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Die Briefe der Juden von Płońsk

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 146-153)

Eine eigene Textvariante mit einem stark personalisierten, auf den Ausdruck von Privatheit und Intimität zugeschnittenen Diskurs ist der Brief. Ich abstrahiere hier von der Gattungstradition der Epistolographie, denn ich glaube, dass sie in den Briefen, die ich betrachten möchte, keine große Rolle spielt – handelt es sich dabei doch um Fetzen von Papier, die auf dem Weg zum Vernichtungslager aus Waggons ins Leere geworfen wurden. Im November und Dezember 1942 wurde das Ghetto in Płońsk aufgelöst und die dort versammelten Juden nach Ausch-witz deportiert. Aus den fahrenden Waggons warfen sie Briefe an Verwandte und Bekannte im Warschauer Ghetto. Man weiß nicht, auf welchem Wege diese Briefe zu Ringelblum gelangten, der Abschriften von ihnen anfertigte und sie

dem Warschauer Ghettoarchiv hinzufügte140. An ihrem Beispiel kann man beob-achten, wie angesichts des Todes, in articulo mortis, Privatheit in bruchstückhaf-ter Briefform ausgedrückt wird.

Ein Brief ist eine besondere Zusammenstellung von Wörtern. Intimen Wör-tern, sind sie doch für diese eine, einzige Person gedacht, an die man schreibt.

Es sind fliegende Wörter, da dieses eigentümliche, intime Gespräch zwischen Verfasser und Empfänger auf ein Blatt Papier geschrieben und – im wahrsten Sinne des Wortes – von einem Ort zum anderen getragen wird. Und es sind verfliegende Wörter, sind sie doch der Flüchtigkeit des Augenblicks, in dem sie geschrieben werden, verhaftet. Sie beziehen sich auf eine Situation und auf Umstände, die oft nur dem Verfasser und dem Empfänger bekannt sind. Daher sind sie nur in diesem Kontext verständlich – und auch nur in ihm wesentlich.

Die Wörter in einem Brief sind fliegend auch in dem Sinne, dass mittels der Flugmetapher Hoffnung ausgedrückt werden kann. Ein Brief fußt nämlich auf dem Fundament der Hoffnung. Wer weiß, dass sein Brief den Empfänger nicht erreichen wird, schreibt ihn erst gar nicht. Die kommunikative Hoffnung ist somit notwendige Bedingung dafür, dass ein leeres Blatt mit Schrift bedeckt wird. Und obwohl mancher Brief niemals von seinem Adressaten gelesen wer-den konnte, wäre doch ohne eine diesbezügliche Hoffnung kein Brief jemals ver-fasst worden.

Wenn jemand im Dezember 1942, in einem Viehwaggon auf dem Weg nach Auschwitz, an einen Empfänger im Warschauer Ghetto schreibt und den Brief einfach in den freien Raum wirft – dann ist das so, als glaubte er, durch ein ver-gittertes Fenster den Sternenhimmel erreichen zu können.

Ende 1942 erinnerte das Ghetto kaum noch an den sogenannten Jüdischen Wohnbezirk [eine Bezeichnung der Besatzer; Anm. d. Übers.] von vor dem 22.

Juli selbigen Jahres, in dem die große Liquidierungsaktion begann. Wer geblie-ben war, wohnte nicht mehr in seinem Haus. Zum Schluss waren alle, die eine

„Lebensnummer“141 besaßen, in den Shops, in denen sie ihre Arbeit verrichte-ten, und in zugeteilten Blocks eingepfercht. „Wilde“ oder „Illegale“ versteckten sich. Aufgrund dessen konnte zwangsläufig niemand mehr eine eigene Adresse vorweisen.

140 Ich zitiere nach R. Sakowska: Archiwum Ringelbluma, op. cit.

141 Eine gestempelte Karte, die bestätigte, dass jemand aufgrund seiner Arbeit im Ghetto unabkömmlich war und deshalb von der Deportation verschont bleiben sollte;

Anm. d. Übers.

Miła-, Niska-, Muranowska-, Nalewki-Straße waren die am dichtesten bevöl-kerten Straßen des Restghettos. Alle Briefe, die vom Transport der Płońsker Juden erhalten geblieben sind, tragen solche Adressen: Nalewki 47/19, Niska 6, Miła 46, Muranowska 40/35. Die physische Existenz des Adressaten war in jener Zeit eine illusorische Annahme. Illusorisch war auch die Möglichkeit der tat-sächlichen Zustellung des Briefs an jenen illusorischen Adressaten.

Ab dem 15.  Januar  1941 unterstand die Tätigkeit der Post im Ghetto der Jüdischen Gemeinde. Zu Anfang der großen Liquidierungsaktion führten die Deutschen eine sogenannte Postsperre [im Orig. deutsch] ein – ein Verbot von Postverbindungen mit der Welt außerhalb des Ghettos. Nach einer Woche änder-ten sie die Verordnung und gestatteänder-ten den Postverkehr in eine Richtung. Im Ghetto eintreffende Briefe durften ausgetragen werden. Doch aus dem Ghetto nach draußen durfte man keine Post senden. Während der Deportationen tru-gen rund 400 jüdische Briefträger ununterbrochen Briefe aus. Auf der Straße trugen sie Kappen mit orangenem Band, die sie davor schützen sollten, aufge-griffen zu werden. Auf diese Weise entging jeder Zehnte dem Umschlagplatz.

Was steht in den Briefen der Juden von Płońsk? Was wollten die Menschen, die sich auf direktem Weg nach Auschwitz befanden, ihren Verwandten mittei-len? Wie schreibt man in einer solchen Situation einen Brief?

Am 16. Dezember 1942 warf eine Frau namens Laja auf dem Bahnhof War-schau-Praga einen Brief an jemanden namens L.  Przygoda, wohnhaft Miła-Straße 46, aus einem Waggon. Dieses Haus stand noch, wenn es auch fünf Monate später zusammen mit der gesamten Miła-Straße in Schutt und Asche gelegt werden sollte. Aber das konnte Laja nicht wissen. Schließlich wusste sie nicht einmal, was am nächsten Tag oder in der nächsten Stunde mit ihr selbst geschehen würde. Sie schrieb:

Ich bin an der Haltestelle Praga, schreibe nur schnell ein paar Worte an Euch. Wir fah-ren wer-weiß-wohin. Bleib gesund!

Laja (S. 197)

Ein anderer Brief trägt die Überschrift „Płońsk 16/XII – 42“. Der Verfasser ist unbekannt. Aus dem Inhalt des Briefes geht hervor, dass er gleich nach dem Ver-laden geschrieben wurde, als der Zug sich eben in Bewegung setzte.

Es ist Morgen. Unsere ganze Familie ist im Waggon. Wir machen uns auf unseren letz-ten Weg. Płońsk ist gesäubert. Bitte gehen Sie zu Familie Baum, Niska-Straße 6, und richten Sie Grüße aus (S. 196).

Laja wusste nicht, wohin sie fuhr. Wusste es der, der schrieb: „Wir machen uns auf unseren letzten Weg“?

Der einzige der Płońsker Briefe, der nicht aus einem Waggon geworfen wurde, ist Dinas und Salas Brief an ihre Schwester Rózia im Warschauer Ghetto, datiert auf den 14. Dezember 1942. Wie er ins Ghetto gelangte, konnte nicht festgestellt werden. Er handelt u.a. von einer „letzten Seite“.

Uns scheint, das ist jetzt unsere letzte Seite. Mittwoch um 5 Uhr morgens geht es für uns alle los. Vor uns liegt schon unser bescheidenes Gepäck, und auf dem Bahnhof warten bereits die Waggons. Es ist uns schrecklich weh ums Herz, wenn wir daran denken, dass wir nur noch eine Nacht zu Hause schlafen und danach auf Irrfahrt in die weite Welt gehen. Wer weiß, wohin uns das Schicksal verschlägt, es ist überhaupt schwer, sich unser Leben vorzustellen, was uns erwartet und was wohl werden wird (S. 193).

War diese „letzte Seite“ nicht vielleicht eine Metapher für das Leben, das unwei-gerlich seinem Ende zuging: nur noch eine letzte Briefseite, die beschrieben wer-den musste, es war spät, am nächsten Morgen die Abreise … „auf die Irrfahrt“?

Der Abschied von der Schwester ist ein Aufruf, das eigene Schicksal stoisch zu akzeptieren, aber dennoch nicht die Hoffnung aufzugeben. Auch die entsetz-lichste Wirklichkeit kann den irrationalen Glauben an das Überleben nicht ersti-cken. Zwar lässt sich nicht vorhersehen, was die Verurteilten erwartet, absolut unvorstellbar jedoch scheint nur eins zu sein – die Vernichtung. Der letzte Brief an die Schwester im Ghetto wird daher zu einer Botschaft der Hoffnung, allem Anschein und allen Anzeichen zum Trotz.

Leb also wohl, du Liebste. Ich weiß, dass Du Dich schwer mit dem Gedanken wirst abfinden können, dass Du uns schon verloren hast, aber was können wir tun. So will es das Schicksal, und so muss es sein. Lebe wohl, ich drücke Dich fest an mein Herz.

Hoffentlich sehen wir uns noch wieder. […] Wo immer wir auch sein werden, unsere Gedanken sind immer bei Dir, unsere Liebste. […] Bleib gesund, unsere Einzige! Wir glauben fest daran, dass wir weiterleben und dass wir uns noch wiedersehen! (S. 192).

Ähnlich zu denken scheint Gitla, die während eines Zwischenhalts in Często-chowa einen Brief an die Adresse Muranowska-Straße 40, Wohnung 35, aus dem Waggon wirft. Auf dem adressierten Zettel steht: „Wir sind schon den zweiten Tag unterwegs.“ Und auf der Rückseite, zusammen mit dem Datum „17/XII/ – 42“, folgender Text:

Meine Lieben! Wir sind gerade auf der Durchfahrt durch Częstochowa, also schreibe ich Euch ein paar Worte. Durch Warschau sind wir auch gefahren, es geht zur Arbeit. Seid zuversichtlich! Eine neue Adresse kann ich Euch nicht geben, ich habe sie noch nicht.

Lebt wohl, ich küsse Euch, Eure

Gitla (S. 198)

Man kann sich fragen, wie viel Gitla von dem glaubte, was sie schrieb. War ihre Hoffnung bloß noch eine Figur der epistolischen Rhetorik, eine Aufmunterung

für die Verwandten? Oder diente sie der Selbsttherapie? War sie ein Zeichen für Naivität oder sogar eine beschönigende Lüge, wie sie ein Arzt gegenüber dem todkranken Patienten ausspricht?

Noch schwerer erraten lassen sich die Intentionen eines Mannes namens Dawid, der einen Zettel mit dem Datum „Legionowo, 15. Dezember 1942“ an „War-schau, Nalewki-Straße 47/19“ adressierte und neben die Adresse schrieb: „Bitte freundlicherweise in den Briefkasten einwerfen“. Und ergänzte: „Nachzahlung 18 Groszy“. Hier der Inhalt:

Heute sind wir von Płońsk aufgebrochen, unsere ganze Familie und alle Juden. Gib acht, denn wir fahren zur Hochzeitsfeier.

Auf Wiedersehen Dawid (S. 194)

Dawid bedient sich einer höflichen Formulierung, die beim Versand eines Brie-fes zur Anwendung kommt, bei dessen Zustellung, außer der Arbeit von Post und Briefträger, noch die Hilfe einer anderen Person benötigt wird. Penibel notiert er auch, dass der Adressat beim Empfang würde nachzahlen müssen, um die fehlende Briefmarke auszugleichen. Jenen so genau und fachmännisch adressierten Brief wirft er dann aus dem Waggon, der ihn nach Auschwitz brin-gen wird, ins Leere.

Dawids Text ist der beunruhigendste von allen Płońsker Briefen. Neben all den anderen Mitteilungen an die Empfänger über das Reiseziel – „[Wir gehen]

auf Irrfahrt in die weite Welt“, „Wir machen uns auf unseren letzten Weg“, „Wir fahren wer-weiß-wohin“, „[E] s geht zur Arbeit“ – scheint Dawids Angabe voll-kommen absurd: „[W]ir fahren zur Hochzeitsfeier“. Was kann das bedeuten?

Höhnische Ironie? Einen makabren Scherz? Eine verschlüsselte Warnung?

Wenn er sich schon zu schreiben entschied, wenn er sich irgendwie einen Zettel und Bleistift organisierte und im überfüllten Waggon ein paar Worte zu Papier brachte, wenn er diesen Brief nach draußen zu werfen wagte – warum schrieb er dann gerade das?

Man weiß ungefähr, was später mit Dawid geschah. Die Tötungstechnologie, die gegen ihn angewandt wurde, ist bekannt. Wir können uns alle Etappen des Prozesses vorstellen, dem sein Körper unterzogen wurde. Nur eines wissen wir nicht – und werden es auch nie erfahren: Warum er damals, im Waggon nach Auschwitz, schrieb: „Gib acht, denn wir fahren zur Hochzeitsfeier.“

Das an Dawids Brief so beunruhigend wirkende Geheimnis verweist zugleich auf ein typisches Phänomen des individuellen, privaten Zeugnisses. Es ist der unschätzbare Wert eines solchen Bruchstücks vom Schicksal eines Menschen, das unverhofft in unsere Hände gerät. Die Kraft eines solchen Zeugnisses

offenbart sich eben in jenem Unübersetzbaren, Unerklärlichen, das nicht nicht erraten lässt. Das sich nicht standardisieren oder verallgemeinern lässt, das sich der Statistik entzieht. Es ist fest und undurchdringlich, wie ein Stein. Dawids Brief bleibt ein Geheimnis für uns. Die Unruhe, die er in uns sät, enthüllt einen Spalt, durch den ein Stückchen Wahrheit über den Holocaust hervorschimmert.

Die Texte, in denen sich ein solches oder anderes Abweichen vom personalisier-* ten Diskurs beobachten lässt, sind insgesamt inhomogener als jene, in denen eine Erzählstrategie in der ersten Person dominiert. Die verschiedenartigen Erscheinungsbilder des entpersonalisierten Diskurses haben eine gemeinsame Grundlage: die direkt oder implizit geäußerte Überzeugung ihrer Autoren, sich in einer absoluten Ausnahmesituation zu befinden, die ihnen – gewöhnlichen Privatleuten – eine außergewöhnliche Mission auferlegt. Im Vordergrund dürfe daher nicht das Schicksal des Schreibenden stehen, sondern das Schicksal der Gemeinschaft – ist es doch nicht das Wichtigste, was „ich“ erlebe, was mich per-sönlich betrifft, sondern was mit uns allen, was ringsum geschieht.

Diese überindividuelle Perspektive kommt auch beim personalisierten Dis-kurs vor. Der Ich-Erzähler kann sie andeuten, schließlich ist er fähig zur Ver-allgemeinerung, zu panoramischen Aufnahmen und zu kollektiven Szenen, zu Versuchen, über die persönliche Erfahrung hinauszugehen und das große Ganze zu betrachten. Und so schildern Ludwik Hirszfeld und Calel Perechodnik  – jeder auf seine Weise – allgemeine Szenen der Bevölkerung in den Kriegswirren, Reflexionen über den Sinn der Geschichte, die Erfahrung des Holocaust. Avrom Levin verleiht nicht nur seinen eigenen Ängsten und Schmerzen Ausdruck, sondern schreibt auch über das Trauma der Mitmenschen, in seiner Stimme schwingen Furcht und Zittern der ganzen Gemeinschaft mit.

Für viele Autoren erweist sich die erzählerische Ich-Perspektive jedoch als nicht ausreichend. Sie wollen die individuelle – und somit eingegrenzte – Pers-pektive verlassen, wollen sich aus der direkten Verstrickung in die geschilderte Realität befreien und mit einer gewissen Distanz auf sie blicken, interessieren sie doch vor allem die historischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Prozesse, die Tätigkeit öffentlicher Institutionen in einer Zeit von Terror und Besatzung, die Umformung von Normen und Werten im Leben einer zur Ausrottung bestimm-ten Gemeinschaft, die Mechanismen von Selbstverteidigung und kollektivem Widerstand. Der Umsetzung dieser Ziele scheint am besten mit dem Modell einer Erzählweise in der dritten Person gedient zu sein. Der Autor stellt sich in den Dienst eines gestaltlosen Narrators, zieht sich selbst in den Schatten zurück.

Die gesuchte Distanz ist bereits in die Konstruktion des erzählerischen Akts ein-geschrieben. Der Erzählende bleibt verdeckt, die erzählte Welt wird exponiert.

Die unpersönliche Darstellung der Welt setzt eine andere kognitive Haltung voraus als die Darstellung durch ein konkretes, in jener Welt platziertes Subjekt.

Ihr fehlt der bestimmte, an die Person gebundene Gesichtspunkt, dem der Ich-Erzähler nicht entkommen kann. Ein so angesiedeltes Subjekt wird zum durch-sichtigen Medium, verstellt also nicht mit seiner Gestalt den Blick auf die Welt, sondern ordnet sie sich nur unter. Es ist so etwas wie ein „allwissender Erzähler“.

Wird die Welt von einem solchen Narrator dargestellt, gewinnt sie den Wert der Objektivität. Kommentare und Wertungen werden ebenfalls als objektive Wahr-heiten und nicht als subjektive Urteile übermittelt. Eine solche Platzierung des sprechenden Subjekts verleiht ihm somit eine spezielle Autorität. Diese gründet auf der Überzeugung, hinter einem erzählenden Subjekt, das sich einer solchen narrativen Konvention bedient, stehe ein verpflichtendes System von Ansichten, Bewertungskriterien und Verständnisnormen, kurz gesagt: jenes Subjekt drücke eine objektive Wahrheit aus142.

Indem der entpersonalisierte Erzähler den Fluss der Bilder registriert, die verschiedensten, ineinander verflochtenen Fragestellungen kühl und sachlich analysiert, Daten und Zahlen nennt, Schlussfolgerungen und Bewertungen for-muliert, nimmt er die Gestalt eines über der Welt stehenden Beobachters an.

Er überschreitet den beschränkten Horizont des Individuums, um mehr zu sehen und mehr zu wissen. Seine Stimme wird zur Stimme der Gemeinschaft, die aus der Tiefe der Jetztzeit in Richtung Zukunft spricht. Eine solche Haltung birgt die optimistische Überzeugung, dass die Fundamente der Zivilisation, die geschichtliche Kontinuität, die Bande zwischen den Generationen, wenn auch ernstlich bedroht, so doch noch nicht vollends zerrissen seien. Wer sich im Namen von Menschen, die zur Vernichtung verurteilt sind, mahnend an die der-einst kommenden Bürger einer freien Welt wendet, setzt voraus, dass eine sol-che Kommunikation überhaupt noch möglich sein wird. Der entpersonalisierte Erzähler richtet seine Botschaft an eine ebenso entpersonalisierte Menschheit,

142 Zur Frage der Autorität eines allwissenden Erzählers im realistischen Roman und der Wahrheit im Roman siehe M. Głowiński: „Powieść i autorytety“ [Roman und Autori-täten], in: ders: Porządek, chaos, znaczenie. Szkice o powieści współczesnej [Ordnung, Chaos, Bedeutung. Skizzen zum zeitgenössischen Roman], Warschau 1968; „Powieść i prawda“ [Roman und Wahrheit], in: ders.: Gry powieściowe. Szkice z teorii i histo-rii form narracyjnych [Romanspiele. Skizzen aus Theorie und Geschichte narrativer Formen] , Warschau 1979. Der „allwissende Erzähler“ in der Literatur des persön-lichen Dokuments aus dem Warschauer Ghetto hat jedoch einen – entscheidenden – Makel: In Wirklichkeit weiß er nicht, wie das alles enden und wie sein eigenes Los sein wird.

an unpersönlich begriffene zukünftige Generationen und besonders Fachleute und Spezialisten – Historiker, Richter, Moralphilosophen. Vor allem sie sind es, für die er sein Analysematerial sammelt und Beweise zusammenstellt, glaubt er doch an die Beständigkeit von Institutionen und zivilisatorischen Errungen-schaften wie Recht, Gerechtigkeit, Gerichte.

Der persönliche Erzähler appelliert an reale Personen, nimmt Einfluss auf Emotionen, weil er Emotionen offenbart. Die treibende Kraft bei seinem Schrei-ben ist der Glaube an das Fortbestehen des einzelnen Menschen, was nicht immer gleichbedeutend ist mit einem Sieg der Menschlichkeit und einem Triumph der Gerechtigkeit. Der Appell an den zukünftigen Leser, der zu einem späteren Zeit-punkt die persönlichen Zeugnisse des Autors in den Trümmern finden soll – gleich einer aus dem Meer gefischten Flaschenpost –, klingt daher manchmal wie ein Schrei ins Leere. Ein Schrei, der zur Rache aufrufen, der beunruhigen und keine Ruhe mehr lassen soll. Der Adressat eines so begriffenen Schreibens ist ein Vertreter einer Welt nach der Sintflut, wobei den Autor mehr als ein-mal Zweifel befallen, ob dieser Adressat auch in der Lage sein wird, das Zeugnis anzunehmen, zu erfassen, zu glauben, was er da liest.

Die beiden oben entworfenen Figuren des sprechenden Subjekts und der ihm gegenüberstehenden Adressaten lassen sich nicht exakt und symmetrisch den zwei besprochenen Diskurstypen zuordnen. Sie können in erster oder in zweiter Ordnung auftreten, indem sie zum Beispiel einer objektivierten Narration in der dritten Person eine pessimistische Färbung geben, während sie einen persön-lichen Erzähler mit dem Glauben an eine fortbestehende Ordnung der Welt und an den Sieg der zwischenmenschlichen Solidarität versehen. Auf diese Weise tritt eine stetige Spannung zwischen dem personalisierten und dem entpersona-lisierten Diskurs zutage.

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 146-153)