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Jakub – Hirszfeld – Levin – Perechodnik

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 138-146)

Eindeutiges Beispiel für eine schreibende Tätigkeit, die einem völlig unvorbe-reiteten Menschen als Gebot des Schicksals auferlegt wurde, ist das Tagebuch des Jakub. Dieser Text überdauerte ohne Titel und ohne Autorennamen bis in unsere Zeiten, wobei zu bezweifeln gilt, dass der Autor ihm überhaupt einen Titel gegeben hat. Wäre der Krieg nicht gewesen, hätte er wahrscheinlich nie zur Feder gegriffen. Er war ein einfacher Mensch und vermutlich weit davon ent-fernt, in disziplinierter schriftlicher Form persönliche Reflexionen abzugeben.

Bei Kriegsausbruch war er 30 Jahre alt und lebte mit Eltern und Geschwistern im Warschauer Stadtteil Praga. „Ich bin Buchhalter von Beruf“ (S. 59), stellt er sich vor, schreibt aber an anderer Stelle: „[V] or dem Krieg habe ich in Fabri-ken gearbeitet, meine Stellung war Expeditor oder Lagerist“ (S. 161). Sich selbst nennt er einen „ganz gewöhnlichen Menschen der Arbeit“. Doch dieser gewöhn-liche Arbeiter schreibt, während er sich von Mai 1943 bis August 1944 in einer Wohnung in Praga versteckt, ein umfassendes, 537 Seiten dickes Tagebuchma-nuskript.

Von anderen persönlichen Dokumenten unterscheidet sich Jakubs Tagebuch durch seine Spontaneität des Ausdrucks, seine offen vorgebrachte Emotionali-tät, seine Authentizität bei der Schilderung von Erlebnissen und Beobachtun-gen. Die Form dieser Niederschrift spiegelt eine ausgeprägte Individualität ihres Autors. Jakub ist fraglos der Herr seines Textes, er beherrscht ihn auf seine eigene – könnte man sagen – naive und unreflektierte Weise. Er arbeitet ohne ein Bewusstsein für Schreibtechniken, Regeln und Konventionen, hat manch-mal Probleme mit der korrekten Formulierung von Sätzen. Seine Sprache ist sehr einfach, zeitweise sogar fehlerhaft, und voller Kolloquialismen, Dialektis-men und milieutypischer Ausdrücke. Bei der Lektüre dieses Textes begleitet den Leser unweigerlich das Gefühl einer besonderen Nähe zum Autor, der geradezu physisch greifbar zu sein scheint.

Was sich um ihn herum und mit ihm ereignet, ist hier stets Hauptthema der Narration. Jakubs eigenes Erleben ist stets der Mittelpunkt, selbst dann, wenn er weitschweifig über die Situation an der Front schreibt. Nachrichten bezieht er aus der täglichen Lektüre deutscher Zeitungen, füllt die Seiten seines Tagebuchs mit eingehenden Auseinandersetzungen mit der Nazi-Propaganda.

Jakubs politische und militärische Analysen werden durch seine originelle Per-sönlichkeit und spezielle Denkweise gefiltert und sagen mehr über ihn selbst aus als über das tatsächliche Kriegsgeschehen. Es wäre im Übrigen interessant, einen Vergleich zwischen zwei Stilen anzustellen, in denen die Besatzungs-presse gelesen wurde – Jakubs plebejischem und emotionalem Stil und dem

intellektuellen und gelehrten Stil Ludwik Landaus in seiner Kronika lat wojny i okupacji.

Jakub ist authentisch. Er kennt keine Zurückhaltung, wenn er über sich selbst schreibt. Er ist aufrichtig, wenn er sich verbittert über seinen Bruder äußert, der ihn hintergeht und ausnutzt, wenn er stolz über seine Erfolge beim Handel mit deutschen Soldaten in einer Kaserne in Praga berichtet, wenn er über das Unrecht klagt, das ihm geschieht, seine Sorgen und Nöte beichtet und entsetzt die schwindenden Chancen auf Rettung beobachtet. Stellenweise verwandelt sich sein Tagebuch in einen großen inneren Monolog  – den Gedankenstrom eines leidenden, seiner Freiheit beraubten Menschen, der vor Sehnsucht nach dieser fast den Verstand verliert.

Der Autor hat keine Probleme mit der „Form“ oder mit der Inadäquatheit von Wörtern gegenüber dem Inhalt. Es scheint, als sei er einer der wenigen, die sich nicht des Topos „Das lässt sich nicht mit Worten ausdrücken“ bedienen. Spontan erfindet er neue Ausdrucksmöglichkeiten, erweitert die Formel seiner Aussa-gen. Eine solche Rolle spielen auch seine eigenen, jeweils situativ entstandenen Gedichte, die er in die Tagebuchnarration einflicht und die persönliche Erleb-nisse (zum Beispiel den Tod der Mutter im Ghetto, die Angst vor den „Schmal-zowniks“) sowie die allgemeine Kriegssituation kommentieren. Der Wechsel von ungebundener zu gebundener Rede ist weniger ein Zeichen für Erhaben-heit oder Pathos als eine noch radikalere Enthüllung der eigenen Person. Jakub bedient sich der Versform, weil es die einzige ihm bekannte Form zutiefst per-sönlicher, intimer Rede ist. Deshalb sind die naiven, unbeholfen gereimten Verse trotz ihrer geradezu spektakulären Gestelztheit eine grundehrliche Manifesta-tion seines „Ich“. Und mehr noch – sie spiegeln den Prozess wider, in dessen Ver-lauf in Jakub als Privatperson das Gefühl einer gesellschaftlichen Verpflichtung entsteht. Das Schreiben über sich selbst wird für den Autor zum inneren Gebot, zur Verpflichtung, anderen Menschen das selbst Durchlebte weiterzugeben. Die Gedichtform – eine fest in der Tradition verwurzelte Art der Vermittlung per-sönlichster Empfindungen – scheint für die Realisierung dieses Bedürfnisses am besten geeignet zu sein. So eben geht Jakub vor – ein gewöhnlicher Mensch, einer von vielen. Indem er sein von Versen durchzogenes Tagebuch verfasst, macht er seine Privatheit öffentlich, macht sie zu einer zukunftsgerichteten Botschaft.

Am entgegengesetzten Pol des personalisierten Diskurses siedelt sich Lud-wik Hirszfelds Geschichte eines Lebens an. Im Juni 1943, als Hirszfeld, der sich in Stara Miłosna bei Warschau versteckte, zu schreiben begann, war er bereits eine öffentliche Person, ein Wissenschaftler von internationalem Rang. Seine Ehefrau gab ihm den Gedanken ein, „aufzuschreiben, was wir erlebt hatten und was Polen in dieser Zeit hatte erleiden müssen“, doch er entschloss sich,

„den Rahmen auszuweiten und Erinnerungen aus meinem ganzen Leben fest-zuhalten“ (S. 345). Eine solch breit gefasste Autobiographie lässt sich unter den Dokumenten aus der damaligen Zeit kein zweites Mal finden, mit Ausnahme vielleicht von Janusz Korczaks Tagebuch, das jedoch eher von Absichten als von tatsächlich durchgeführten Vorhaben handelt. Wenn bei Korczak überhaupt Informationen über das Schicksal des Verfassers in der Zeit vor Kriegsausbruch enthalten sind, dann in Form von wenige Sätze langen Einschüben oder – wie bei Karol Rotgebers Erinnerungen – als Zusammenfassung auf ein paar Seiten.

Hirszfeld dagegen zeichnet freimütig sein Selbstportrait. Er beginnt ganz am Anfang – bei seinen Studentenjahren, der Revolution von 1905, seiner Arbeit in Heidelberg, in Zürich, auf dem Balkan, präsentiert ein Panorama des Ers-ten Weltkriegs und schildert seine wissenschaftliche Tätigkeit in den Zwischen-kriegsjahren, beschreibt die Geschichte seiner eigenen intellektuellen Formung vor dem Hintergrund der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Im Vorwort erklärt er:

Die Geschichte eines menschlichen Leidens möchte ich darstellen und von den Geschi-cken eines Gelehrten erzählen, der daran glaubte, dass die Wissenschaft den Menschen zum Besseren zu bekehren vermag. Ich möchte erzählen, wie sehr er sich mit dieser Annahme irrte und wie das Schicksal ihm zuletzt das größte Leiden vor Augen führte – den Tod ganzer Völker. […]

Doch bin ich weder Historiker noch Literat, ich kann eine Epoche nicht Punkt für Punkt abhandeln, nicht Datum für Datum wiedergeben. Deshalb versuche ich  – wie groß meine Widerstände auch sein mögen –, die Geschichte einer Epoche mit der Geschichte meines Lebens zu verbinden (S. 7).

Hirszfeld ging voller Eifer und Leidenschaft ans Schreiben heran, jedoch auch äußerst methodisch, er kannte sich mit dem Handwerk des Schreibens aus, mit der Erarbeitung und Redaktion von Texten. Das Geschriebene las er Freunden und Familie vor; sie waren seine ersten Kritiker und Rezensenten. Der Text entstand somit im stetigen Dialog mit seinen Adressaten; der Autor nimmt deren Erwartungen vorweg, sieht Reaktionen voraus, ist sich der Verpflichtung bewusst, die auf ihm lastet. Das Schreiben erachtet er nämlich von Beginn an als moralische Pflicht und gibt dies auch offen als seine Motivation zu erkennen. Mit einem Wort, hier ist das gesamte Vorgehen des Autors durchdacht, die Intentio-nen sind ihm bewusst und deren Realisierung – trotz mancher konventioneller Einwände – professionell („[I] ch [bin] weder Historiker noch Literat“, ebd.).

Manchmal stand ich um vier, fünf Uhr morgens auf, schrieb ein paar Seiten, legte mich wieder hin, diktierte später meiner Frau etwas, die es auf der Schreibmaschine tippte, legte mir während des Mittagessens die nächsten Kapitel zurecht – und so arbeitete ich wie im Rausch. Das gesamte Buch entstand im Laufe von nur zwei Monaten […]. Dass

mein Leid einen Sinn haben sollte, dass ich die Pflicht und die Aufgabe hätte, Bericht zu erstatten von den Leiden der Völker in dem „Lebensraum“, den die Deutschen als ihr Eigentum betrachteten – dieser Gedanke hielt mich aufrecht […]. [D] as Schreiben war ein Kampf gegen den Feind (S. 346).

Hirszfeld hätte sicher auch ohne die Erfahrung des Krieges seine Autobiographie verfasst. Darauf lief die Logik seines schöpferischen Lebens hinaus, sein Bewusst-sein, er habe zum Wohle der Allgemeinheit Anstrengungen auf sich zu nehmen, und auch seine analytische, kritische, reflektierte Geisteshaltung. Früher oder später äußert ein Mensch in Hirszfelds Position öffentlich seine Überlegungen, beurteilt den eigenen Lebensweg, zieht Bilanz über das Erreichte, formuliert Urteile über Welt und Menschen. Von da an ist er nicht mehr nur Privatperson, und das verleiht seiner persönlichen Aussage zusätzlich Berechtigung, Nachdruck und Gewicht.

Der Verfasser der Geschichte eines Lebens spricht ununterbrochen über und von sich selbst, exponiert dabei aber zugleich seine Errungenschaften, seine Stellung und gewisse sich daraus ergebende öffentliche Verpflichtungen als eine beson-dere Bevollmächtigung, das Wort zu ergreifen. Wenn er auch in der ersten Person spricht, weiß er doch, dass er sich ebenfalls im Namen anderer äußert.

Angesichts der präzedenzlosen Kriegserfahrung bekommen sowohl das Gefühl, in öffentlicher Mission zu handeln, als auch die Wahrnehmung der Pri-vatsphäre eine andere Dimension. In Hirszfelds Fall könnte man sogar davon sprechen, dass die tiefe innere Verpflichtung, vor der Gemeinschaft Zeugnis abzulegen über den Holocaust, und die Schilderung des eigenen und des fami-liären Schicksals stark miteinander kollidieren. Hirszfelds Drama ist ein Drama, das in jenen Zeiten alle Polen jüdischer Abstammung durchlitten, die vollends assimiliert und darüber hinaus sogar getauft waren. Die Nürnberger Gesetze ordneten Hirszfeld in eine ihm vollkommen fremde Gemeinschaft ein. Zunächst versuchte er, das besetzte Polen zu verlassen, und legte sich die ideelle Motiva-tion dafür zurecht: „Sollte ich die Gelegenheit bekommen, ins Ausland auszu-reisen, würde ich sie nutzen. Denn dort könnte ich auf breiterer Ebene für mein Volk kämpfen“ (S. 212). Später bemühte er sich mithilfe des Grafen Ronikier und des von diesem geleiteten Hauptfürsorgerats [poln. Główna Rada Opiekuńcza]

um einen legalisierten Aufenthalt auf der arischen Seite, um auf keinen Fall ins Ghetto zu müssen. Dieser Schritt jedoch sollte sich als folgenschwer erweisen.

Die Deutschen nutzten ein von Ronikier zur Verfügung gestelltes Verzeich-nis von Neophyten jüdischer Herkunft als Proskriptionsliste und zwangen die dort aufgeführten Personen im Frühjahr 1941 zum Umzug hinter die Mauer.138 138 Darüber schreibt E. Ringelblum in seiner Kronika getta warszawskiego, S. 236.

Hirszfeld wird demnach erst mehrere Monate nach dessen Abriegelung ins Ghetto verlegt. Anfangs verspürt er – außer Mitgefühl – keinerlei Verbunden-heit mit der Gemeinschaft, deren Schicksal er nun teilen soll.

Ich kannte keine Juden und wusste nicht, wie man zu ihren Herzen vordrang. […]

Als Fremder für jenes Volk. Von der Menge als Christ zurückgewiesen. Ich hatte nur mein großes, grenzenloses Mitgefühl. […]

Schon nach wenigen Tagen schickten unsere Freunde falsche Papiere und bestanden darauf, dass wir aus dem Ghetto flohen. Zudem setzte ich meine Bemühungen um Emigration fort. […] (ebd.)

Zusammen mit seiner Familie das Ghetto zu verlassen soll ihm erst gelingen, als die große Liquidierungsaktion schon im Gange ist. Indessen ernennt Czer-niaków ihn zum Vorsitzenden des Gesundheitsrates, und der Professor leitet den Kampf gegen die Fleckfieberepidemie im geschlossenen Bezirk. Er wohnt im Pfarrhaus der Allerheiligenkirche am Grzybowski-Platz, nimmt am katho-lischen religiösen Leben teil, und mit der Bezeichnung „mein Volk“ bedenkt er lieber Polen als Juden. Beispielsweise notiert er mit Stolz Hilfsleistungen von der anderen Seite: „[…] wie mir das Herz aufging, als ich hörte, dass mein Volk, dem die Welt so häufig Antisemitismus vorwirft, gütig war“ (S. 257). Der Auf-enthalt im Ghetto wird für Hirszfeld zu einer Zeit des Lernens und Umdenkens.

Das über Jahre entwickelte Bild seiner eigenen Identität kollidiert brutal mit der Realität der „Endlösung“. Der Autor legt somit die Armbinde mit dem David-stern an, tritt in eine neue Erfahrung ein – „erst im Bezirk lernte ich die jüdische Seele näher kennen“ (S. 271) – doch über Juden schreibt er nach wie vor nicht

„wir“, sondern „sie“.

Die persönlichen Dokumente aus dem Ghetto enthüllen dem Leser die Dimension innerer Empfindungen, die anscheinend keinen Platz innerhalb der durch kulturelle Konventionen regulierten Normen des Sprechens über sich selbst finden. Es geht dabei natürlich nicht um drastische Details aus jemandes Privatleben oder um Sittenskandale, sondern um die radikale und kompromiss-lose Selbstanalyse der Autoren, um ihren Mut, bis zum Grund ihrer vor Schmerz, Angst und Rachedurst schier wahnsinnigen Seele vorzudringen. Unter den zahl-reichen Zeugnissen dieser Art möchte ich zwei Texte mit besonders starker Aus-sage hervorheben: die Tagebücher von Avrom Levin und von Calel Perechodnik.

Avrom Levin schafft eine vielfältige Ansicht des geschlossenen Bezirks; vor allem verarbeitet er eigene Erlebnisse und Beobachtungen, zusätzlich jedoch auch Informationen aus anderen ihm verfügbaren Quellen (bei Levin als Oneg-Schabbat-Mitglied flossen gewissermaßen alle Informationsfäden zusammen).

Sein Ghettobild setzt sich aus Realien zusammen, die sich aus der soliden

faktographischen Schicht seiner Schilderung speisen. Die rasch hingeworfenen, oftmals auf einen Satz oder wenige Satzfragmente reduzierten Notizen – beson-ders charakteristisch bei der eiligen Berichterstattung über die große Liquidie-rungsaktion – lassen eine Welt des Grauens erkennen. Die Dokumentation jener alptraumhaften Wirklichkeit bekommt eine zusätzliche Dimension dank der eigentümlichen Aura eines tatsächlich geträumten Alptraums – eine Projektion der gequälten Psyche des Autors, die sich durch sein gesamtes Schreiben zieht.

Darin genau manifestiert sich das Außergewöhnliche an Levins Zeugnis. Bei ihm ist das Ghetto eine im düsteren Spiegel der Seele gespiegelte Welt. Dieser dunkle Lichtstrahl durchdringt das gesamte Tagebuch, ist immer anwesend, mal an der Oberfläche der Sätze, dann wieder knapp darunter. Manchmal sichtbar, manchmal verborgen, bildet er eine Art Luftmaschenschnur, mit der der Tage-buchschreiber die Notizen der aufeinanderfolgenden Tage verflicht.

Wörter wie „Angst“, „Furcht“, „Grauen“ erscheinen sehr häufig auf den Seiten des Tagebuchs, kehren hartnäckig zurück, wie ein Echo. Manchmal stellen sie gar eine deutliche lexikalische Dominante dar und verdichten die Sprachschicht des Textes durch anaphorische Verbindungen, refrainartige Wiederholungen.

Auf diese Weise wird die Narration quasi von innen gesättigt, nach einem exis-tentialistischen Erzählton gestimmt. Und jener Ton ist  – um den Titel eines bekannten Werkes von Søren Kierkegaard anzuführen – „Furcht und Zittern“.

Die Angst ist ein Attribut der Wirklichkeit, von Raum und Zeit:

Ein Tag der Sorge und Unruhe. […] In den jüdischen Straßen liegt Angst in der Luft (BŻIH 21, S. 125).

Schwärze und Angst – das ist unser Heute und Morgen (S. 137).

Der Alptraum der Realität verdichtet sich unentwegt und verwandelt das Leben in eine Hölle (BŻIH 22, S. 94).

Die Angst ergreift alles und alle, niemand kann ihr entfliehen:

Eine unentwegte Angst treibt uns um […]. Und zerfrisst uns gleich einer Motte („Biu-letyn ŻIH“ 25, S. 124).

Unsere Herzen und Hirne erdrückt eine große Angst (S. 126).

Diese Angst ist Ausdruck einer allgemeinen Erfahrung. Alle empfinden sie, daher sagt Levin im Namen der Gemeinschaft:

Er erdrückt und bedrängt uns schwarze Angst – schreibt er unter dem Datum des 16.

Mai 1942. – Immer näher kommt uns allen der Abgrund, der Schlund einer apokalyp-tischen Bestie, auf deren Stirn folgende Worte geschrieben stehen: Tod, Verwüstung, Vernichtung und Schmerzen der Agonie, ewige Ungewissheit; die ständige Angst ist das scheußlichste aller unserer ohnehin schwer erträglichen und quälenden Gefühle, Wahrnehmungen und Leiden. Falls wir das Ende dieses furchtbaren Krieges erleben,

[…] werden wir feststellen, dass das ständige Verharren in einer Atmosphäre der Angst und Furcht um das nackte Überleben das Schlimmste war, […] das unentwegte Lavie-ren zwischen Leben und Tod, der Zustand, in dem unser Herz jederzeit vor Angst und Furcht zu zerbrechen drohte (BŻIH 19–20, S. 176).

Auch wenn die Formeln eines kollektiven Bekenntnisses der Angst in diesem Textauszug zahlenmäßig die persönlichen Bekenntnisse überwiegen, ist es doch in erster Linie Avrom Levin, der sich hier fürchtet. Seine „Furcht“ und sein „Zit-tern“ notiert er im Tagebuch:

Mittwoch, 29. Juli [1942]. Achter Tag der „Aktion“. […] In manchen Momenten bin ich etwas weniger beunruhigt über mein Schicksal, manchmal werde ich nahezu gleichgül-tig, bis mich plötzlich wieder eine solche Angst vor dem Tod ergreift, dass ich mich dem Wahnsinn nahe fühle (BŻIH 21, S. 130).

Donnerstag, 3. September [1942]. […] Heute war ein unglückseliger Tag. […] Uria und ich haben nur durch ein Wunder überlebt. Gott, was war das für eine Angst, was für ein Gefühl des nahen Todes! (BŻIH 22, S. 98).

Die Tag für Tag verzeichnete Litanei der Angst wird durch einen anderen Themenstrang ergänzt: eine ebenfalls nach Art einer Litanei konstruierte ver-zweifelte Anklage, sich wiederholende Bekenntnisse des Schmerzes und persön-lichen Leids: „Meine Seele kann keinen Trost mehr finden. […] [I] ch verspüre tiefen Schmerz, der für ewig andauern wird“ (BŻIH 22, S. 86), schrieb Levin nach dem Verlust seiner Frau, die bei einer Blockade des Shops in der Gęsia-Straße 30 auf den Umschlagplatz verschleppt worden war. Der Autor wirft sich vor, nicht genügend Mut aufgebracht zu haben, um seiner Frau zu folgen, wie es andere Männer getan hatten, nicht genügend Liebe empfunden zu haben, um gemeinsam mit ihr in den Tod zu gehen. Das Maß an innerer Zerrissenheit, das er damals fühlte, steht bereits außerhalb des Wortes, lässt sich nicht bekennen oder beschreiben. Dennoch versucht Levin nicht, der Schilderung seines Trau-mas auszuweichen. Er will auch die besonders intime und beschämende Erfah-rung des Versagens, der Demütigung, der Erniedrigung in seinem Tagebuch festhalten und weitergeben.

Calel Perechodnik geht noch weiter in seiner radikalen Selbstanalyse, macht sich selbst zum Objekt einer grausamen Vivisektion. Bereits am Anfang, im Vorwort, klassifiziert der Autor in bezeichnender Weise sein Tagebuch:  „Im Grunde genommen ist es die Beichte meines Lebens, eine aufrichtige und ehr-liche Beichte. […] Ich bitte daher, diese Memoiren als letzte Beichte zu betrach-ten“ (S. 17). Alles, was danach kommt, ist eine Ergänzung dieser Aussage. Wir haben es demnach mit einem Text zu tun, dem der Autor vollkommen bewusst die Form eines Bekenntnisses besonderer Art gegeben hat. Die in den Text

eingeschriebene Situation des Bekenntnisses ist um das Wort „beichten“ herum angeordnet. Stellen wir daher nun Überlegungen zur Bedeutung des Sprechaktes an, den dieses Verb impliziert139.

Ein Beichtender verspürt den inneren Drang, eine schlimme Tat, die er selbst vollführt hat, zu gestehen. Dieses Schlimme ist zugleich eine tiefe Wahrheit, die er nicht länger verbergen muss. Das Bedürfnis, die Wahrheit zu bekennen, ist stärker als der Wunsch, die schlimme Tat zu verheimlichen. Jener innere Drang kann religiöser, moralischer oder rein psychologischer Natur sein; ein innerer Impuls zwingt den Menschen, die ganze Wahrheit über sich zu sagen, selbst wenn sie auch eine dunkle Seite beinhaltet. In Perechodniks Fall ist die Beichte nicht religiös motiviert; er stellt fest: „[W] enn ich an Gott, an Himmel, an Hölle, an Belohnung oder Strafe nach dem Tode glaubte, würde ich überhaupt nicht schreiben“ (S. 17).

Perechodniks Beichte ist ergreifend in ihrer Konsequenz. Die Schilderung seines persönlichen Leids vermeidet jeden klagenden oder gar bis zur

Perechodniks Beichte ist ergreifend in ihrer Konsequenz. Die Schilderung seines persönlichen Leids vermeidet jeden klagenden oder gar bis zur

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 138-146)