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Kula – Ringelblum – Landau

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 159-172)

Im Vorwort zu Ludwik Landaus Kronika lat wojny i okupacji [Chronik der Kriegs- und Besatzungsjahre] äußert sich Witold Kula bewundernd über den unpersönlichen Tonfall, den der Autor dieses monumentalen Werkes anschlägt.

Die verschiedenen Niederschriften aus den Besatzungsjahren wiesen nahezu ausschließlich den Charakter eines Tagebuchs auf, nicht jedoch einer Chronik, stellt Kula fest und meint damit wohl, dass im Tagebuch das persönliche Element offenbart werde, das in einer Chronik verborgen bleibe. In Quellen mit dem Charakter eines Tagebuchs oder persönlicher Erinnerungen sei das „individuelle menschliche Erleben das Hauptmotiv“, wenn auch zusätzlich, wie der Verfasser des Vorworts bemerkt, „ein weiter gefasster Gedanke“ durchscheine: „ein wah-res Zeugnis zu geben“. In dieser Hinsicht ist Landaus Kronika eine Ausnahme.

Ihre erschütternde Aussage „leitet sich wohl davon her, dass jegliche persön-lichen Akzente fehlen, dass alles ausgelassen wird, was nicht allgemeine Bedeu-tung besitzt“.146

Als er im Dezember 1960 jenes Vorwort verfasste, war Witold Kula bereits ein bekannter und anerkannter Historiker. Dass er Landau als Autor einer per-fekt ausgearbeiteten Textquelle für historische Forschungen sei Lob ausspricht, hat somit eine besondere Aussage – es drückt die Überzeugungen eines erfah-renen Wissenschaftlers aus. Es sollte sich jedoch herausstellen, dass Kula selbst der Autor eines Textes namens Dziennik czasu okupacji [Tagebuch der Besat-zungszeit] ist, das erst vor nicht allzu langer Zeit bei seinen posthumen Papieren gefunden wurde147. Jenes Tagebuch weicht stark von der Form ab, die Kula 20 Jahre später so sehr schätzt. Es besteht in mehreren Dutzend Seiten persönlicher Beobachtungen und Eindrücke, die der angehende Wissenschaftler in unregel-mäßigen Abständen im besetzten Warschau notierte, und wirkt wie ein Entwurf für einen autobiographischen Roman. Auch die enthaltenen Notizen zu geplan-ten wissenschaftlichen Arbeigeplan-ten, Berichte über Lektüren, vorläufig formuliergeplan-ten Thesen und Konzeptionen, Merklisten mit anstehenden Forschungsaufgaben verdecken nicht den zutiefst introspektiven Charakter dieser Aufzeichnungen.

146 W. Kula, Vorwort in: L. Landau: Kronika lat wojny i okupacji, op.cit, S. V.

147 W. Kula: Dziennik czasu okupacji [Tagebuch der Besatzungszeit], hrsg. von N. Asso-rodobraj-Kula und M. Kula, Warschau 1994.

Es sind alles andere als unpersönliche Notizen. Der Autor enthüllt sein per-sönliches Drama, ringt mit sich selbst, und das ist der Hauptgegenstand jenes Tagebuchs. Erst durch diesen Filter bekommt der Leser die Realien der Besat-zungszeit zu sehen.

Am anstrengendsten und ermüdendsten an der Besatzung ist für mich – vertraut Kula seinem Tagebuch am 23. Juli 1942 an – der ständige psychische Kraftakt, zu dem ich mich immer wieder aufschwingen muss, so wie ich immer wieder atmen muss, und der sich auf zwei Ziele richtet: keine Angst zu haben und nicht an die ganzen Gräuel ringsum zu denken.148

Der Versuch, sich von dem Druck der brutalen Wirklichkeit abzugrenzen, gelingt jedoch nicht. Unter dem Datum des 24. Juli notiert Kula:

„Ich durchlebe den krassesten Gegensatz dessen, was ich oben geschrieben habe. Ich kann nicht arbeiten, denken, lesen, nicht einmal schlafen – ich kann meine Gedanken nicht von all den Gräueln losreißen, die geschehen. […] (Ich mache jetzt eine Pause. Ich kann nicht schreiben, ich gehe Schuhe zubinden).“149

Das ist der letzte Tageseintrag. Somit gibt der Verfasser das Tagebuchschrei-ben zwei Tage nach Beginn der Deportationen aus dem Ghetto auf. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass tatsächlich nur wenig gefehlt hätte, und Witold Kula hätte sein Tagebuch auf der anderen Seite der Ghettomauer geschrieben. Seine erste Ehefrau, die 1943 verstorbene Nina z Jabłońskich Kulina, war jüdischer Abstammung. Bereits im November 1939 stand der Autor vor einem Dilemma: „Man befiehlt mir, eine Entscheidung zu treffen zwischen dem Ghetto oder der Flucht in den Osten.“150 Schlussendlich siegte die Ansicht, einfach auf der arischen Seite Warschaus zu bleiben. Im Kontext jener Entschei-dung nimmt der Satz, mit dem der Tagebuchtext abreißt, einen tieferen Sinn an: „Sich zu einem klaren, schlüssigen Lebenskonzept durchzuringen – schon das ist nicht leicht. Dies zu tun, ohne mit dem Tod in Berührung zu kommen, ist wohl gänzlich unmöglich.“151 Dieser Satz bestätigt endgültig auch die individu-elle, persönliche Dimension der Aufzeichnungen Witold Kulas, auf den Landaus

148 Ebd., S. 46.

149 Ebd., S. 48. Kula arbeitete als Lagerist in „einer der eigentümlichsten Institutionen des besetzten Warschau: in der Schuhfabrik des Instituts für soziale Angelegenheiten [poln.: Instytut Spraw Społecznych]. Das ISS beschäftigte 100 Warschauer Schuster, und auf der Lohnliste standen über 50 exzellente Wissenschaftler und Künstler“ (ebd., S. 57, Fußnote der Herausgeber).

150 Ebd., S. 12.

151 Ebd., S. 48.

Kronika viele Jahre später gerade aus dem Grund, „dass jegliche persönlichen Akzente fehlen“, solch erschütternden Eindruck machte.

Landau legt seine Kronika systematisch an, verzeichnet laufend und akribisch Daten und Fakten. Dazu fasst er eigene Beobachtungen sowie ihm zugängliche (offizielle und konspirative) Pressematerialien und andere Quellen, an die er gelangen kann, zusammen. Die Informationen, die ihn erreichen, unterzieht er zunächst einer vorläufigen Bearbeitung. Gute Dienste leisten ihm dabei zwei-fellos seine vor dem Krieg erworbene wissenschaftliche Praxis und das feine Gespür des Forschers, der sich mit gesellschaftlichen und ökonomischen Prozes-sen befasst. Er behandelt zahlreiche Bereiche: das besetzte Warschau (samt dem Ghetto), das Generalgouvernement, die dem Deutschen Reich einverleibten und die sowjetisch besetzten Gebiete, die weltweiten Kriegsschauplätze. Diese breite Perspektive objektiviert die Narration, die dem Zweck einer Dokumentation der Ereignisse sowie deren Verifizierung und Interpretation dient.

Zu bedenken ist jedoch, dass auch Landaus großes Werk mit einer zutiefst persönlichen Perspektive, einem ganz deutlich als privat gekennzeichneten Blick ihren Ausgang nimmt.

Für ein Tagebuch der Kriegszeit ist es eigentlich etwas zu spät […] – so lautet der erste Satz der Kronika, die mit dem Datum 30.9.1939–17.10.1939 beginnt. – Zwar denke ich, dass die Zeit, die noch vor uns liegt, eine Aufzeichnung lohnt, momentan jedoch möchte ich die Eindrücke erfassen, die mir von einem Monat Krieg geblieben sind (S. 3).

Dann folgt eine ausführliche Analyse der Belagerung Warschaus – eine Kom-bination aus dem Tagebuch eines Zivilisten, der das Kriegsgeschehen beobach-tet und die momentane Stimmungslage verzeichnet, und der sachverständigen Darstellung der politischen und militärischen Lage. Auf diese Weise tritt das Spannungsverhältnis zwischen dem persönlichen und dem unpersönlichen Dis-kurstypus zutage. In den weiteren Partien seiner Kronika entscheidet sich der Autor ganz dezidiert für letzteren Typus152.

Emanuel Ringelblums Kronika getta warszawskiego [Chronik des Warschauer Ghettos] ist bereits nicht mehr in einem so kühlen und objektiven Ton gehal-ten, auch wenn ihr Verfasser sich über die individuelle Erkenntnisperspek-tive erhebt. Seine Interessen umfassen weit mehr als den Bereich der direkten Erfahrung – er möchte das Schicksal der Juden im gesamten polnischen Gebiet

152 Landaus Werk erwähne ich hier nur in Kürze und unterziehe es keiner tieferen Ana-lyse. Schließlich ist es keine Chronik des Warschauer Ghettos oder des besetzten Warschau, auch wenn die Stadt ohne Zweifel die Hauptrolle bei den Aufzeichnungen spielt. Landaus Intention ist jedoch die Erfassung des weltweiten Kriegsschauplatzes.

erfassen. Ringelblum trennt seine eigenen Beobachtungen von aufgeschnappten Informationen, selbst gesammelte Daten von Daten aus zweiter Hand. Die ein-zelnen Textsegmente versieht er häufig mit einem eigenen modalen Rahmen, der den Status der enthaltenen Inhalte und deren Quellen umreißt. Mal weist er auf eine gewisse Distanz zu den genannten Informationen hin und unterstreicht seine Rolle des Vermittlers, des Sammlers: „Ich habe gehört, dass“, „man sagte mir“, „es heißt, dass“, „man erzählt sich“, „Folgendes wird gesagt“. Dann wieder beschränkt er sich auf die unpersönliche Präsentation, setzt dem Eintrag eine Art Qualifikation voraus: „Szene“ oder „Bild“. Nach einem Doppelpunkt folgt die Darstellung des so angekündigten Ereignisses. Wieder ein anderes Mal gibt er deutlich seine Augenzeugenschaft an: „Mit eigenen Augen habe ich dieses Bild gesehen“ (S. 307) oder „Ich habe folgende Szene gesehen“ (S. 250).

Erstaunlich ist die Detailliertheit der Narration, die schier unerhörte Menge an rasch aufeinanderfolgenden kleinen Einzelheiten, Szenen, Bildern, die manches Mal den Rahmen eines Chronikeintrags sprengen. Im Laufe der Zeit schreibt Ringelblum immer eiliger, wie im Fieber. Die Anforderungen der kon-spirativen Arbeit sind der Grund, aus dem die Kronika nur in Teilen vorliegt.

Nacheinander treffen die Textteile im Ghettoarchiv ein und werden sogleich ver-steckt. Daher sind die Eintragungen notwendigerweise fragmentarisch, unge-ordnet, häufig nicht redaktionell bearbeitet. Auffällig ist auch die stilistische Uneinheitlichkeit – umgangssprachliche und für das Ghetto charakteristische Ausdrucksweisen mischen sich mit der Sprache geschichtlicher Analysen. Der Autor notiert Redensarten, Scherze, Ausdrücke von Ghettofolklore. Stellenweise wendet er eigene Verschlüsselungen, eine „äsopische Sprache“ voller Gleich-nisse an. So entwickelt er beispielsweise ein ganzes System von Kryptonymen für die Deutschen. Am häufigsten treten die Bezeichnungen „Galeje“ (für die Gestapo) und „tamci“ [„die da“; die Deutschen allgemein] auf, weiterhin gibt es die „władcy“ [Herrscher], „żółci“ [„die Gelben“; die Gestapo). Hitler nennt er „Horowitz“ oder „Czapnik“ [Mützenmacher, Hutmacher] – die Bedeutung des Namens „Hitler“ auf Jiddisch153. Spezifisch ist die – durch die Umstände der Konspiration erzwungene – quasi-briefliche Form der Kroniki. Besonders am Anfang leitet Ringelblum manche Textpartien mit Anreden ein: „Meine Lieben!“,

„Geliebter Vater!“, „Lieber Großvater!“, „Mein lieber Freund!“, „Werter Freund!“

Das sorgt für eine Erosion der objektivierten, entpersonalisierten Chronikform.

Es scheint, als regiere hier die Regel eines kontrollierten Chaos, was Span-nung in den Text bringt – gestattet doch der Zustand der ständigen Bedrohung 153 Siehe die Fußnote des Herausgebers der Kroniki, S. 160.

keine gemäßigte Objektivität. Er erlaubt kein normales Schreiben, keine Text-redaktion mit der angezeigten Ruhe. Der Chronist ist nicht imstande, eine kühle Distanz zu wahren; er ringt mit der brutal hereinbrechenden Wirklichkeit und müht sich, sie zu zähmen, irgendeiner Kontrolle zu unterwerfen, sie zu beherr-schen und festzuhalten, indem er sie aufzeichnet. Ringelblums persönliches Engagement, seine Leidenschaft, die auf den Seiten der Kronika spürbar werden, sind ein charakteristischer Zug seines Werkes.

Czerniaków

Adam Czerniakóws Tagebuch fand seinen aufmerksamen Leser in Roman Zimand, der den Tagebuchtext weniger als historische Quelle denn als eine Art und Weise der Manifestation des Autors betrachtet. Folgt man diesem Ansatz, gelangt man ins Zentrum der hier erörterten Frage nach dem Spannungsver-hältnis zwischen persönlicher und unpersönlicher Erzählweise. Der erste Satz, den der Tagebuchschreiber am 6. September 1939 zu Papier bringt – „In der Nacht habe ich von 12 bis 5 Uhr früh nicht geschlafen“ – trägt den Charakter eines persönlichen Geständnisses und führt den Leser in die Sphäre der Privat-heit ein. So könnten die Aufzeichnungen eines romantischen jungen Mannes oder auch eines schwerkranken alten Menschen beginnen, meint Zimand und bemerkt, dass „diese Worte, wenn man sie dem weiteren Inhalt des Tagebuchs gegenüberstellt, zu Reflexionen sowohl über das Schicksal als auch über die Poe-tik der täglichen Niederschrift anregen“154. Hinzuzufügen wäre, dass jener – wie ein Auszug aus einem journal intime klingende – Anfangssatz im Kontext der Gesamtheit einen Kontrapunkt zu den trockenen, unpersönlichen Notizen eines Beamten über sein Amt darstellen – wobei dieser Beamte der Vorsitzende des Judenrates im größten Ghetto des besetzten Europa war.

Worin besteht das Phänomen jenes entpersonalisierten und dabei zugleich zutiefst persönlichen Tagebuchs des Adam Czerniaków? Den Versuch einer Ant-wort auf diese Frage finden wir in Zimands Publikation; daher möchte ich mich hier auf ein paar besondere Ergänzungen beschränken.

Czerniaków legt Notizen von der Art eines Tagebuchs pro memoria an und betrachtet sie als Material, das ihm später – nach einem für die Alliierten siegrei-chen Krieg – als Grundlage für eine eventuelle Verteidigung seiner öffentlisiegrei-chen Tätigkeit dienen könnte. Zimands These von einem solchen Tagebuch als Mittel zur Selbstverteidigung erklärt sowohl die Knappheit oder geradezu Unlesbarkeit 154 R. Zimand: „W nocy od 12 do 5 rano nie spałem“, op. cit., S. 68.

mancher Einträge wie auch die Überzahl von Informationen und Materialien, die mit Czerniakóws Funktion als Gemeindevorsitzender155 zusammenhin-gen, darunter eine detaillierte Dokumentation der Kontakte mit den deutschen Behörden. Schreibt er also über sich selbst, so schreibt Czerniaków zwangsläufig über die öffentliche und nicht über die Privatperson.

Und trotzdem hat die Beschreibung der amtlichen Funktionen individuelle Merkmale, trägt einen persönlichen Stempel des Autors. Das offenbart sich in der Konstruktion des Textes – angefangen bei der manchmal extremen Lakonik und Zurückhaltung im Ausdruck von Urteilen und Emotionen, bis hin zu Zwei-deutigkeiten und dem Spiel mit Zitaten, subtiler Ironie. Hier zum Beispiel ein selbstironischer Kommentar über die charitative Tätigkeit der Gemeinde:

Ich schreibe hin und wieder Gedichte. Dazu braucht man eine angeregte Phantasie. Nie-mals ist diese Phantasie so weit gegangen, die Suppen, die wir an die Bevölkerung ver-teilen, Mittagessen zu nennen (S. 179).

Ein anderes Beispiel ist das Spiel mit Zitaten (über die Zitatenregel, die die Grammatik eines Tagebuchtextes bestimmt, kann man ausführlich bei Zimand lesen). Ein Zitat aus Stefan Żeromskis Roman In Schutt und Asche [Original-titel: Popioły; PL 1902, D  1904] benutzt Czerniaków eindeutig, um indirekt seine eigene Situation zu charakterisieren156. Erörterungen über die Figur Win-ston Churchills, die er einem Buch Roman Landaus über Paderewski entnahm (New  York 1934, Warschau 1935), dienen ihm zur versteckten Aussage über die aktuellsten politischen Themen. Vier Tage nach der Besetzung der Stadt Paris durch die Deutschen, knapp einen Monat nach Churchills Amtsantritt als Premierminister, überträgt Czerniaków in sein Tagebuch einen umfänglichen

155 A. Czerniaków verwendet nicht das Wort „Judenrat“ als Bezeichnung einer vom Besatzer geschaffenen Institution, sondern „Gemeinde“, womit er die Kontinuität seines Amtes unterstreicht, zu dem er am 23. September 1939 durch die souveräne Regierung der Rzeczpospolita, vertreten durch den Warschauer Stadtpräsidenten Stefan Starzyński, berufen worden war. Wenige Tage nach der Besetzung Warschaus ernannten die Deutschen Czerniaków zum Oberhaupt des Judenrates. „Man brachte mich zur Szuch-Allee, und dort teilte man mir mit, daß ich 24 Personen für den Gemeinderat aussuchen und an dessen Spitze treten soll“, schreibt er am 4. Okto-ber 1939 (S. 6).

156 „In Żeromskis ‚In Schutt und Asche‘ lese ich: ‚Habe denn nicht auch ich unter meinem Befehl Häscher, Schergen und Mörder, und gleichwohl schone und schätze ich sie, denn sie verstehen es am besten […]. Gerade sie werden am besten aus einer mißli-chen Lage herausführen, im Falle einer Umzingelung.‘ “ (S. 215).

Ausschnitt aus jenem in der Vorkriegszeit erschienenen Werk, wodurch das Zitat eine überraschende Aktualität gewinnt.157

Der Gemeindevorsitzende zeigt sich selten als Privatperson. Die hierzu notierten Einträge betreffen häufig seinen Schlafrhythmus und seine Lektüren.

„Ich lege mich um 9 Uhr abends schlafen und lese. Um 2 Uhr nachts wache ich auf. Und so bis 5–6 Uhr morgens, wenn ich aufstehe. Schuhe“ (S. 17). Was bedeutet das Wort „Schuhe“, das hier als Satzäquivalent fungiert? Vielleicht geht es dabei um ähnliche Kleidungsprobleme wie die, von denen Czerniaków an anderer Stelle selbstironisch schreibt: „Morgens bemerkte ich das Fehlen eines Hosenknopfs. Selbst der bedeutendste Mann kann dadurch lächerlich werden“

(S. 35).

Wenn jedoch der Autor des Tagebuchs geradeheraus über sich selbst spricht, widmet er die meiste Aufmerksamkeit eindeutig seiner Gesundheit:  Leber- und Herzinsuffizienz, Probleme mit Hexenschuss, Zähnen, erfrorenen Zehen, Luftröhrengrippe, Verkühlung. Vor allem jedoch schreibt er von hartnäckigen Kopfschmerzen. Von 29 Bemerkungen über Krankheiten handeln allein elf von der Migräne. Die erste ist vom 22. Januar 1940: „Mit Kopfschmerzen ins Bett“

(S. 35), die letzte vom 19. Juli 1942, vier Tage vor seinem Selbstmord: „Heute habe ich 2 Kopfschmerzpulver, 1 Cybalgin und Baldriantropfen eingenommen.

Trotzdem will mir der Kopf zerspringen. Ich gebe mir Mühe, daß ein Lächeln nie mein Gesicht verläßt“ (S. 282). Auf den Spuren der Privatheit in Czernia-kóws Tagebuch möchte ich einen Moment bei der Geschichte mit dem Hut verweilen – so nenne ich die persönlichen Erfahrungen des Gemeindevorsit-zenden mit der Grüßpflicht gegenüber allen Deutschen, die den Juden auferlegt worden war. Die Geschichte mit dem Hut spielt sich in drei Zeitabschnitten ab: Juni 1940, Mai 1941 und September 1941, und wird in fünf Akten erzählt.

Der Autor spielt darin die Rolle desjenigen, der den Hut nicht ziehen, keine Ehr-erbietung zeigen will und damit passiven Widerstand leistet. Ein Wachmann vor

157 In dem Eintrag vom 18. Juni 1940 ist u.a. zu lesen: „Welchen englischen Politiker halten Sie für den beeindruckendsten?“ „Nun, Winston Churchill natürlich. […]“ „[I] ch wage zu behaupten, dass sich in der internationalen Politik vieles bessern würde, wenn er an der Spitze des Foreign Office stünde“ (S. 82). Genau an jenem Tag – wovon Czer-niaków, als er den Eintrag machte, nichts wissen konnte – lud die englische Regierung den Präsidenten der Rzeczpospolita Polska nach England ein. Einen Tag später traf General Sikorski sich mit Winston Churchill, der „die unbeugsame Haltung Polens im Bündnis gegen Hitler“ betonte und versicherte, dass „seine Regierung Krieg führen werde bis zum endgültigen Sieg“. Siehe A. Albert (eigentl. W. Roszkowski): Najnowsza historia Polski [Die jüngste Geschichte Polens], Bd. 1, London 1994, S. 450–451.

dem Palais Brühl weist Czerniaków zurecht: „Der Wachposten wies mich […]

darauf hin, daß ich ‚frühzeitigʽ [im Original deutsch] den Hut zu ziehen hätte“

(S. 85), so lautet der Eintrag vom 25. Juni 1940 – erster Akt. Die drei folgen-den Akte erhöhen die Spannung. Es ändert sich die Szenerie – zunächst ist der Ort der Sitz des Generalgouverneurs des Distrikts Warschau (bei den Einträ-gen vom 8. Mai 1941: „Im Hof des [Palais] Brühl rief man mir aus dem Auto zu ‚Nimm den Hut abʻ. Ich habe ihn nicht abgenommen“ (S. 145) sowie vom 12. Mai 1941: „Auf dem Hof des Palais ‚Brühlʽ hat man mir wieder befohlen, den Hut abzunehmen“ (S. 147), danach die Treppe vor dem Sitz der Gemeinde (beim Eintrag vom 15. Mai 1941): „Heute hat man auf der Treppe in der Gemeinde ver-sucht, mir den Hut vom Kopf zu stoßen“ (S. 148). Der Druck erhöht sich – von Ermahnungen bis hin zu körperlicher Aggression. Czerniaków ordnet sich dem Befehl nicht unter, auch wenn er das nur am 8. Mai direkt notiert. Der fünfte und letzte Akt findet am 2. September 1941 vor dem Palais Brühl statt: „Nach dem Hinausgehen ließ uns die Wache kehrtmachen, weil wir uns nicht verbeugt hätten“ (S. 183).

Der Privatkrieg gegen die Grüßpflicht gegenüber den Deutschen hatte seine Helden und forderte seine Opfer. „Heute, am 29. September [1940] habe ich einen Fausthieb ins Gesicht bekommen, weil ich [vor dem Deutschen] nicht meinen Hut gezogen hatte“, schreibt Ringelblum in seiner Kronika (S. 158). Mehrmals kommt er auf diese Sache zurück, führt Beispiele des Widerstands gegen das verpflichtende Hutziehen an. Czerniakóws Fall ist jedoch einzigartig; es scheint, als sei die oben angeführte rekonstruierte Geschichte ein Beispiel dafür, wie in seinem Tagebuch das Persönliche mit dem Öffentlichen und Offiziellen untrennbar verflochten ist. Das Verhalten des Gemeindevorsitzenden nimmt aufgrund seiner Funktion schließlich stets öffentlichen Charakter an, selbst wenn es zutiefst privaten Motiven entspringt.

Das musste Czerniaków bedenken, wenn er auf der Straße den Hut nicht zog und auch, wenn er gerade diese Geste – neben vielen anderen Amtshandlungen – in seinem Tagebuch notierte.

Es gibt allerdings einen Eintrag, der dieses heroisch anmutende Bild Czer-niakóws ins Wanken bringt – einen Eintrag, den ich sogar beschämend nen-nen würde. Roman Zimand hingegen hält eine Notiz vom 25. Juli 1941 für „den beschämendsten Eintrag im ganzen Tagebuch“; darin ist beschrieben, wie ein jüdischer Polizist Bettler vor den Fenstern von Czerniakóws Büro vertreibt, indem er milde Gaben an sie austeilt. Den Kommentar zu der Szene – „Das

Es gibt allerdings einen Eintrag, der dieses heroisch anmutende Bild Czer-niakóws ins Wanken bringt – einen Eintrag, den ich sogar beschämend nen-nen würde. Roman Zimand hingegen hält eine Notiz vom 25. Juli 1941 für „den beschämendsten Eintrag im ganzen Tagebuch“; darin ist beschrieben, wie ein jüdischer Polizist Bettler vor den Fenstern von Czerniakóws Büro vertreibt, indem er milde Gaben an sie austeilt. Den Kommentar zu der Szene – „Das

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 159-172)