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Horowitz – Sznapman – Puterman

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 153-159)

Das fast 250 Seiten zählende Manuskript Przesiedlenie w zaświaty [Umsied-lung ins Jenseits] ist mit den Initialen „B.H.“ unterzeichnet, die wahrschein-lich Beniamin Horowitz zuzuordnen sind143. Er war der Leiter einer Abteilung

143 Auf diese – hypothetische – Weise löst ein Informationsblatt einer Archiveinheit aus der Gruppe „Pamiętniki“, Sign. 121, im Archiv des Jüdischen Historischen Instituts die Frage der Initialen. Michał Grynberg belässt sie in Auflage 1 der von ihm bearbeiteten Anthologie als nicht entziffert, in Auflage 2 gibt er unter Berufung auf Informationen von Antoni Marianowicz an, B.H. sei Beniamin Horowitz, siehe Pamiętniki z getta warszawskiego, op. cit., S. 371.

der Versorgungsanstalt der Jüdischen Gemeinde und betätigte sich auch bei der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe [poln.: Żydowska Samopomoc Społeczna;

jiddisch: Yidishe Sotsyale Aleynhilf]. Er stellt eine fundierte Orientierung im gesellschaftlichen, administrativen und wirtschaftlichen Leben des Ghettos unter Beweis, kennt sich auch bei rechtlichen Problematiken und Fragen zu Wirtschaft und Handel sehr gut aus, wovon zum Beispiel eine interessante Analyse der Tätigkeit von Steuereintreibern und Zwangsverwaltern oder die Darstellung eines komplexen Systems zur Abschöpfung illegaler Gewinne zeugen. Kurz gesagt, der Autor ist vom Fach. Er hat Zugang zu zahlreichen Informationsquellen, er hat Einblick in die Arbeitsweise vieler Institutionen, kennt alle wichtigen Offiziellen des Ghettos. Dieses Wissen, diese Profes-sionalität verleihen ihm Überlegenheit gegenüber dem durchschnittlichen Ghettobewohner. Der Autor nutzt seine privilegierte Stellung und bemüht sich, in einem Panoramablick die gesamte Besatzungszeit, soweit sie seiner Erfahrung zugänglich ist, zu erfassen. Er will nicht allein Fakten wiederge-ben, sondern sich an einer Problematisierung der angeschnittenen Fragen versuchen.

Horowitz ordnet seinen Text als „Reportage“ ein und deklariert den folgen-den kompositionellen Gedanken:

Die vorliegende Reportage soll die dem Autor zugänglichen Materialien sowie seine persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen in den Jahren 1939–1944 offenlegen.

Aus technischen Gründen teilt sich der Inhalt in drei Abschnitte: (a) die Beziehung der Deutschen zu den Juden; (b) die wechselseitige Beziehung zwischen Polen und Juden;

c) das innere Erleben der jüdischen Gesellschaft. […] Diese drei Aspekte des Gesche-hens anzusprechen und dabei zugleich strikt die chronologische Ordnung einzuhalten, schien wenig zielführend, hätte diese Vorgehensweise doch die Bedeutung jeder einzel-nen Fragestellung verdunkelt. Bei der einzeleinzel-nen Besprechung jeder dieser Fragen ist es jedoch nicht immer gelungen, Rückgriffe und kleine Wiederholungen zu vermeiden („Pamiętniki“, Sign. 121, S. 8).

Wir haben hier also einen Text mit durchdachter Konstruktion, dessen Autor sich seiner eigenen schreibenden Handlungen in hohem Maße bewusst ist.

Indem er seiner „Reportage“ eine chronologisch-inhaltliche Ordnung verleiht, wählt Horowitz die für diese Art von Narration angemessenste Methode. Das sprechende Subjekt verschwindet aus dem Blickfeld. Die Narration ist objekti-viert, besitzt häufig einen trockenen, amtlichen Stil bar jeglicher Emotionen. Im Tagebuch hingegen dominiert die gemeinschaftliche, historische Zeit (die Schil-derung der Geschichte der Warschauer Juden unter der Besatzung) und nicht die private Zeit der persönlichen Erlebnisse. Auch kommen wenig direkte per-sönliche Reflexionen vor.

Hierbei sollte auch das Schicksal des Textes und der Einfluss beachtet werden, den es auf die Entwicklung seiner Gestalt gehabt haben muss. Die erste Version von Horowitz’ „Reportage“, an der er im Untergrund laufend weiterschrieb, ging verloren. Der Autor schrieb den ganzen Text im Juli 1944 aus dem Gedächtnis noch einmal auf, immer noch im Versteck. Auch diese Version ist nur in Teilen erhalten, sodass Horowitz den verbleibenden Textteil zum wiederholten Male aus dem Gedächtnis niederschrieb und um Neuigkeiten ergänzte, die er erst nach der Befreiung erfuhr. Im Jahr 1946 korrigierte er seinen Text (im Manu-skript sind Streichungen, Kürzungen, stilistische Korrekturen zu sehen) und ver-sah ihn, sicherlich in Vorbereitung auf eine Veröffentlichung, mit Anmerkungen unter dem Namen „Władysław Pawlak“. Auf der Titelseite des Manuskripts steht nämlich:  „Verlagsgenossenschaft »Wiedza« 1947“. Der Text wurde mit einer kurzen Einleitung versehen, datiert auf „Juni 1946“, und auch mit einem Zen-surstempel zur Genehmigung von Satz und Druck. Im Text selbst finden sich zahlreiche Spuren des Zensurstifts. Przesiedlenie w zaświaty wurde dennoch nie veröffentlicht.

Die Version, die bis in heutige Zeiten erhalten geblieben ist, stellt somit eine Art Palimpsest dar. Sie trägt nicht nur die Spuren von mehreren Schreibperio-den, sondern auch von redaktionellen Arbeiten und sogar Eingriffen durch die Zensur. Diese Phasen der Umgestaltung, Vervollständigung, Redaktion schwä-chen zusätzlich die Spontaneität der von vornherein kühl angelegten, emotions-losen und der geschilderten Welt distanziert gegenüberstehenden Aufzeichnung.

Über Stanisław Sznapman, dessen gerettetes Tagebuch Helena Boguszewska und Jerzy Kornacki nach dem Krieg dem Archiv des Jüdischen Historischen Ins-tituts übergaben, ist praktisch nichts bekannt. Der Text erklärt ebenfalls nichts, zieht sich sein Autor doch programmatisch in den Schatten zurück, schreibt nichts über sich selbst. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass er sich bis Juli 1943 im Ghetto aufhielt und anschließend auf die arische Seite hinübergelangte, wo er unter ungeklärten Umständen den Tod fand. Der Titel, den Sznapman seinem Text gab – Dziennik z getta [Tagebuch aus dem Ghetto] – suggeriert fälschlicher-weise, es handle sich um laufende Aufzeichnungen. Tatsächlich jedoch beginnt der Verfasser erst in seinem Versteck auf arischer Seite zu schreiben, wobei er die zeitliche Distanz zu den beschriebenen Ereignissen deutlich macht. Er fer-tigt keine täglichen Notizen an, sondern schildert seine Erinnerungen und stellt Erörterungen an, nimmt dabei sehr klar eine überindividuelle Perspektive ein.

Die Privatheit des Autors ist äußerst reduziert und der öffentlichen Sphäre, der öffentlichen Zeit untergeordnet. Mit seinem Blick möchte der Autor das Ganze erfassen und der Narration einen objektivierten, verallgemeinernden Ton geben, der Reflexionen mit der Registrierung von Fakten verbindet.

Sznapmans Tagebuch ist der Gemeinschaft gewidmet, nicht der Person des Autors, der das Schicksal der Gemeinschaft teilt und beschreibt. Der Erzähler bemüht sich, neutraler Beobachter zu sein, der die Ereignisse, deren Zeuge er wird, schildert und kommentiert. Daher rühren sicherlich die vielen unper-sönlichen narrativen Formeln144. Außer ihnen findet noch das kollektive

„Wir“ Anwendung – ein anderer Ausweg aus der persönlichen Narration. Eine Erzählperspektive der ersten Person Plural bedeutet die Manifestation einer Schicksalsgemeinschaft. Auch stellt sie für den Verfasser eine indirekte Aus-drucksmöglichkeit für starke Emotionen dar, die er ansonsten konsequent ver-birgt, deren Offenbarung er sich nicht gestattet: „Hoffnung hält Einzug in unsere Herzen. Vielleicht werden wir doch noch ein Wunder erleben. Wir möchten so sehr überleben und die Niederlage der Bestie mit ansehen“ (Pamiętniki z getta, S. 141).

Charakteristisch für Sznapmans Tagebuch ist die zutiefst pessimistische Reflexion über die menschliche Natur und Geschichte, die der Verfasser in die Narration einarbeitet. So bringe die Situation des Holocaust im Menschen Egoismus hervor, beraube ihn jeglicher höherer Gefühle und degradiere ihn.

Die Geschichte hingegen gewähre weder Opfern noch Henkern Gerechtigkeit, stattdessen werde die Wahrheit über den Holocaust zum Gegenstand der Mani-pulation, wohingegen sich die Verbrecher der Gerechtigkeit entziehen und rein-gewaschen würden. Schließlich würden sich die Mörder für das geraubte Geld irgendwo in den warmen Ländern Südamerikas ein sicheres Asyl kaufen. Diese bitteren Worte voll beißendem Sarkasmus schrieb ein Mensch, der nicht mehr miterleben durfte, wie sich seine düstere Prophezeiung nach Kriegsende tatsäch-lich erfüllte.

Samuel Puterman, Funktionär beim Ordnungsdienst im Ghetto, wendet in seinem Tagebuch Methoden an, die eigentlich charakteristisch für Romane des klassischen Realismus sind. Er konstruiert einen allwissenden Erzähler in der dritten Person, dessen Geschichte über das Ghetto sich in vielen verschiedenen Akten abspielt. Die durchdacht angelegten Szenen mit plastisch gezeichneten Figuren und Dialogen besitzen eine eigene innere Dramaturgie. Ihre Form ver-rät, dass dem Autor die literarische Praxis geläufig sein muss; er ist sich der Funktion einer sparsamen Erzählweise, knapper und klarer Dialoge bewusst,

144 Zum Beispiel: „Die Bevölkerung atmete auf. Man begann, auf die Straße hinauszu-gehen und die Verheerung zu betrachten“ (Pamiętniki z getta, S. 23); „Die Menschen wurden auf Wagen platziert und zum sogenannten »Umschlagplatz« abtransportiert.

Dort lud man sie in Güterwaggons“ (S. 95).

kann bei einem einzelnen Detail verweilen, an entsprechenden Stellen verstum-men, Dinge unausgesprochen belassen oder aber expressiv hinausrufen. Wie es sich für einen allwissenden Erzähler gehört, gibt er den Gedankenfluss seiner Figuren wieder.

Puterman verfügt über ein weit verzweigtes Wissen über die Realität und die verschiedenen Gestalten des Ghettos. Er besitzt Scharfblick und eine besondere Fähigkeit, klare Portraits zu zeichnen, achtet auf eine genaue zeitliche und räum-liche Einordnung der geschilderten Begebenheiten, auf die getreue Wiedergabe der Topographie. Somit entsteht ein literarisch ausgefeiltes Bild des geschlosse-nen Bezirks, das an vielen Stellen an eine erzählerische Reportage erinnert. Der Reporter bleibt weit hinter der dargestellten Realität verborgen.

Ich möchte mich nun näher mit einer Szene befassen, die einen der Kul-minationspunkte jener literarischen Reportage darstellt. Darin betreten am 22.  Juli  1942 drei Männer das Büro des Gemeindevorsitzenden Adam Czer-niaków:  SS-Sturmbannführer Höfle  – Befehlshaber des soeben von Lublin in Warschau eingetroffenen Vernichtungskommandos, SS-Obersturmführer Karl Brandt – Referent für Judenangelegenheiten bei der Warschauer Gestapo, und Oberscharführer Mende. Sie geben den Deportationsbefehl an den Vorsitzenden weiter und legen ihm eine entsprechende Bekanntmachung zur Unterzeichnung vor. Wir Leser werden nun also Zeugen einer Szene, von der niemand, außer den vier Beteiligten, etwas wissen konnte. Der Autor nennt den Ort des Geschehens, schildert das Verhalten der Beteiligten, macht auf charakteristische Details auf-merksam, schafft eine Atmosphäre.

Eine Moment lang herrschte ungetrübte Stille, die Julisonne schien durch die bunten Glasfenster145 und warf regenbogenfarbene Flecken an die Wand des Arbeitszimmers.

[…] Brandt wippte rhythmisch mit seinem glänzenden Schuh und schlug mit der wei-ßen Papierrolle den Takt dazu. Der Vorsitzende saß unbewegt da. Sein Gehirn hinter der hohen Stirn arbeitete auf Hochtouren (Pamiętniki z getta, S. 93).

145 Das Detail mit den Buntglasfenstern verrät eine ausgezeichnete Kenntnis der Realien.

Czerniaków hatte tatsächlich für sein Büro Buntglasfenster mit biblischen Szenen bestellt, die ein Künstler namens Śliwiak Anfang Februar 1942 anfertigte. Czerniaków war sehr zufrieden mit dieser Arbeit: „Sie sind sehr schön gelungen“, schrieb er am 4. Februar 1942 (S. 223) – und am 12. Februar lautet der Eintrag: „Ein schöner Tag.

Die Sonne reflektiert wunderbar durch die Glasfenster in meinem Arbeitszimmer“

(S. 225–226). Es ist wenig wahrscheinlich, dass Puterman jene Einträge Czernia-kóws kannte, dennoch ähneln beide Textstellen über die Fenster einander auf myste-riöse Weise.

Wir verfolgen die Gedankengänge des Vorsitzenden mit, die im Kontrast zu dem trockenen Befehlston stehen, den die Gestapomänner ihm gegenüber anschla-gen. Czerniaków schweigt noch immer, wird jedoch bald antworten müssen.

Unerbittlich rückt der Moment der Entscheidung näher. An dieser Stelle wech-selt der Erzähler in die erlebte Rede:

Czerniaków griff nach Papier und Feder. Etwas in ihm schrie, lass es, um Himmels wil-len, tu es nicht. Das verflixte Herz, wie es schlägt. Ich muss jetzt etwas sagen. Er seufzte tief, holte Atem und schaffte es, seine Stimme, wie ihm schien, sehr ruhig klingen zu lassen (S. 94).

Die dramatische Szene endet mit einer lakonisch vorgebrachten Information über Czerniakóws Selbstmord, einschließlich einem charakteristischen bewer-tenden Kommentar des Erzählers.

Das Gesicht des Vorsitzenden war bleich, doch zeichnete sich ein Lächeln auf ihm ab.

Das befreiende Lächeln des Todes. Der Vorsitzende hatte sich mit einer winzigen Dosis Zyankalipulver vergiftet. Das mitfühlende Herz Adam Czerniakóws, Ingenieur und Vor-sitzender der größten jüdischen Gemeinde Europas, hatte zu schlagen aufgehört (S. 94).

Dieses Beispiel beweist die literarische Gewandtheit des Verfassers (man bedenke den raffinierten Kunstgriff der erlebten Rede!) sowie das Spektrum des künstlerischen Effekts, den er bewusst anstrebt – und sei es auf Kosten der „har-ten Fak„har-ten“. Czerniaków vergiftete sich in seinem Büro nämlich nicht am ers„har-ten Tag der Deportationen (und von jenem Tag, dem 22. Juli 1942, als die Gestapo den Vorsitzenden offiziell über den Beginn der Deportationsaktion in Kenntnis setzte, handelt die analysierte Szene), sondern einen Tag später. Puterman denkt jedoch in dramaturgischen Kategorien, sieht sich in gewissem Sinne als Regis-seur der geschilderten Wirklichkeit.

Erst im hinteren Teil des Tagebuchs, bereits mit der Perspektive des Kriegsen-des, erscheint das narrative „Ich“. Jener Ich-Erzähler ist ohne Zweifel Puterman selbst, der erst jetzt sein Gesicht zeigt. Er hatte sich auf arischer Seite versteckt.

Nach dem Warschauer Aufstand nach Sachsenhausen und Oranienburg depor-tiert, kehrt er gleich nach der Befreiung nach Warschau zurück. Er ist endlich frei, doch die Freiheit kommt zu spät. In den Trümmern erwartet ihn niemand mehr. Mit der ganzen Kraft des persönlichen Bekenntnisses verleiht Puterman seinem privaten Schmerz Ausdruck. Er legt die Maske des unpersönlichen nar-rativen Mediums ab, spricht nur noch von sich selbst und über sich selbst:

Es ist niemand da! Und so viele Menschen ringsum. Ich bin zurück, ich habe überlebt […], doch es gibt niemanden, der sich darüber freut. Ich ging mit klopfendem Herzen, in dem das Blut heiß wallte. […] Ich war in die Freiheit zurückgekehrt, doch du warte-test nicht vor dem Haus auf mich, nahmst nicht bei meinem Anblick freudig die Hände

vom Gesicht. Keine grünen Augen leuchteten auf vor Glück. Zur Begrüßung schlug mir nur der noch nicht verwehte Brand[geruch], starrten mir die leeren Augenhöhlen des zerstörten Hauses entgegen (S. 239).

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 153-159)