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Die Erörterungen aus dem ersten Teil der Arbeit endeten mit der fundamenta-len Fragestellung, ob und wie die Vermittlung von Holocausterfahrung mög-lich sei und welche Arten des Ausdrucks sich für sie eignen, wo die Grenzen des Ausdrückbaren liegen. Fast jedes hier analysierte persönliche Dokument enthält  – gleichsam als unerlässliches rhetorisches Ornament  – eine irgend-wie in Worte gefasste Figur des Unausdrückbaren. „Was ist schon die Sprache der Worte im Angesicht dieses Grauens …“, fragt Leon Najberg (S. 119); Rokhl Oyerbakh bekennt: „[I] ch schaffe es nicht, ich kann dieser Wirklichkeit nicht Ausdruck verleihen …“ (Ring I, 654, S. 11); Avrom Levin notierte sich, als ihm die Unermesslichkeit des Holocaust bewusst geworden war, am 29.  Dezem-ber 1942: „An Juden vernichtete Hitler 5–6 Millionen. Es gibt keine Worte in unserer Sprache, die das unendliche Ausmaß des Unglücks ausdrücken könnten, das uns ereilt hat“ (BŻIH 25, S. 124). Für Giordano Bruno aus Czesław Miłoszs Gedicht „Campo di Fiori“ – das 1943, allerdings auf der anderen Seite der Mauer, verfasst wurde – gab es ebenfalls „In der menschlichen Sprache/Kein einziges Wort […],/Um der Menschheit Lebwohl zu sagen –/Der Menschheit, die übrig bleibt.“136

Die Unfähigkeit der Sprache, zu der sich die Autoren auf vielerlei Arten bekennen, bestätigt offenbar die These von der Hilflosigkeit der Versuche, die Holocausterfahrung zu begreifen. Diese Erfahrung lässt sich in keinster Weise ausdrücken, weil sie sich in keinster Weise begreifen lässt.

Im zweiten Teil meiner Arbeit möchte ich diese Überzeugung jedoch einer Revision unterziehen. Nicht, weil ich den tiefen Riss zwischen menschlichem Wort und unmenschlicher Wirklichkeit infrage stellen möchte, sondern um zu zeigen, dass nichts uns von der Notwendigkeit befreit, das Verstehen zu ris-kieren. Ohne mich in philosophischen Spekulationen über den Sinn des Holo-caust zu ergehen oder in Strategien seiner kognitiven Aneignung zu verlieren, beschränke ich mich  – gemäß meines Vorhabens  – auf die Beobachtung der Ausdrucksebene.

Entzieht sich der Holocaust tatsächlich jeglicher Ausdrucksmöglichkeit, da er „sich nicht mit Worten ausdrücken lässt“? Dürfen wir den Versuch aufgeben, 136 Dt. Übers. von D. Daume, in: DAS und andere Gedichte, München 2004; Anm. d. Übers.

zu dieser – schließlich in zahlreichen Schriften festgehaltenen – Erfahrung vor-zudringen? In der Literatur des persönlichen Dokuments, die im Warschauer Ghetto entstanden sind, versuchen die Autoren auf verschiedene Weise, die Hilf-losigkeit der Sprache zu überwinden, und bemühen sich, so über den Holocaust zu sprechen, dass sie zum Kern vordringen.

In Kapitel 1 habe ich zwei Typen von Erzählung vorgestellt – die persönli-che und die unpersönlipersönli-che. In Kapitel 2 befasse ich mich mit dem Ort, den das Element der Schilderung und eine ganz bestimmte seiner Ausprägungen in der narrativen Struktur einnehmen (Themen wie das Bild von Figuren, von Tod und Leichnam). Kapitel 3 wiederum handelt vom religiösen Diskurs (dabei interes-siert mich vor allem das Spannungsverhältnis zwischen einerseits einer Sprech-weise, die darauf abzielt, die Anwesenheit des Sacrum zu erfassen, und die einem besonderen Druck von Traditionen, Konventionen, Ritualisierung unterworfen ist, und andererseits der Herausforderung, zu der die Erfahrung der Ghettoreali-tät für den Autor wird).

Ähnlich wie die Erzähler in Romanen lassen sich auch die Erzähler des Ghettos * grob in zwei Kategorien einteilen. In eine Kategorie gehören die Erzähler, die als Sprecher ihr „Ich“ im Text aufscheinen lassen und in der ersten Person schrei-ben. In die zweite hingegen gehören diejenigen, die sich durch die Wahl der drit-ten Person hinter der erzähldrit-ten Welt verbergen137. Ein personalisierter Diskurs scheint am charakteristischsten für die Literatur des persönlichen Dokuments zu sein – ist er doch Ausdruck einer autobiographischen Haltung, eine Manifes-tation der Person des Autors und dessen eigener Weltsicht. Eine Erzählweise in der ersten Person ist die natürliche Form, Tagebuch zu führen. Dennoch lassen sich bei den untersuchten Texten bedeutende und recht zahlreiche Beispiele für eine grundlegend andere Aussagegestaltung finden. Ein nicht-personalisierter Diskurs kommt sowohl in den Gattungen vor, die für das persönliche Dokument klassisch sind – wie Tagebuch oder Erinnerungen –, als auch in Grenzformen wie zum Beispiel Berichten. Manches Mal erweisen sich übrigens die traditionell personalisierten Gattungen unpersönlicher als Texte, die in der ursprünglichen Absicht fast einen Gebrauchscharakter haben.

Strategien, in der ersten Person zu erzählen, gibt es verschiedene; das Gleiche gilt für die Arten und für den Grad, in dem die eigene Privatheit enthüllt wird.

137 In der Theorie der Narrationsformen wird generell zwischen zwei Arten von Erzählern unterschieden; in W.C. Booth’ klassischer Auffassung sind das der „dramatisierte“ und der „nicht-dramatisierte“ Erzähler.

Bei den Ghettodokumenten – die unter besonderem Zeitdruck, an einem beson-deren Ort, in einer besonbeson-deren Situation entstanden sind – nimmt die Frage der Enthüllung, der Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, die Manifestierung des eigenen „Ich“ eine zusätzliche Dramatik an. Der Schreibende ringt nicht nur mit den Konventionen der persönlichen Aussage, sondern auch mit einer endgülti-gen existenziellen Herausforderung. Das wachsende Bewusstsein einer – voll-kommenen und unumkehrbaren – Vernichtung wirft ein neues Licht auf die Rolle des Tagebuch- oder Memoirenverfassers als eines Menschen, der von sich spricht, der seine Erlebnisse, Beobachtungen, Urteile festhält.

Die Vorstellungen darüber, was und wie man über sich oder auch von sich schreiben kann, werden einer Revision unterzogen. Umformuliert werden die bisherigen Regeln für ein solches Schreiben sowie die Motivationen, die der Anfertigung einer Niederschrift zugrunde liegen. Unter den neuen Umständen muss nämlich der Begriff der Privatheit oder auch Intimität selbst einem radi-kalen Wandel unterzogen werden, weswegen sich bei der Kommunikation auch deren Bereich, Methode und Zweck ändern.

Der Mensch wird zum anonymen Teil einer Masse, die einem gemeinsamen Schicksal unterworfen ist. Niemand ist mehr bei sich zu Hause, alle sind Ver-triebene – sie werden aus größeren Städten und kleineren Orten hinter Mau-ern getrieben, aus Wohnungen auf die Straße, in Verstecke und Bunker, auf den Umschlagplatz. Der Einzelne ist zum Leben, zum Leiden, zum Sterben in Bedrängnis und Enge gezwungen – oder er muss in einem Versteck dahin-vegetieren, jeden Moment in Erwartung des Todes. Hier ist kein Platz für den Luxus der Privatheit, die Intimsphäre wird zerstört. Diese Erfahrung ruft im Bewusstsein des Schreibenden einen Selbstverteidigungsreflex hervor, der sich im heroischen Akt des Schreibens äußert. Diesen Akt anzugehen, bedeutet eine Manifestierung der persönlichen Eigenheiten, der individuellen Existenz. Ich schreibe, also bin ich – trotz der Verurteilung zur Vernichtung. Mein individuel-les Schicksal nimmt universale Züge an, ist es doch eine Spiegelung des gemein-schaftlichen Schicksals. Ich bin nicht mehr nur Privatperson, spreche nicht nur von mir, über mich. Daher ist auch in diesem Sinne kein Platz mehr für den Luxus der Privatheit.

Deswegen bedeutet auch das erzählende „Ich“ der Ghettoautoren mehr als nur die Realisierung einer bestimmten Diskursart. Jener personalisierte Dis-kurs ist in ein kompliziertes Netz eingewoben – ein Netz von Verpflichtungen der Wirklichkeit gegenüber, der Geschichte, dem zukünftigen Leser, dem spre-chenden Subjekt. Wie die Rolle des Erzählers in der ersten Person zu realisieren ist, entscheidet nicht die schriftstellerische Konvention allein, sondern auch das Schicksal, das dem Schreibenden zuteil wird.

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 135-138)