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Berichte – Rapporte – Arbeiten

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 172-179)

Zum Schluss nun möchte ich das Spannungsverhältnis zwischen dem persona-lisierten und dem entpersonapersona-lisierten Diskurs in Texten untersuchen, die an der Grenze des persönlichen Dokuments angesiedelt sind oder darüber hinausge-hen. Ich denke dabei an Rapporte, Berichte, Arbeiten zu sozialen, wirtschaft-lichen, demographischen Fragen, Feldstudien, Entwürfe von wissenschaftlichen Arbeiten. Manches Mal repräsentieren solcherart Texte eine zweifache Einord-nung: Sie sollen objektives faktographisches Material darstellen, werden dabei jedoch zugleich zum persönlichen Zeugnis des Autors oder der Autoren. Einer-seits versuchen sie, eine wissenschaftlich-dokumentative Funktion zu erfüllen und, wie es die Gattungspoetik besagt, dieses Ziel auf disziplinierte und metho-dische Weise zu erreichen, indem sie sich an vorab formulierte Problematiken und Fragebögen halten, die den Erkenntniswert des gesammelten und bearbei-teten Materials, dessen Vielseitigkeit und Vergleichbarkeit mit anderen Daten garantieren sollen. Andererseits wiederum verleihen die Autoren, die unter dem überwältigenden Ansturm der geschilderten Realität stehen und – nolens volens – ihre Emotionen und Wertungen nicht vom übermittelten Inhalt trennen können, diesen unfreiwillig oder bewusst Ausdruck. In einem Text, der eigent-lich kein subjektives „Ich“ des Erzählers manifest werden lassen sollte, kommt dennoch das persönliche „Ich“ des Autors zum Vorschein.

Die überwältigende Mehrheit von Dokumenten dieses Typus entstand rund um die Gruppe Oneg Schabbat – eine geplante Entwicklung. Emanuel Ringel-blum, der in seiner Kronika die Arbeitsweise und den Interessensbereich der Gruppe beschreibt, nennt dort auch deren Prinzipien und methodologischen Direktiven, wobei er die angestrebte „Objektivität“ betont, den Wunsch, „ein möglichst genaues und vielseitiges Bild der Ereignisse zu erhalten“ sowie das Ideal, dass „möglichst viele Menschen dieselbe Begebenheit schildern, […]

damit die historische Wahrheit, der tatsächliche Ablauf der Ereignisse herausge-schält wird“ (S. 479). Informationen für die weitere Bearbeitung wurden mithilfe

von Fragebögen, Interviews, Gesprächen zusammengetragen, wobei der wahre Zweck dieser Befragungen vor den Gesprächspartnern verborgen gehalten wurde, handelte es sich doch um Untergrundarbeit. Interessant ist, dass Ringel-blum, der doch solchen Wert auf Objektivität legte, den Ausdruck persönlicher Empfindungen nicht nur gestattete, sondern sogar dazu anregte.

Wir waren immer bemüht, dass der Bericht über jedes Ereignis die Zeichen des Unmit-telbaren, des echten Erlebens trug. Deswegen sind die Materialien von „Oneg Schabbat“

auch so von Subjektivität durchtränkt (S. 483).

Die Verschiedenheit der Dokumente all jener Menschen, die sich zu jener Zeit an den Tätigkeiten des Ghettoarchivs beteiligten, ist enorm. Professio-nelle Abhandlungen wurden in Auftrag gegeben, Dokumentationen angeregt, die Mitarbeiter bekamen bestimmte Forschungsbereiche zugeteilt, man trug Informationen und Quellenmaterial zusammen und unterzog es einer ersten Bearbeitung. Das Ergebnis waren Arbeiten und Berichte auf der Grundlage von Gesprächen mit den Flüchtlingen, die im Ghetto eintrafen. Monographien wurden nach einem eigens hergestellten Konspekt verfasst, die Irrfahrten von Flüchtlingen geschildert, Arbeiten zum Überfall Deutschlands auf Polen 1939 geschrieben, Materialien über Lager und Gefängnisse zusammengetragen. Die Berichte von Rückkehrern aus Arbeitslagern – und später von Geflüchteten aus Konzentrationslagern – wurden festgehalten. Kinder wurden befragt, Textwett-bewerbe organisiert, die Tätigkeit von Hauskomitees, Volksküchen, Gesund-heitsdiensten dargestellt. Die Autoren waren manches Mal auch Schriftsteller, die die unpersönliche Form des Berichts mit einer erzählerisch gestalteten Form der Reportage kombinierten und ihren Texten durch die Einflechtung persön-licher Erlebnisse Merkmale eines individuellen Stils verliehen.

Des Weiteren wurden Berichte erstellt über die Arbeit verschiedener Insti-tutionen und Zentren für soziale Hilfsleistungen. In einem dieser Berichte  – verfasst von einer Betreuerin im Kinderhort eines Heims für Umsiedler an der Sliska-Straße 28, Estera Karasiówna – prallen zwei Perspektiven aufeinander: die amtliche und die individuelle. Die Dynamik des persönlichen Bekenntnisses bricht die bürokratisch-trockene Form des Berichts über die dienstliche Tätig-keit auf. Karasiówna bemüht sich, die Poetik des amtlichen Gebrauchstextes zu wahren, und arbeitet deswegen sachliche Schilderungen von Aussehen, Möb-lierung, Tagesordnung des Hortes ein, beschreibt den Charakter der betreuten Kinder und gibt am Textende unter dem Stichwort „Was kann wie verbessert werden?“ ihre Schlussfolgerungen und Desiderate bekannt. Dennoch ist nahezu jeder Satz von Emotionen durchtränkt, hinter jedem Satz steht das Erleben der Autorin. Ihr Bericht ist keine emotionslose Inventarisierung, sondern die

Schilderung eigener Erfahrung. Geformt wird diese Erfahrung durch triviale Details aus dem alltäglichen Elend des Ghettos, durch die konkrete Welt, die Welt der Dinge:  ein Eimer mit Grütze, Spucknäpfe statt Tellern, zerbrochene Scheiben, Öfen und Ofenrohre, Brot mit Marmelade, krätzebefallene Hände, die beim Waschen schmerzen. Estera Karasiównas konsequent in der ersten Per-son Singular verfasster Bericht verwandelt sich in die öffentliche Beichte164 eines verzweifelt hilflosen Menschen, der jedoch unermüdlich darum kämpft, „an die hundert Kinder, Menschen einer lichteren Zukunft, aus dem Sumpf zu ziehen“

(S. 105).

Durch die gemeinsamen Bemühungen der Gruppe Oneg Schabbat entstan-den Rapporte, die später auf konspirativem Wege der restlichen Welt übermittelt wurden. Zu den hochrangigen Texten zählt der Bericht der vereinigten Unter-grundorganisationen des Ghettos an die polnische Exilregierung in London und die alliierten Regierungen vom 15. November 1942 mit dem Titel The Liquidation of Jewish Warsaw. Von Jan Karski in den Westen gebracht, spielte jener Bericht eine internationale Rolle und wurde für die polnische Exilregierung zur grund-legenden Wissensquelle über die Judenvernichtung in polnischen Gebieten.

Verfasst worden war er von führenden Köpfen der Oneg-Schabbat-Gruppe: Rin-gelblum, Gutkowski, Wasser. Fachmännisch verfertigt und mit zahlreichen Dia-grammen, Tabellen, statistischen Darstellungen und Anhängen versehen, stellt dieser Bericht den ersten Versuch einer monographischen Erfassung des damals noch andauernden Vernichtungsprozesses dar – seines Verlaufs, seiner Mecha-nismen, seiner Folgen.

Bei all seinen unschätzbaren inhaltlichen Werten verbindet jener Rapport auf geschickte Weise eine berichtende Narration mit einer beinahe episch angeleg-ten Geschichte der Tragödie eines Volkes. Zahlenkolonnen, eine Quellendoku-mentation, Aufzählungen von Namen, Institutionen, Städten und Dörfern – all das ist hier in einen Diskurs eingebunden, der sich häufig poetischer Bilder und Metaphern bedient, der auch Emotionalität und Pathos nicht scheut. Eine Sta-tistik der Deportationsopfer, unterteilt nach Geschlecht und Altersgruppen, mit einer pedantischen Unterscheidung nach Todesarten – natürlicher Tod, Selbst-mord, Erschießung – steht direkt neben expressiven, schmerz- und zornerfüllten

164 Charakteristischerweise verwendet Ringelblum für derartige Texte die Bezeichnung

„Beichte“. Er bemerkt, dass ein dem Ghettoarchiv übergebener Bericht über die Arbeit der Sanitärabteilung „aus der Feder eines Mitglieds der Desinfektionskolonne den Charakter einer Beichte“ habe (Bd. 1, S. 488).

Darstellungen von zum Umschlagplatz verschleppten Opfern oder grauenvollen Szenen aus Treblinka.

Die ersten Sätze des Berichts exponieren auf ganz eigene Weise jenes Drama, leiten das Epos von den polnischen Juden ein:

Im Leuchten des unvergleichlichen polnischen Herbstes glänzt und flirrt eine Schicht von Schnee. Dieser Schnee ist der nichts anderes als die Federn und der Flaum aus jüdischem Bettzeug, das 500 000 „nach Osten“ evakuierte Juden mit ihrem sämtlichen Hab und Gut – von Schränken, Truhen und Koffern voller Wäsche und Kleidung bis hin zu Schüsseln, Töpfen, Tellern und anderen Haushaltsdingen – zurücklassen muss-ten. Die herrenlosen Dinge […] liegen in wilder Unordnung […], sie sind bedeckt von jenem Schnee aus der Zeit des vielfachen deutschen Mordes an den Warschauer Juden – von den herausquillenden Eingeweiden jüdischen Bettzeugs. […] Verstohlen huscht ein wandelndes Gerippe eine Häuserwand entlang, blutbespritzt sind die Pfastersteine, Rauch und beißender Brandgeruch erhebt sich von glimmenden und erlöschenden Feuern in den Straßen – all das gibt dieser Todesstadt, in der vor dem schrecklichen 22.

Juli innerhalb zehn Kilometern Ghettomauer fast 370 000 Juden vor sich hinveregtier-ten, das passende Kolorit.165

Die Konstruktion jenes Textabschnitts mit seinem Gegensatz aus allgemeiner Perspektive und Detailaufnahme, mit der eingeflochtenen Figur der Enumera-tio, mit einem wirkungsvoll dosierten Überraschungseffekt deutet auf bestimmte Regeln hin, die den Diskurs des Rapports lenken. Eine dieser Regeln ist unzwei-felhaft das Prinzip der Gegenüberstellung von Metapher und konkreter Beschrei-bung, plastischem Bild und Zahl. Eine andere Regel ist die Kombination zweiter Perspektiven: der kollektiven und der individuellen, der objektivierten und der subjektivierten, persönlichen Perspektive.

Die schmucklose Poetik des objektiven und fachkundigen Gebrauchstextes mit berichtend-informativem Charakter hält dem Ansturm der zu schildernden Realität nicht stand. Die protokollarische, vom Prinzip her entpersonalisierte Aussageweise prallt auf den Drang, Emotionen, Urteilen, Wertungen Ausdruck zu verleihen und auch einen individuellen Blick, eine eigene Subjektivität zu manifestieren. Um es mit Ringelblums Worten zu sagen: Der Text ist „durch-tränkt von Subjektivität“. In die intime Sphäre dringt die Geschichte ein, die Pri-vatheit wird öffentlich gemacht, und die persönliche Erfahrung gewinnt unter solchen Bedingungen einen universalen Wert. Daher mischen sich hier auch der persönliche und der unpersönliche Diskursverlauf. Ein Dokumentationstext, ja selbst die einfachste Verzeichnung von Fakten wurde schließlich im Ghetto zu einem heroischen persönlichen Akt.

165 R. Sakowska: Archiwum Ringelbluma, op. cit., S. 275.

Zwei einander ergänzende Fragen begleiten die Erörterungen in diesem Kapi-tel. Eine Frage betrifft die Ausdrucksmittel und -möglichkeiten der Autoren, die andere betrifft die Haltungen des Forschers zu den untersuchten Texten.

Also:  Wie ist das Ghetto zu beschreiben und welche interpretative Fährte ist einzuschlagen, damit die Aufzeichnungen dieser Erfahrung begreiflich gemacht werden können?

Hier möchte ich mich zunächst mit dem Motiv des Fensters und der Situation des Hinausschauens befassen. Philippe Hamon, der vor allem die Romane Émile Zolas erforscht, kommt zu dem Ergebnis, dass jenes Fenstermotiv eines von vie-len verbreiteten Signavie-len sei, die einer solchen Beschreibung einen Untergrund bieten. Der realistische Diskurs unterliege verschiedenen Beschränkungen auf-merksam, auf die Hamon das Augenmerk lenkt, indem er die Einleitungssitu-ation zu dieser Beschreibung als „leere Thematik“ bezeichnet. Fülle man die leere Thematik durch Beschreibung auf, führe das zu einer paradoxen Situation, beziehe sich doch dann der Text zunehmend weniger auf die außertextuelle Realität als auf sich selbst. Daher müsse die Beschreibung notwendigerweise in einen bestimmten Motivationsrahmen eingebaut werden, wodurch sich wiede-rum das Netz innertextueller Verbindungen verdichte.

Das Fenstermotiv als narrativer Kunstgriff zur Einführung einer Beschrei-bung konstituiere eine auf den beschriebenen Gegenstand gerichtete Blicksitu-ation. Damit sei die Beschreibung abhängig vom Blick des Beschreibenden, sie sei von diesem Blick motiviert. Das Fenster werde somit zum Zeichen für diese Art von Beschreibung, der Blick wiederum zum speziellen Vehikel der Beschrei-bung, das diese im Diskurs ansiedle und untermauere166. Das Fenstermotiv, das deutlich die Augenzeugenschaft akzentuiert, kann als spezielles Emblem jenes Literaturbereichs gelten – der Literatur des persönlichen Dokuments –, wie wir nach Roman Zimand Texte nennen, die „die Welt der Augenzeugenschaft“167 betreffen.

Für den Forscher eröffnet die Formel des Durchs-Fenster-Schauens einen der möglichen Wege, auf denen er zur in einen Text eingeschriebenen Holocaust-erfahrung vordringen kann. Diese Formel enthüllt die Organisationsweise des

166 Nach der polnischen Übersetzung von Ph. Hamon: „Qu’est-ce qu’une description?“, in: „Poétique“ 12 (1972), S. 465–485.

167 R. Zimand: Diarysta Stefan Z., op. cit., S. 17–18.

Textes in der Materie Sprache und deckt den Ausdruckstypus auf. Damit gibt sie zugleich dem Interpretationsprozess eine gewisse Richtung vor, umreißt den Rahmen des Textverständnisses.

Die Blicksituation, die sich auf den beschriebenen Gegenstand richtet, bestimmt nicht nur die Erzählweise, sondern charakterisiert auch die kognitive Haltung des Autors der Welt gegenüber. Auch gibt sie Hinweise auf seine indivi-duelle Art der Realitätswahrnehmung und auf die Form, in der diese verzeichnet und übermittelt wird. Entscheidend scheinen hierbei zwei Momente: die Beto-nung der Augenzeugenschaft beim persönlichen Zeugnis auf der einen Seite und der Konkretheit des gewissermaßen empirisch – mittels direkter Beobachtung – erlangten Bildes auf der anderen Seite.

Eine nach diesen Grundsätzen konstruierte Botschaft besitzt höchste Glaub-würdigkeit. Eines der Prinzipien des Allgemeinwissens, das Autor und poten-zieller Leser teilen, ist schließlich die Überzeugung, ein Sinneszeugnis könne nicht täuschen, in letzter Instanz seien unsere Sinne die Garanten für die Wahr-heit unserer Erkenntnis. Der „ungläubige Thomas“ muss erst berühren, bevor er glauben kann. Die Formel der Augenzeugenschaft ließe sich wie folgt paraphra-sieren: Was ich beschreibe, existiert wirklich; es ist etwas Reales, das man sehen, berühren, messen kann, das eine ganz bestimmte Gestalt besitzt – seine eigene Form; was ich beschreibe, ist die Wahrheit, denn ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Schließlich täuschen Blick, Berührung und Gehör nicht – um es mit Czesław Miłosz’ Worten aus seinem Gedicht „Nadzieja“ [Hoffnung] zu sagen.

Der Blick durchs Fenster lässt sich demnach als metaphorische Umschreibung einer bestimmten interpretativen Haltung bezeichnen. Sie lenkt den Interpreten auf die Gegenständlichkeit der Welt, gibt ihm vor, die durch den Text evo-zierte Schicht des Aussehens der Dinge zu beachten, misst dem Konkreten eine besondere Bedeutung bei. Dieser Fährte folgend, möchte ich zunächst beim Motiv des Fensters verweilen. Als Nächstes sollen ausgewählte Beschreibungs-sequenzen erörtert werden. Hinsichtlich ihres Gehalts (Inhalts) lassen diese sich in drei Themenstränge einteilen168. Zum Anfang möchte ich die Darstellung von

168 Die Themen der analysierten Beschreibungen behandle ich – jedenfalls bis zu einem gewissen Grade – so, wie es die sog. thematische Kritik [franz.: critique thématique;

Anm. d. Übers.] tut: als Element der Erfahrung und des Erlebens, das in Gestalt eines Bildes im Text verzeichnet ist und das zugleich die Kategorie darstellt, mittels derer der Autor die Welt erfasst und durch die seine Persönlichkeit am vollständigsten zutage tritt. Siehe M. Głowiński: „Wprowadzenie (do przekładów francuskiej kytyki tematycznej)“ [Einführung (in die Übersetzungen der französischen thematischen Kritik)], in: „Pamiętnik Literacki“ 1971, Heft 2, S. 177.

Personen betrachten, anschließend die Todesszenen, zum Schluss die Leich-name.

Das Fenster

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 172-179)