• Keine Ergebnisse gefunden

Einen weiteren Strang innerhalb der politischen Sozialisationsforschung aber auch innerhalb der Partizipationsforschung bilden Arbeiten, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Mo-ralität und politischem Bewusstsein beschäftigen. MoMo-ralität wird hier im Sinne der kogniti-ven Entwicklungstheorie als die Art und Weise umschrieben, wie Regeln, Normen, Werte und Prinzipien als Kriterien zur Lösung interindividueller Interessenkonflikte perzipiert und an-gewandt werden.

Ijzendoorn66 versucht, in seiner Untersuchung Moralität und politisches Bewusstsein die zent-ralen Begriffe der kognitiven Entwicklungstheorie, Kognition und Moralität auf das Phäno-men des politischen Bewusstseins zu beziehen, um zu sehen, inwieweit diese Theorie eine Erklärung des politischen Bewusstseins in seinen unterschiedlichen Ausprägungen liefern kann. Er geht davon aus, dass das politische Bewusstsein auf psychischer Ebene vor allem durch das moralische Niveau bestimmt wird und bezieht sich im Wesentlichen auf das Stu-fenmodell zur moralischen Entwicklung von Kohlberg. Dieser hat in Anlehnung an Piaget ein dreistufiges Entwicklungsmodel entworfen.

Auf dem präkonventionellem Niveau heißt richtig handeln für gewöhnlich die Regeln zu befolgen. Ob etwas gut oder schlecht ist, wird nicht im Hinblick auf die Erwartungen und das Wohlergehen anderer beurteilt. Das Handeln orientiert sich auf dieser Stufe an Bestrafung und Gehorsam.

Auf dem konventionellen Niveau bedeutet richtiges Handeln das Befolgen und Aufrechter-halten der Regeln und Erwartungen der Gesellschaft als Ganzes oder Konformität mit den Erwartungen einer kleineren Gruppe. Es bedeutet jedoch mehr als nur Gehorsam, sondern es impliziert auch die innere Motivation, die Regeln zu befolgen. Die Motive für gerechtes Han-deln umfassen den Wunsch nach Anerkennung und die Bejahung der allgemeinen sozialen Ansichten, Loyalität zu Personen und Gruppen sowie das Wohlergehen Anderer und der Ge-sellschaft. Handlungen werden aus der Perspektive eines Mitglieds der Gesellschaft oder einer kleinen Gruppe als gut und gerecht definiert. Diese Perspektive wird mit Anderen geteilt und individuelle oder egoistische Vorstellungen werden der gemeinsamen Vorstellung unterge-ordnet.

66 Ijzendoorn (1980) : Moralität und politisches Bewusstsein. Eine Untersuchung zur politischen Sozialisation, Weinheim

Auf der postkonventionellen Stufe wird richtiges Handeln durch generelle und universelle Rechte, Werte oder Prinzipien definiert, die die Gesellschaft und das Individuum aufrechter-halten sollen. Die Motive für gerechtes Handeln sind durch die Idee definiert, dass das Leben in einer Gesellschaft ein generalisiertes Engagement für die Rechte der Mitmenschen impli-ziert, oder sie sind durch ein Prinzip definiert, von dem man annimmt, dass es jede moralische Person als rational ansehen würde. Die soziale Perspektive hat auf dieser Stufe Priorität vor der Gesellschaft. Es ist die Perspektive eines rationalen Individuums, das die Werte und Prin-zipien mit Vorrang vor der Gesellschaft definiert oder sie als Grundlage für eine gerechte Ge-sellschaft bestimmt und sich auf dieser Basis engagiert.

Kohlberg betrachtet die Möglichkeit zur Rollenübernahme als eine wichtige Determinante für die Entwicklung der Moral. Er hat beweisen können, dass Kinder, die mehr im Mittelpunkt stehen, im Allgemeinen moralisch weiter entwickelt sind als isolierte Kinder. Auch hat er gezeigt, dass in demokratisch strukturierten Familien, in denen die Erziehungsmethode der Induktion benutzt wird, die moralische Entwicklung der Kinder mehr stimuliert wird als in Familien mit einer autoritären Struktur, in denen die Gelegenheit zur Übernahme mehrerer Rollen äußerst gering ist.

Betrachtet man den Zusammenhang von Moralität und Verhalten, so zeigt sich, dass Affekti-vität auf den niedrigeren Stufen eine größere Rolle spielt als auf den hohen, denn die genuin moralischen Elemente einer Konfliktsituation kristallisieren sich erst im Verlauf der morali-schen Entwicklung als einzig relevante Entscheidungsmomente heraus. Auf höheren Stufen wird immer mehr von affektiven Momenten der Situation abstrahiert. Grundsätzlich kann man sagen, dass auf den höheren Stufen immer mehr die wesentlichen moralischen Elemente aus einer Konfliktsituation herauskristallisiert werden, über die mit immer prinzipielleren, d.h.

abstrakteren und situationsunabhängigen Regeln geurteilt wird.

Das moralische Urteilen bildet einen entscheidenden Bewertungsmaßstab für die politischen Fakten, aber die Perzeption der Fakten als solche kann auch durch andere Persönlichkeits-merkmale, wie kognitive Fähigkeiten, durch Lebenserfahrung und Ausbildungsniveau und durch die momentane persönliche Lebenssituation und gesellschaftliche Position beeinflusst werden. Demnach ist das Niveau des moralischen Bewusstseins keine ausreichende Be-dingung für das Niveau des politischen Bewusstseins.

Ein wichtiges Persönlichkeitsmerkmal in Bezug auf politisches Urteilen könnte beispielswei-se die Aufgeschlosbeispielswei-senheit für neue Informationen beispielswei-sein, die nicht mit der bisherigen Überzeu-gung übereinstimmen. Die Aufgeschlossenheit für neue Informationen und die kreative

Ver-arbeitung von Problemen, für die man keine fertigen Lösungsstrategien hat, wird aus Sicht der kognitiven Entwicklungstheorie als Teil der kognitiven Struktur betrachtet, die Einfluss auf die politischen Urteile einer Person hat. So impliziert beispielsweise die formale Operation unter anderem die Fähigkeit, mit mehr als zwei Variablen gleichzeitig umgehen zu können.

Dies lässt sich am Beispiel der Nutzung der Atomenergie verdeutlichen, denn hier sind meh-rere Variablen im Spiel: die Energieversorgung; das Atommüllproblem; Unfallrisiken; alter-native Energiequellen und ökonomische Interessengruppen etc. Ein Mensch mit beschränkten kognitiven Fähigkeiten wird aus der Liste zwei Variablen auswählen, die ihn emotional am meisten ansprechen und diese in die politische Argumentation eingehen lassen. Er kommt dann vermutlich zu einer anderen Schlussfolgerung als jemand, der sich auf der gleichen mo-ralischen Stufe befindet, aber über mehr kognitive Fähigkeiten verfügt und alle relevanten Variablen betrachten kann. Die Fähigkeit, relevante Variablen auf hypothetische Weise vari-ieren zu lassen und keine von ihnen als feste ewige Wahrheit zu betrachten, scheint überhaupt eine Bedingung für die Relativierung der bestehenden Verhältnisse zu sein.

Ein weiteres Merkmal könnte die emotionale Distanz zum herrschenden gesellschaftlichen Legitimationssystem sein, als Resultat von Erfahrungsprozessen in der Gesellschaft und ihren Institutionen. Die Distanz wird als Ergebnis einer heftigen Ablösungs- und Identitätskrise in der Adoleszenz betrachtet. Eine solche Krise impliziert meist eine Relativierung der eigenen Existenz und deren gesellschaftlichen Kontext. Diese Relativierung fußt nicht in erster Linie auf rationalen Überlegungen, sondern auf emotionalen Problemen, die in einem verlängerten Moratorium aus der Ablösung von der elterlichen Autorität und aus den Schwierigkeiten, eine selbstständige Bestimmung der eigenen Stellung in der Gesellschaft zu erreichen, entstehen.

Die Distanz zu den gesellschaftlichen Institutionen, als Folge einer heftigen Adoleszenzkrise, muss nicht als Voraussetzung für kritisches politisches Bewusstsein per sé betrachtet werden, doch es macht einen Unterschied, ob man die Gesellschaft um Legitimierung einer Maßnah-me aus einer distanzierten Position befragt oder ob man in einem quasi-solidarischen Verhält-nis zur Gesellschaft steht und nur in offensichtlichen Zweifelsfällen die Frage der Legitimie-rung stellt. Zudem ist davon auszugehen, dass die distanzierte Person aufgeschlossener für kritische Informationen ist.

Ausführlich mit dem Zusammenhang zwischen der Adoleszenzkrise und politischem Pro-testpotential haben sich Döbert und Nummer-Winkler67 beschäftigt. Sie postulieren einen Zusammenhang von politischem Protestpotential und Heftigkeit der Adoleszenzkrise. „Sie

67 Döbert/Nummer-Winkler (1985) in: Hopf, C. (1997): Familie, Persönlichkeit, Politik. Eine Einführung in die politische Sozialisation

folgen psychoanalytischen Überlegungen, dass in der Adoleszenz nicht nur eine Weiterent-wicklung kognitiver Schemata erfolge, sondern dass auch Veränderungen in der affektiven Dimension möglich seien. Dies ist für die politische Sozialisation deshalb wichtig, weil die in der Kindheit aufgebaute Basisloyalität gegenüber dem politischen System dadurch gelockert werden kann und alternative politische Orientierungen entstehen können.“68 Die Autoren ge-hen von der These aus, dass die Heftigkeit der Adoleszenzkrise das Niveau des moraliscge-hen Urteilsvermögens bestimmt und dass dieses wiederum Einfluss auf die inhaltlichen Wertori-entierungen hat. Bei einer entsprechenden Untersuchung zeigte sich jedoch nur bei einer klei-nen Gruppe ein Zusammenhang zwischen der präkonventionellen Stufe des moralischen Ur-teils und einer heftigen Adoleszenzkrise, so dass die Vermutung über die Adoleszenzkrise als Promoter des Übergangs zur Stufe postkonventioneller Moral widerlegt wurde.

Im Hinblick auf moralisches Urteilen und Wertorientierungen zeigte die Studie, dass die Per-sonen auf dem postkonventionellen Niveau eher die Widersprüche im gesellschaftlichen Sys-tem wahrnehmen. Außerdem zeigen sie stärker als Konventionelle eine allgemeine Bereit-schaft zu gesellBereit-schaftlichen Reformen und betonen stärker kontemplativ-ästhetische Lebens-werte.

„Allerdings zeigt sich in der vergleichenden, bivariaten Betrachtung, dass der Einfluss der Adoleszenzkrise auf einen Teil der gesellschaftlichen Wertorientierungen stärker ist als der Einfluss des jeweiligen Niveaus des moralischen Urteils (Döbert & Nummer-Winkler 1975, 162ff.). Die Autoren (...) vermuten, dass der Adoleszenzkrisenverlauf (...) vor allem solche Einstellungen tangiert, die sich auf die allgemeine Loyalität gegenüber konkreten gesell-schaftlichen Institutionen beziehen. Insgesamt ergibt sich demnach, dass die Adoleszenzkrise sich differentiell auswirkt: sie wirkt teilweise auf das Niveau des moralischen Urteils und darüber vermittelt auf Wertorientierungen; daneben weisen die Autoren direkte Effekte der Adoleszenzkrise auf die Einstellung zu Institutionen/einzelnen Rollen nach.“69 Allerdings hat nur eine bestimmte Krisenverlaufsform Einfluss auf die Loyalität gegenüber gesellschaftli-chen Institutionen, „nämlich eine heftige innerliche Krise (Identitätskrise) bei männligesellschaftli-chen Befragten führt zum Entzug von Loyalität gegenüber Institutionen. Die beiden übrigen Kri-senverläufe – heftige äußerliche Krise (Ablösungskrise) bei männlichen Jugendlichen und heftige innere und äußere Krise bei weiblichen Befragten sind dagegen mit ausgesprochen

68 Döbert/Nummer-Winkler (1985) zitiert nach: Hopf, C. (1997): Familie, Persönlichkeit, Politik. Eine Einfüh-rung in die politische Sozialisation, Seite 122

69 Hopf, C. (1997): Familie, Persönlichkeit, Politik. Eine Einführung in die politische Sozialisation, Seite 126

unkritischen, affirmativen Einstellungen gegenüber Institutionen und gesellschaftlichen Orga-nisationsprinzipien verbunden.“

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es zwischen dem Niveau moralischen Urteilens und gesellschaftskritischen oder affirmativen gesellschaftspolitischen Einstellungen einen Zusammenhang gibt. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass „das höchste Niveau mora-lischen Urteilens stets mit gesellschaftskritischen, die Diskrepanzen zwischen Norm und Wirklichkeit voll realisierenden und auf gesellschaftliche Reformen drängenden Positionen verbunden ist.“70 Wohingegen sich Personen auf dem konventionellen Niveau am Status quo orientieren.