine spezifische komplexitätsreduzierende Flucht vor der aus der Endtraditi-onalisierung entspringenden hohen Begründungspflichtigkeit. Die Kompromisslosigkeit lässt

73 Heitmeyer (1991): Politische Sozialisation und Individualisierung, Weinheim, Seite 25

74 Heitmeyer (1991): Politische Sozialisation und Individualisierung, Weinheim, Seite 24

75 Heitmeyer (1991): Politische Sozialisation und Individualisierung, Weinheim, Seite 24

diese in Konflikt geraten mit ökonomisch motivierten Mobilitäts- und Flexibilitätsanforde-rungen; sie sind dysfunktional im politischen und gesellschaftlichen Getriebe und werden entsprechend stigmatisiert.“76 Vertreter dieser Orientierung lassen sich beispielsweise bei den Autonomen finden.

Während bei fundamentalistischen Orientierungen die Absolutsetzung von Werten und Welt-bildern in einer gewissen Konsistenz stattfindet, ist bei den rechtsextremistischen Orientie-rungen eher Inkonsistenz vorzufinden, d.h. dass die jeweiligen Probleme immer wieder um-gedeutet werden in eine Totalitätsperspektive, um sich dadurch leichter Klarheit in unüber-sichtlicher Bedrängnis zu verschaffen.

Als letzte Orientierung nennt Heitmeyer machiavellistische Orientierungen, die sich da-durch auszeichnen, dass sie sich funktional mit Kontingenzproblemen auseinandersetzen und sie strategisch nutzen, indem sie die Entwertung der Werte erkannt haben und sie jeweils so wenden, dass individueller Machtzuwachs erreicht wird.

Betrachtet man die derzeitige Situation bezüglich politischer Partizipation, so zeigt sich, dass zum einen eine Entfernung vom konventionellen politischen Verhalten zunimmt, zum ande-ren aber auch eine Skepsis hinsichtlich unkonventioneller Formen besteht.

„Vor dem Hintergrund der Bedeutungsentwicklung des Selbst erweist sich das repräsentativ-korporatistische Partizipationsmodell von Politik als Stellvertreterpolitik nicht als funktional, weil es nicht ausreichend problemspezifisch zugeschnitten, zu langsam und zu frustrationsin-tensiv angelegt ist. Diese Frustrationsinfrustrationsin-tensivität ist für jene schwer zu ertragen, die einerseits ihre individualisierte Lebensplanung auf ein „hier, jetzt, intensiv, sofort“ angelegt haben und andererseits eine hohe Verantwortungslast für das Gelingen des eigenen Lebenslaufes aufer-legt bekommen.“77 Die unkonventionellen Formen andererseits werden bei institutioneller Gegenmacht sowie institutionell geprägten und komplex verzweigten politischen Entschei-dungsstrukturen als wenig erfolgreich angenommen, obwohl sie dem Individualisierungsmo-dus sehr entgegen kommen. Heitmeyer geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass stabi-les kollektives Handeln immer mehr zum Sonderfall wird.

2.3 Neue soziale Bewegungen

2.3.1 Definition

76 Heitmeyer (1991): Politische Sozialisation und Individualisierung, Weinheim, Seite 29

77 Heitmeyer (1991): Politische Sozialisation und Individualisierung, Weinheim, Seite 30

O. Rammstedt definiert soziale Bewegungen beispielsweise wie folgt: „Unter sozialer Bewe-gung soll ein Prozess des Protestes gegen bestehende soziale Verhältnisse verstanden wer-den, ein Prozess, der bewusst getragen wird von einer an Mitgliedern wachsenden Gruppie-rung, die nicht formal organisiert zu sein braucht.“78

Ähnlich liest sich auch die Definition Joachim Raschkes, allerdings legt er mehr Wert darauf, dass eine genaue Abgrenzung in Bezug auf die besondere Struktur der sozialen Gruppe, die die Bewegung bildet als auch in Bezug auf die verfolgten Ziele stattfindet. Dementsprechend definiert er soziale Bewegungen als einen kollektiven Akteur, „der mit einer gewissen Konti-nuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifikation mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgt, grundlegenden sozia-len Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen.“79

Diese Definition enthält im Grunde alle wichtigen Merkmale sozialer Bewegungen: Die Mo-bilisierung ist nicht nur ein wichtiges Merkmal, sondern vielmehr eine Existenzbedingung für soziale Bewegungen, da die Grundlage sozialer Bewegungen nicht durch Institutionalisie-rung gesichert ist. Eng damit verbunden ist die FordeInstitutionalisie-rung nach einer gewissen Kontinuität, denn nur diese ermöglicht es sozialen Bewegungen, sich von vorübergehenden Trends zu unterscheiden, darüber hinaus sind kontinuierliche Aktivitäten der einzige Hinweis darauf, ob eine Bewegung noch existiert.

Darüber hinaus ist die hohe symbolische Integration ein wichtiges Merkmal und im Grunde auch eine Voraussetzung für das Bestehen einer sozialen Bewegung. Sie findet in einem star-ken Wir-Gefühl, sowie in Kleidung, Sprache und Umgangsformen ihren Ausdruck. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt sich durch die Unterscheidung zwischen denen, die dafür sind und denen, die dagegen sind.

Ferner sind soziale Bewegungen durch eine spezifische Organisationsform gekennzeichnet.

Im Gegensatz zur Organisation weisen soziale Bewegungen nur eine geringe Ausdifferen-zierung und Festschreibung von Rollen auf und sind auch nicht durch eine bestimmte Or-ganisationsform definiert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass soziale Bewegungen durch Nicht-Organisation gekennzeichnet sind. „Soziale Bewegungen existieren in der Regel nicht ohne Organisation, Organisation ist aber nicht das Entscheidende in der Bewegung. Sie vermittelt unter anderem Kontinuität, Koordination, auch Initiative, aber ohne die spontane und

78 Ottheim Rammstedt (1978): Soziale Bewegungen, Frankfurt, Seite 130

79 Raschke, Joachim (1988): Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss, Frankfurt/ New York, Seite 77

gelmäßige Aktion der Aktiven außerhalb der Organisation wäre sie wenig - und jedenfalls keine soziale Bewegung. Das besondere der sozialen Bewegung liegt gerade in der Dialektik zwischen den (Bewegungs-) Organisationen und den fluiden Teilen der Bewegung.“80