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Ort und Umstände des Schreibens 1

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 60-107)

Am 24. August 1940 wurden in der „Gazeta Żydowska“52 [Jüdischen Zeitung]

die genauen Informationen zu den festgelegten Ghettogrenzen bekannt gegeben.

Vier Tage später publiziert dieselbe Zeitung bereits Ergänzungen und Korrek-turen dazu. Am 14. Oktober erscheint im „Nowy Kurier Warszawski“ [Neuer Warschauer Kurier – ein von den Deutschen herausgegebenes polnischsprachi-ges Propagandablatt], der offizielle Text der Verordnung Gouverneur Fischers zur Eröffnung eines deutschen Bezirks in Warschau sowie eines Ghettos für die jüdische Bevölkerung. Am nächsten Tag veröffentlicht der „Nowy Kurier Wars-zawski“ einen Stadtplan von Warschau mit eingezeichneten Ghettogrenzen. Bis der jüdische Bezirk geschlossen wird, d.h. bis zum 15. November 1940, werden seine Grenzen noch mehrmals anders gezogen. Am 14. November 1940 publi-ziert die Propagandazeitung einen neuen, detaillierten Plan des Ghettos, seiner Eingänge und Straßenbahnlinien. Doch auch dieser Plan sollte in Kürze nicht mehr aktuell sein.

Indessen notiert Adam Czerniaków bereits am 10. April 1940: „An über zehn Stellen hat die Gemeinde mit dem Bau von Mauern begonnen“ (S. 60). Der Bau der Mauern, dessen Kosten die Juden selbst tragen müssen, wird von da an zur Hauptbeschäftigung für die Maurertrupps des Ghettos. Am 22. November 1940 bemerkt Mary Berg: „Die roten Backsteinmauern, die die Straßen des Ghettos schließen, sind sehr gewachsen.“ Am 15. Februar 1941 schreibt sie ihre nächs-ten Beobachtungen nieder: „Nun wachsen die Mauern höher und höher […].

Oben sind sie von einer dicken Schicht Ton bedeckt, vermischt mit Glasscher-ben, damit Menschen, die zu flüchten versuchen, sich die Hände zerschneiden.“

(S. 42, 52). Es gab auch Abgrenzungen aus Stacheldraht und Holzzäune. Tafeln bei den Eingängen informierten über eine im Ghetto wütende Seuche. Die deut-sche Propaganda erklärte die Abriegelung des Ghettos mit der Notwendigkeit, eine Barrikade zu Hygienezwecken zu errichten, um Warschau vor der Seuche zu

52 Das einzige öffentliche, vom Besatzer genehmigte polnischsprachige jüdische Perio-dikum im Generalgouvernement. Die „Gazeta Żydowska“ erschien in Krakau vom 23. Juli 1940 bis zum Juli 1942 zwei Mal (dienstags und freitags), eine Zeitlang auch drei Mal pro Woche. Gewidmet war sie überwiegend den Angelegenheiten des Warschauer Ghettos. Der Redaktionssitz der „Gazeta Żydowska“ in Warschau befand sich in der Elektoralna-Straße 4/1. Siehe M. Fuks: „Życie w gettach GG na tle ‚Gazety Żydowskiej‘

(1940–1942)“ [Das Leben in den Ghettos des Generalgouvernements in der Darstel-lung der „Gazeta Żydowska“], in: „Biuletyn ŻIH“ 1971, Nr. 3.

schützen. Auf den Straßen der Stadt hingen „[r] iesige Plakate mit einem Juden aus dem Stürmer und der Aufschrift: Juden – Läuse – Fleckfieber. Eine riesige Laus kriecht in den Bart eines Juden“, notiert Ringelblum (S. 243). Czerniaków schreibt am 4. April 1940, nach einem Besuch im Blank-Palast, wo sich das Büro des Warschauer Stadthauptmanns Ludwig Leist befand, eine mitgehörte These auf und setzt sie in Anführungsstriche: „Die Mauern sind dazu da, die Juden vor Ausschreitungen zu schützen“ (S. 58). Das Gespräch fand wenige Tage nach heftigen antijüdischen Exzessen statt. Die Mauern sollten somit auch ein Beweis für die Großzügigkeit der Deutschen sein, die die Juden vorgeblich so vor der Bedrohung durch die Polen schützten53.

53 Der Leiter der Umsiedlung, Waldemar Schön, erklärt die Einrichtung des Ghettos v.a. mit einer hygienischen Notwendigkeit – dem Schutz des deutschen Heers und des deutschen Volkes „vor dem Juden, dem immunen Überträger von epidemischen Erregern“ – sowie mit einer politisch-moralischen und einer wirtschaftlichen Notwen-digkeit. Siehe „Z referatu Schöna, kierownika wydziału przesiedleń w Urzędzie guber-natora dystryktu warszawskiego, o gecie warszawskim, 20 stycznia 1941 r.“ [Aus dem Referat Waldemar Schöns, Leiter der Abteilung Umsiedlungen im Amt des Gouver-neurs des Distrikts Warschau, über das Warschauer Ghetto, 20. Januar 1941], in: Ekster-minacja Żydów na ziemiach polskich w okresie okupacji hitlerowskiej. Zbiór dokumentów [Die Ausrottung der Juden in polnischen Gebieten während der Besatzung durch die Nazis. Eine Sammlung von Dokumenten], bearb. von T. Berenstein, A. Eisenbach, A.

Rutkowski, Warschau 1957, S. 106. L. Landau wiederum stellt nach antisemitischen Exzessen auf Warschaus Straßen im Frühjahr 1940 einen charakteristischen Tonfall deutscher Propaganda fest: „Zweck dieser Aktion ist es […], Dokumente zu erhalten, die die Deutschen auf polnischem Gebiet in den Augen des Auslands rechtfertigen sollen – ach, was sage ich, die sie auf das Podest der Ordnungshüter, der Rächer der Unterdrückten erheben sollen. Dazu dienen Photographien und Filme; dazu dienen soll auch, dass die Juden sich an die Deutschen wenden, um Schutz vor Angriffen der christlichen polnischen Bevölkerung zu erhalten. […] Die Absichten der Deutschen sind klar. […] [E] in Unglück ist nur, dass diese Absichten sich auf dem Boden, den die Endecja [Nationaldemokratie, eine polnische nationalistische und antisemitische Bewegung; Anm. d. Übers.] ihnen jahrelang bereitet hat, so leicht realisieren lassen“

(Bd. 1, S. 370–371). Über die Pogrome in Warschau im Frühjahr 1940 schreibt T.

Szarota: „Zajścia antyżydowskie i pogromy w okupowanej Europie“ [Antijüdische Vor-fälle und Pogrome im besetzten Europa], in: D. Grynberg und P. Szapiro (Hgg.): Holo-caust z perspektywy półwiecza. Pięćdziesiąta rocznica powstania w getcie warszawskim.

Materiały z konferencji zorganizowanej przez Żydowski Instytut Historyczny w dniach 29–30 marca 1993 [Der Holocaust aus der Perspektive eines halben Jahrhunderts.

Der fünfzigste Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto. Materialien von einer Konferenz des Jüdischen Historischen Instituts, 29.-30. März 1993], Warschau [ohne Erscheinungsdatum].

Die Grenzen des Ghettos wurden zu Grenzen zwischen Leben und Tod.

Bewacht wurden sie von der deutschen Gendarmerie in ihren grünen Unifor-men mit braunen Aufschlägen, von der polnischen dunkelblauen Polizei und vom jüdischen Ordnungsdienst mit seinen gelben Mützenbändern. Die Mauern verliefen entlang der Häuserlinien, teilten benachbarte Grundstücke, schnit-ten Gehsteige von Straßen ab, versperrschnit-ten Straßen in der Mitte, zerschlugen die bisherige, gewohnte Topographie der Stadt und schufen eine neue, fremde und feindliche Raumordnung. Der Raum wurde jetzt anders erlebt als zuvor – beklemmend und traumatisch. Der Anblick der Mauern, die auf der Rymars-ka-Straße hochgezogen worden waren, ruft bei Ringelblum das alptraumhafte Gefühl hervor, lebendig begraben worden zu sein:  „Man will uns lebendig einmauern“ (S. 186), vermerkt er am 1. November 1940, zwei Wochen vor der Abriegelung des Ghettos. Wanda Lubelska, die kurz vor dem Krieg ihre Matura im A.-Piłsudzka-Gymnasium (heute S.-Sempołowska-Lyzeum) im Stadtteil Żoliborz abgelegt hatte, vertraut ihrer Schulfreundin in einem Brief, der auf den 22. Dezember 1940 datiert und demnach bereits aus dem geschlossenen Ghetto verschickt wurde, an, sie fühle sich auf beklemmende Weise gefangen:

Du ahnst ja nicht, wie schrecklich gern ich hier von hier fort würde, nach Żoliborz […]

Das Schlimmste sind die Szenen auf der Straße, du hast ja keine Ahnung, welche Wir-kung das auf mich hat. […] Überall Mauern, Polizei, Wachen, eine furchtbare Gefan-genschaft, all das zusammen und dieses Gefühl, man säße in einem Gefängnis, hat so eine schreckliche psychische Wirkung (S. 154).

Nach fast zwei Jahren des Lebens im geschlossenen Bezirk schreibt Chaim Kap-lan von einer doppelten Mauer:

Wir sind hinter Doppelmauern eingesperrt: hinter einer Mauer aus Ziegeln für den Kör-per und einer Mauer aus Schweigen für den Geist. Was auch geschieht oder getan wird, ist von einem Mantel des absoluten Schweigens umhüllt (Buch der Agonie, S. 356).

Was sich auf der einen und auf der anderen Seite der Mauer befand, nahm neue Dimensionen an. Die Welt jenseits der Mauern war gleich hier, zum Greifen nahe. Doch im drastischen Kontrast zur physischen Nähe der beiden Welten stand der Abgrund zwischen ihnen. Die paar Schritte von der einen zur ande-ren Seite zurückzulegen war unter Androhung von Todesstrafe verboten54.

54 Am 15. Oktober 1941 erschien die „Dritte Verordnung über Aufenthaltsbeschränkun-gen im Generalgouvernement“ von Generalgouverneur Hans Frank; einen Auszug dar-aus lohnt es wegen der eigentümlichen Stilistik anzuführen: „(1) Juden, die den ihnen zugewiesenen Wohnbezirk unbefugt verlassen, werden mit dem Tode bestraft. Die gleiche Strafe trifft Personen, die solchen Juden wissentlich Unterschlupf gewähren.

Das Raumempfinden musste somit einer gewissen Umwertung unterzogen werden. In Aufzeichnungen von damals ist der Kontrast zwischen Ghetto und arischer Seite häufig als ein endgültiger, unüberwindbarer, geradezu ontologi-scher Graben dargestellt. Etwas Bekanntes wird verändert bis zur Unkenntlich-keit. Es dominiert ein bizarrer Eindruck von Fremdheit. Chaim Kaplan hält am 4. November 1940 fest:

Das Aussehen Warschaus hat sich derartig verändert, daß niemand, der die Stadt kannte, sie jetzt noch erkennen würde. […] Aber das Aussehen des jüdischen Warschau hat sich besonders verändert. […] [S] eit der jüdische »Wohnbezirk« errichtet wurde, ist das jüdische Warschau eine Stadt für sich geworden, die sich charakteristisch vom arischen Warschau unterscheidet. Jeder, der vom jüdischen Bezirk in den arischen geht, gewinnt den Eindruck, daß er eine neue Stadt betritt, die völlig anders aussieht, ihren eigenen Lebensstil hat und nicht mit ihrem jüdischen Nachbarn gemein hat. (S. 260)

Das Passieren der Wachposten an den Ghettoeingängen und der Übertritt auf die andere Seite der Mauer wurden empfunden wie der Wechsel in eine andere Dimension, in eine andere Wirklichkeit. Leon Guz konnte 1941 nach Mińsk Mazowiecki gelangen. Über seine Eindrücke nach der Durchfahrt durch das Ghettotor schreibt er:

Ich betrachte die Straßen auf der „anderen Seite“ und fühle mich, als wäre ich zum ersten Mal in Warschau. Ich war in einer anderen Welt angelangt. Dabei war das ein mir sehr gut bekannter Teil der Stadt (S. 54).

Bereits im Juli 1941 wird Wanda Lubelska bewusst, dass Warschau in zwei getrennte und einander fremde Welten zerfallen ist, die von der Mauer getrennt werden. Zwei Welten, in denen Menschen, die einander noch vor kurzem nahe waren, nun andere Sprachen zu sprechen scheinen. Sie dankt ihrer Freundin von der anderen Seite für ihren Brief und schreibt zur Antwort:

Geliebte Zeta. Jedes Deiner Worte ist mir, die heute so von Schmerz erfüllt ist, wunder-wirkender Balsam für meine Seele. Manchmal scheint es mir, als sprecht „Ihr“ dort in einer Art anderer Sprache, anderen Worten als wir hier (S. 158).

Die alten Kategorien und Parameter von Raum haben sich als ungeeignet erwie-sen. Begrifflichkeiten wie „fern  – nah“, „dort  – hier“ mussten neu definiert

(2) Anstifter und Gehilfen werden wie der Täter, die versuchte Tat wird wie die voll-endete bestraft.“ Bereits am 17. November 1941 kündigt der Kommissar des Ghettos, Heinz Auerswald, in einer speziellen Bekanntmachung die Erschießung von 8 Juden

„wegen unerlaubten Verlassens des jüdischen Wohnbezirks in Warschau“ an. Siehe Eksterminacja Żydów na ziemiach polskich, op. cit., S. 122–123.

werden. Sie hatten einen neuen Sinn angenommen. Hier zwei Zeugnisse jener dramatischen Umwertung der räumlichen Kategorien. Eines stammt aus den Aufzeichnungen Franz Blättlers, eines Fahrers der Schweizer Ärztemission, der sich 1942 in Warschau aufhielt. Blättler ist ein Außenstehender, sowohl im Ver-hältnis zum Besatzer als auch zum besetzten Land. Als Bürger der neutralen Schweiz hat er sich als Freiwilliger für eine Mission des Roten Kreuzes gemeldet.

Er distanziert sich von den Deutschen in allem, was er tut, schreibt voller Sym-pathie und Mitgefühl über die Polen. Mit Mut, scharfem Blick und Wissensdurst beobachtet er das Leben im besetzten Warschau. Er betritt auch das Ghetto und gelangt zum jüdischen Friedhof. So beschreibt er die Fahrt über die Okopowa-Straße zum Friedhofstor:

Ich fahre weiter der Ghettomauer entlang. Nun taucht auch zu meiner Linken eine lang-gestreckte Ziegelmauer auf, das muss der Judenfriedhof sein. Die Straße ist eingekeilt zwischen den beiden Stätten des Grauens. Für mich „Arier“ bedeutet sie noch körper-liche Freiheit, für die Juden zu meiner Rechten und Linken ist sie so nahe und doch nicht erreichbar.55

Das zweite Zeugnis ist die Innenansicht eines Menschen, der die Realien des Ghettos bestens kennt, da er darin lebt. Władysław Szlengel zeigt in seinem Gedicht „Gespräch mit einem Kind“ in künstlerischer Kürze auf, was der Begriff

„weit“ im Ghetto bedeutete:

Neunzehnhundertzweiundvierzig das Jahr.

Werkstatt-Block. Mutter und Kind sieht man da …

………

Mutter, sag mir, fragt der Kleine, was bedeutet: weit …

Weit bedeutet hinter den Bergen, hinter den Flüssen und Wäldern …

………

Wie soll man dem Kind erklären, was das Wort bedeutet: weit … wenn es nicht weiß, was ein Berg ist, und auch nichts von Flüssen weiß …

……….

55 Franz Blättler: Warschau 1942: Tatsachenbericht eines Motorfahrers der zweiten schwei-zerischen Aerztemission 1942 in Polen, Zürich 1945, S. 27. Blättler zeichnete in War-schau Notizen auf und machte Photos. Als er Polen verließ, schmuggelte er seine Filmrollen und Notizen in den Absätzen seiner Schuhe mit.

Weit, mein liebes Kind

(eine Träne hängt an ihren Wimpern), weit, das ist von hier, wo wir sind, bis zum Block von Toebbens5657

2

Was das Aussehen des Bezirks betraf, so wurden verschiedenste Eigentümlich-keiten eingeführt, die nicht nur die bisherige Gestalt des Stadtteils deformier-ten, sondern auch einen neuen Maßstab erzwangen, eine neue Zeichen- und Werteordnung – eine neue Art, den Raum wahrzunehmen und sich in ihm zu bewegen. Den Bewohnern des Ghettos blieb nichts übrig, als sich schnell an die manchmal schockierenden Veränderungen und beschwerlichen Verunstaltun-gen zu gewöhnen.

Eine davon waren zweifellos die hölzernen, über die Straßen verlegten Fuß-gängerbrücken. Diese Art baulicher Lösung wandten die Deutschen zunächst im Ghetto von Łódź und später dann auch in Warschau an. Im Warschauer Ghetto gab es vier solcher Holzbrücken: Ein Fußgängersteg führte von der jüdischen Seite der Żelazna-Straße zu einem Gebäude auf arischer Seite, in dem sich das Arbeitsamt [im Orig. deutsch] der Gemeinde befand (Leszno-Straße 86); die Mitte 1941 errichten Brücken in der Przebieg-Straße (ein kleines Sträßchen zwi-schen Muranowski-Platz und Bonifraterska-Straße) und in der Mławska-Straße (am nordöstlichen Rand des Ghettos) sowie die größte und bekannteste Über-führung über der Chłodna-Straße, die das große mit dem kleinen Ghetto ver-band. Adam Czerniaków verzeichnet in seinem Tagebuch die einzelnen Phasen ihres Baus. Erbaut wurde sie bei klirrendem Frost: „18.I.1942. Frost. Die Brücke in der Żelazna-Str. ist beinahe fertiggestellt“. Zum Gebrauch freigegeben wurde die Brücke am 26. Januar 1942: „Morgens um 8:30 hielt mich Probst auf der Straße an, bei der Holzbrücke Ecke Chłodna-Żelazna-Str. (jetzt Eisgrubenstrasse und Eisenstrasse), und befahl, die Brücke für die Öffentlichkeit freizugeben. Ich bat darum, keinen Zoll für die Öffentlichkeit einzuführen (Auerswald plant Gebühren).“ (S. 219–221). Sie blieb bis zur Liquidierung des kleinen Ghettos in Betrieb, d.h. bis Mitte August 1942. Im traditionellen Raumerleben symbolisiert die Brücke positive Werte, erlaubt sie es doch, Schluchten oder das ungezähmten Element Wasser zu überqueren, erweitert die Bewegungsmöglichkeiten, schafft

56 S. 5

57 W. Szlengel: „Gespräch mit einem Kind“, dt. Übers. von R. Erb, in: ders.: Was ich den Toten las, op. cit., S. 54.

mehr Komfort – und ist somit ein Zeichen für die Überwindung von Widrig-keiten. Sie verbindet zwei Ufer, zwei Ränder und schafft einen gemeinsamen Raum – einen Raum der Begegnung. Eine Brücke fügt in unserer Vorstellung mehrere Teile zu einem Ganzen zusammen und hilft, Trennendes zu überwin-den.Für die Bewohner des Warschauer Ghettos verlor die Brücke jene Bedeutung.

Stattdessen war sie ein spektakulärer Beweis dafür, dass diese Menschen sich in einem absurden räumlichen Arrangement befanden. Die Brücken erinnerten sie an die demütigende Situation des Eingesperrtseins. Sie machten ihnen bewusst, dass jegliche Verbindungen zwischen dem Ghetto und der restlichen Welt durchtrennt werden sollten. Im Ghetto war die Brücke somit – gegenteilig zu ihrer sonstigen Bedeutung – ein Zeichen für Trennung und Freiheitsberaubung.

Henryk Makower nennt sie „eine urbanistische Wunde im Antlitz Warschaus“:

Wie viele Male bin ich über die Brücke gegangen – 2 Stockwerke hinauf und 2 hinunter, durch eine hastende, immer dicht gedrängte Menge – […] ich hörte nicht auf, mich zu wundern, dass so etwas möglich ist, dass ich mich daran gewöhnen konnte (S. 175).

Von der Brücke an der Chłodna-Straße sah man den Turm der Hl. Karl-Borro-mäus-Kirche, umgeben von Baumkronen, und unten den normalen, arischen Straßenverkehr. Die Nähe und zugleich Unerreichbarkeit der gewöhnlichen Welt wurden als Trauma empfunden. So erzählt der jüdische Dichter Josef Kir-man seinem Sohn von der Brücke:

Nur mit mir, mit mir allein wolltest du auf die hölzerne Brücke steigen. Fragen über Fragen stelltest Du mir: Wie viele Stockwerke hatte die Brücke? Wie weit war es von der Brücke bis in den Himmel? Durfte man von der Brücke nach unten schauen? […] Als du mich fragtest, ob ich nicht fürchte, dass die Brücke einstürzen könnte, griff ich danach wie nach einem rettenden Strohhalm. Ja, mein Kind, komm schnell weiter. Sie kann einstürzen, sie sollte es sogar … […] So oft ich die Brücke erklimme oder hinabsteige, so oft bitte ich Gott darum, diese hölzerne Brücke möge in ihre Einzelteile zerfallen.58

Die Menschen gehen vom engen, überfüllten, mit Mauern umgebenen Ghetto hinauf auf die Brücke, um den Anblick eines weiten, offenen Raumes in sich aufzunehmen. Von der Brücke über der Przebieg-Straße „erstreckt sich […] der Blick über die Weichsel und Żoliborz. […] [Ü]ber jene freie Welt“ (Ringelblum, Bd. 1, S. 293). Die Brücke an der Chłodna-Straße nennt Jan Mawult ironisch

„Seufzerbrücke“:

58 Text aus Archiwum Ringelbluma, op. cit.

Tausende hängende Köpfe heben sich, begrüßen das Panorama von Chłodna- und Wolska-Straße, die Hallen und den Sächsischen Garten, die Wolkenkratzer am Napo-leon-Platz, den Cedergren-Turm an der Zielna-Straße [Sitz der polnischen Tochter der schwedischen Telefongesellschaft Cedergren; Anm. d. Übers.], die Kreuze auf den Kirchtürmen und weit entfernt das Band der Weichsel. Seufzend sinken die Köpfer wie-der, die Ghettobrücke – Ponte dei Sospiri (Seufzerbrücke) („Biuletyn ŻIH“ 62, S. 108).

Vom Dach eines Altbaus, der an der Chłodna-Straße in der Nähe der Brücke steht, schaut Mary Berg „auf die Stadt hinter Mauern“ herab und träumt „von der weiten Welt, fernen Ländern, von der Freiheit“ (S. 159).

Eine andere alltäglich gewordene Absonderlichkeit waren das Gedränge und der Lärm auf den Straßen, die jede normale Fortbewegung unmöglich machten59. Das Motiv des Gedränges taucht in vielen Texten auf; das veränderte Aussehen der Straße war bestürzend und verlangte danach, notiert zu werden.

Auf den jüdischen Straßen – ein entsetzlicher Betrieb. Nicht nur der Gehsteig ist voller Menschen, sondern auch die ganze Fahrbahn. Dort hindurchzukommen ist sehr schwer,

schreibt Ringelblum (Bd. 1, S. 186), und bei Marek Stok lesen wir:

Tausende Elendsgestalten, Bettler hausen auf der Straße. […] Sie sind überall. In Hinter-höfen, auf Gehsteigen, vor Mauern und auf der Fahrbahn hockend, sie klagen, schreien, bitten um ein Almosen (Pamiętnik z getta [Tagebuch aus dem Ghetto], S. 40).

Die verstopften Straßen werden zu einem Teil der Alltagserfahrung, an den ver-stümmelten Raum aber kann sich niemand gewöhnen. Die Straße – so schreibt Stanisław Różycki – „frisst“ Junge und Alte, Männer und Frauen, deklassiert und degradiert alle und jeden:

Ich sehe mich auf der Straße um. Ein ungeheurer Betrieb, ein Gebrodel, Gedränge, Gejammer und Gegreine, Gezanke … Durch die Nadelöhre der einstigen Straßen, durch die schmalen Schläuche, die die beiden großen Teile des Ghettos miteinander verbinden, wälzen sich Tausende Menschen, ergießen sich Wellen von Passanten. Die Gehsteige reichen nicht aus, man muss die Fahrbahn mitnutzen, auf der ebenfalls sehr starker Verkehr herrscht. […] Dreckig, dunkel, beengend, kalt, fremd (Bd. 2, S. 135).

59 B. Engelking widmet sich bei ihrer Schilderung des Alltagslebens im Warschauer Ghetto ausführlich dem Phänomen des ständigen Gedränges (Zagłada i pamięć.

Doświadczenie Holocaustu i jego konsekwencje opisane na podstawie relacji autobiogra-ficznych [Vernichtung und Gedächtnis. Die Erfahrung des Holocaust und seine Konse-quenzen, dargestellt auf der Grundlage von biographischen Berichten], Warschau 1994, S. 85–87). Die Situation der pathologischen Einengung, die eine Dekomposition des

Doświadczenie Holocaustu i jego konsekwencje opisane na podstawie relacji autobiogra-ficznych [Vernichtung und Gedächtnis. Die Erfahrung des Holocaust und seine Konse-quenzen, dargestellt auf der Grundlage von biographischen Berichten], Warschau 1994, S. 85–87). Die Situation der pathologischen Einengung, die eine Dekomposition des

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 60-107)