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„Alarmieren und das Gewissen der Welt erschüttern“

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 107-116)

Die Gefangenen des Sonderkommandos in Birkenau versteckten ihre Manu-skripte in Einmachgläsern, deutschen Feldflaschen aus Aluminium, Feldgeschirr und vergruben diese in menschlicher Asche. Die Gruben mit der Asche aus den Krematorien schienen ihnen der sicherste Ort zu sein. So wurde die Geschichte des ausgerotteten Volkes in dessen eigener Asche verborgen. Salmen Gradowski schreibt Folgendes über sein Tagebuch:

Ich habe es begraben in einer Aschengrube als sicherstem Platz, an dem man sicher graben wird, um Spuren von den Millionen Umgekommener zu suchen. […]

Dieses Büchlein sowie noch andere haben in den Gruben gelegen.

Es hat Blut an sich gezogen von zeitweise nicht ganz verbrannten Knochen oder Stü-cken Fleisch.100

Auf einer durchfeuchteten Papierrolle, die zusammen mit einem Stapel anderer Papiere geborgen werden konnte, hatte Salmen Lewenthal den von ihm vergra-benen Schriftstücken einen Kommentar beigefügt. Trotz der Beschädigungen lässt sich die einfach formulierte Botschaft entziffern:

Alles weitere überlasse ich den Historikern und Wissenschaftlern.

Wir unsererseits verbergen alles, was interessant, brauchbar ist, Wort, Schrift […]

Nachrichten, die ganz sicher interessieren und nützlich sein werden für einen zukünf-tigen Historiker.

dem hebräischen Dichterpropheten der Neuzeit (Against the Apocalypse. Responses to Catastrophe in Modern Jewish Culture, Cambridge, Mass. 1984, S. 223).

99 J. Katzenelson: Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk, op. cit., Zweiter Gesang, S. 58–59 [im jiddischen Original: „her, Benzikʼl mein junginker, mein goʼen, du varstehst/anʼejche-lied a letzts vun letztn, letztn jid“].

100 Zitat aus:  S. Gradowski: Die Zertrennung  – Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos, hg. von A. Kalisky, aus dem Jiddischen von A. Seiffert, Berlin, erscheint 2018.

[…] gibt das den zukünftigen Wissenschaftlern, Historikern, und mehr noch den Psy-chologen ein klares Bild und [wirft] ein Licht auf die Geschichte dieser Ereignisse und Leiden […].101

Am Ende seines Tagebuchs, das er beim Krematorium III in Birkenau in der Erde vergrub, schreibt der Autor: „[…] erachte ich es deshalb als meine Pflicht, es so zu verbergen, dass es lange Zeit übersteht. Auch deshalb, damit […] Mühe nicht umsonst war. Und mehr [noch] deshalb, damit die Welt in der Zukunft […]“102.

In den Schriften kehrt daher die inständige Bitte wieder:

Suchet gut, und ihr werdet vieles finden. […] Sucht das noch verborgene, umfangreiche Material, das dir, du große Welt, noch viel Nutzen bringen wird […]. Sucht dort in den Gruben. […] Suchet weiter! Ihr werdet noch mehr finden,

sowie die Hoffnung, dass „es jemandem gelingt, unsere Dokumente zu finden, das, was innerhalb der Mauern des schwarzen Gebäudes aufgeschrieben werden konnte.“103

Die aus den Todesgruben geborgenen Aufzeichnungen104 der in Katyń ermorde-ten polnischen Offiziere enthalermorde-ten keine Reflexionen über die Motivation zum Schreiben. Es kommen keine Appelle oder Aufrufe an die Leser vor, keine Kom-mentare zum Inhalt der Aufzeichnungen und zur Rolle, die sie in der Zukunft spielen sollten. Auch ist nichts darüber vermerkt, dass es gefährlich gewesen sei, Tagebuch zu führen, oder dass die Tagebücher versteckt gehalten werden müssten. Die Autoren hatten keine besonderen Gründe, ihr Schreiben als etwas zu betrachten, das über private, zur eigenen Erinnerung notierte Einträge in Kalendern oder Terminplanern hinausging. Wenn auch alles schwankend und unbekannt war, so gingen doch weder ihr persönliches Schicksal noch die sie umgebende Realität in besonderem Maße über eine vorhersehbare Erfahrung hinaus. Sie verzeichnen somit aufeinanderfolgende Ereignisse, die Routen der Durchmärsche und Etappen von Konvois, die Topographie des Lagers, das

101 Siehe Inmitten des grauenvollen Verbrechens. Handschriften von Mitgliedern des Sonder-kommandos, Verlag des Staatlichen Auschwitz-Birkenau Museums, Oświęcim 1996, S. 192–197.

102 Ebd., S. 196.

103 Ebd., S. 193–197. Salmen Lewenthals Manuskript wurde nach einer konservatorischen Behandlung gelesen, vom Jiddischen ins Polnische übersetzt und zum ersten Mal im Buch „Szukajcie w popiołach“. Papiery znalezione w Oświęcimiu [„Sucht in der Asche“.

In Auschwitz gefundene Papiere], Łódź 1965, veröffentlicht.

104 Ich beziehe mich auf 20 gefundene Texte, die im Band Pamiętniki znalezione w Katy-niu [Tagebücher aus Katyń], Vorwort von J. Zawodny, 2., erweiterte Auflage, Paris, Warschau 1990 veröffentlicht wurden.

Alltagsleben der Kriegsgefangenen, verschiedene Gerüchte, Familienerinnerun-gen, persönliche Geheimnisse. Wenn die Verfasser den Leser direkt ansprechen, dann vor allem in Äußerungen, die sich an die abwesende Ehefrau oder die Kin-der richten. Eine solche Aufzeichnung hat den Charakter eines Privatgesprächs mit den nächsten Mitmenschen, denen der Verfasser seine Sehnsüchte, seine Liebe, seine Sorgen mitteilt.

Die Notizen der Offiziere lassen zwar eine Angst vor dem Unbekannten spü-ren, aber nicht die Vorahnung dessen, als was dieses Unbekannte sich erweisen könnte, wenn sie auch in einigen Fällen fast bis zum Zeitpunkt der Hinrich-tung verzeichnet werden. Das volle Wissen um das, was ihnen bevorstand, war den Verfassern erst im letzten Moment gegeben – am Rand der Todesgruben –, sodass sie es nicht mehr schriftlich festhalten konnten.

Die Schriften aus der Asche von Birkenau und aus den Gräbern von Katyń unterscheidet vor allem der Wissensstand ihrer Autoren. Die polnischen Offi-ziere gingen als Soldaten einer regulären Armee in die Gefangenschaft; sie sollten eigentlich durch von der internationalen Gemeinschaft anerkannte Grundregeln des Umgangs mit Kriegsgefangenen geschützt werden. Lange Zeit hatten sie auch keinen Grund, an einer solchen Lage der Dinge zu zweifeln. Die Juden aus dem Sonderkommando von Birkenau befanden sich in einer prinzipiell anders gearteten und vollkommen neuen Situation; sie waren sich der Außergewöhn-lichkeit der von ihren übermittelten Erfahrungen zur Gänze bewusst. Inhalt ihrer Aufzeichnungen, zu deren Suche sie so eindringlich aufriefen, ist all das, dessen Zeuge sie wurden und das weit über die bis dahin geltenden Grenzen des begreifbaren Schicksals des Einzelnen und der Gemeinschaft hinausging. Die Beziehungen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen unterlagen näm-lich einem Wandel. Das individuelle Schicksal wurde dem kollektiven Schicksal gleichgemacht, das „Ich“ in ein „Wir“ verwandelt. Der Holocaust betrifft schließ-lich nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft. Er verändert außerdem die gesamte Welt, die nie mehr sein wird wie zuvor. Was die Autoren so unbe-dingt zu vermitteln suchen, ist auch in dem Sinne eine Grenzerfahrung, dass es sich als endgültige Ausrottung, definitives Ende präsentiert.

Aus der Tiefe jener Erfahrung – im wortwörtlichen Sinne: aus dem Versteck unter menschlicher Asche – ertönt eine Stimme an die Welt. Das Wissen um den Holocaust muss mit anderen geteilt werden. Die Wahrheit des Holocaust ist eine untragbare Last, doch muss sie um jeden Preis verbreitet werden; sie ist schließlich der einzige Schatz, den die Opfer den zukünftigen Generationen hinterlassen können.

Dawid Graber, der beim Verstecken des Ringelblum-Archivs half, war über-zeugt, einen „Schatz“ zu vergraben. Er schrieb: „[A] uf dass [dieser Schatz] die

Welt alarmiere, die sich im 20. Jahrhundert verloren hat. […] [Auf dass] die Welt die ganze Wahrheit erfahre.“105 Die Mission eines Archivs besteht darin, Doku-mente zu sammeln, zu verwahren und weiterzugeben – ZeitdokuDoku-mente. Damit die Welt es erführe. Im Juni 1942 notiert Ringelblum auf die Nachricht hin, dass die BBC Sendungen ausstrahlt, die auf Aussagen von Archivmitarbeitern über die Judenvernichtung in Polen basieren, mit unverhohlenem Stolz und voller Freude:

Die Gruppe „Oneg Schabbat“ hat auf diese Weise eine historische Mission erfüllt, hat sie doch die Welt über unser Schicksal alarmiert und vielleicht Hunderttausenden pol-nischer Juden vor der Vernichtung bewahrt. Letzteres wird, das liegt klar auf der Hand, die nächste Zukunft zeigen. Ich weiß nicht, wer aus dieser Gruppe überleben wird […].

Eines ist aber uns allen klar: Unsere Mühe und Anstrengung, unsere Aufopferung und unser Leben in ständiger Angst waren nicht vergebens. […] Wir haben unsere Pflicht erfüllt (Bd. 1, S. 369).

„Die Welt alarmieren“ heißt, Fakten offenlegen, dafür sorgen, dass die Menschen sie erfahren. Henryk Makower notiert: „[M] an muss das alles beschreiben, für sich selbst, vor allem aber für andere, damit die Menschen wissen, was 1940–

1943 in Warschau geschah“ (S. 149). Das Bedürfnis, dieses Wissen weiterzuge-ben, ist stärker als die Sorge um das eigene Schicksal. Stefan Ernest lässt sein Tagebuch mit einem refrainartig wiederkehrenden Aufruf enden:

Ich vertraue darauf, dass [mein Bericht] zur rechten Zeit ans Tageslicht gelangt … Und dann werden die Menschen wissen, wie es war … […] Sollen die es erfahren, die weni-ger gesehen und weniweni-ger gehört haben vom genaueren Verlauf der Realität. Sollen die Menschen in anderen Ländern es erfahren […] und die Menschen, die das Glück hat-ten, keine Juden zu sein […]. Sollen sie wissen, was sich damals ereignete […]. Sollen sie wissen, dass jedes einzelne Wort hier von Blut befleckt ist … („Pamiętniki“, Sign. 195,

„Posłowie“ [Nachwort]).

„Das Gewissen der Welt erschüttern“ bedeutet, anzunehmen, dass das enthüllte Faktenwissen bei den Adressaten nicht nur moralische Erschütterung, sondern auch einen moralischen Wandel auslöst. Der Verfasser eines Textes, der solche Folgen zeitigen soll, glaubt, dass die Wiederherstellung der erschütterten Ord-nung möglich ist. Indem er das Grauen der durchlebten Katastrophe vermittelt, drückt er die Hoffnung aus, das Geschriebene möge nicht nur dokumentari-scher Bericht sein, sondern auch Lehre und Warnung. So sieht den Zweck seines Schreibens Karol Rotgeber:

105 Zitat nach R. Sakowska: „Wstęp“, in: Archiwum Ringelbuma, op. cit., S. 17.

Ich suche nach einer Methode, an das menschliche Gewissen zu rühren, einen Weg dafür zu finden. [Ich glaube daran, dass mein Tagebuch] wenigstens teilweise diese unsere schreckliche Zeit mit ihren Morden, ihren Brände und ihrem Blut [beleuchtet]

[…], [dass] in dem Chaos […] die Konturen dieses wahrhaft unerhörten Verbrechens sichtbar werden, das in seiner Niedertracht und unfassbaren Widerwärtigkeit selbst die abgestumpftesten Herzen anrührt und seine Täter mit ewiger Schande bedeckt (S. 43;

„Wstęp“ [Einleitung]).

Avrom Levin verzeichnet am Abend des 30. Mai 1942:

Die Details dieser Ereignisse sind so ungeheuerlich, dass sie sich unter keinen Umstän-den in Tagebucheinträge pressen lassen. All das muss genau und in allen Einzelheiten geschildert werden. Ich hoffe und glaube, dass dies geschehen und das Gewissen der Welt erschüttern wird, und dass es dazu beiträgt, das Ungeheuer, das alle Völker Euro-pas drangsaliert, ein für alle Mal zu zähmen und unschädlich zu machen (BŻIH 19–20, S. 196–197).

Ludwik Hirszfeld erklärt in erhabenem Stil die Entscheidung, seine Erinnerun-gen an die Besatzungszeit niederzuschreiben:

[I] ch beschloss, zur Stimme derer zu werden, die gelitten haben, auf dass diese Stimme jene erreiche, die noch zu fühlen imstande sind. Aus meinem Schmerz, so beschloss ich, wollte ich eine Waffe schmieden, um an das Gewissen zu rühren […] (S. 322).

So musste ich aus meinem Leben eine Geschichte formen, damit ihr wisst: Es waren Millionen Menschen, die dort ermordet wurden. […]

Besitzen die Toten keine Stimme? Dieses Buch habe ich geschrieben, um ihnen eine Stimme zu geben. Damit die Welt ihr Klagen, ihr Seufzen hört. Und so lange soll sie es hören, wie der unermessliche Schmerz der Gemarterten dauern wird, so lange, wie die Glut meiner Worte sich erhält.

Es darf nicht sein, dass Wehrlose ermordet werden.

Ich will, dass es bis ins zehnte Glied noch erklingt, sich in die Gewissen der Menschen brennt, dass es eingegraben wird in ihre Seelen für alle Zeit (S. 344).

„Für ein zukünftiges Tribunal“ – „der Rache wegen“

Der israelische Geheimdienst entführte im Mai 1960 Adolf Eichmann aus Argen-tinien und brachte ihn nach Israel. Dort stand er vom 11. April bis 15. Dezem-ber 1961 vor Gericht, bis der Oberste Gerichtshof sein Todesurteil verkündete, das am 1. Juni 1962 vollstreckt wurde. Eichmann wurde gehängt, anschließend verbrannte man seinen Leichnam und verstreute die Asche auf hoher See. Kurz vor der Exekution bat der Verurteilte um eine Flasche Rotwein. Auf den Stufen zum Galgen hielt er seine letzte Rede, ein Konglomerat von verzweifelten Phra-sen, in dem dieser Mörder von Millionen Juden, der im Lichte der Anklage wie

ein blutrünstiges Ungeheuer wirkte, endgültig – wie Hannah Arendt schreibt – die „furchtbare Banalität des Bösen“106 enthüllte.

Der Eichmann-Prozess war der erste große Prozess, dessen einziger Gegen-stand die Massenvernichtung der Juden war. Daher maß David Ben Gurion, der israelische Ministerpräsident und „Bauherr des Staates Israel“, ihm auch beson-dere Bedeutung bei. Der Prozess sollte seiner Meinung nach der gesamten Welt eine große Lektion werden. Ben Gurion schrieb unter anderem: „Wir wollen vor den Nationen der Welt zeigen, wie Millionen Menschen, weil sie Juden waren, und eine Million Babys, weil sie jüdische Babys waren, von den Nazis ermordet wurden. […] Wir wollen, daß die Nationen der Welt [all dies] erfahren … und daß sie sich schämen.“107

Die Rhetorik der Autoren von Holocaustberichten, die Ausdruck findet in Formulierungen wie „alarmieren und das Gewissen der Welt erschüttern“ oder Motiven wie dem des „zukünftigen Tribunals, das die Schuldigen zur Verant-wortung zieht“ (Ringelblum, Bd. 1, S. 480) läuft mit der Rhetorik jener zusam-men, denen es nach dem Krieg gegeben war, die Täter des Holocaust zu richten.

Zum Schlüsselbegriff wird der Begriff des „Zeugnis“, verstanden sowohl im rechtlichen als auch moralischen Sinne. Genau so, stellt sich Marian Berland vor, könnte sein Tagebuch genutzt werden:

Es ist nicht auszuschließen, dass ein Tagebuch der Juden, der Augenzeugen des Verbre-chens, in der Zukunft ein unschätzbar wertvolles historisches Dokument sein wird, ein Zeugnis des Verbrechens, eine Anklageschrift […]. Es handelt sich hierbei schließlich um Material für den Staatsanwalt, der […] die Verbrecher anklagen wird (S. 414).

Ähnlich begreift Jan Mawult den Sinn seines Schreibens: „[D] iese Erinnerungen […] sind eine Anklage an die einzigen, die wahren Schuldigen“ („Pamiętniki“, Sign. 38, S. 2). Für Robert G. Storey wiederum, einen der amerikanischen Klä-ger im NürnberKlä-ger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, ist es eine der wichtigsten Aufgaben des Internationalen Militärgerichtshofs, „eine geschlos-sene Dokumentation des Hitlerregimes vorzulegen, die der Prüfung durch die Geschichte standhält“108.

Jenes „zukünftige Tribunal“, für das das Ringelblum-Archiv seine Doku-mentation zusammenstellte, sollte über präzedenzlose Verbrechen richten, die alles übertrafen, was die Geschichte bis dahin kannte. So bewerteten die Opfer

106 Siehe H. Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, S. 300.

107 Ebd., S. 33–34.

108 Ebd., siehe „Epilog“.

selbst diese Verbrechen, und an diesem ihrem Charakter maßen sie auch die Bedeutung ihres Zeugnisses. Die Nachkriegsjustiz stand also vor einer nie da gewesenen Herausforderung. Sie musste eine Definition für eine neue Art von Verbrechen erstellen, ein ganzes Knäuel von rechtlichen, moralischen und poli-tischen Fragestellungen entwirren. Der Wille zur Verurteilung von Kriegsver-brechern – auch denjenigen, die für den Holocaust verantwortlich waren –, den die Alliierten noch während des Krieges bekundet hatten, führte letztendlich zur Ernennung des Internationalen Militärgerichtshofs und zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, der vom 18.  Oktober  1945 bis zum 1.  Okto-ber 1946 dauerte. In Artikel 6 des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs, auf dessen Grundlage die Schuldigen in Nürnberg verurteilt wurden, waren drei Verbrechenskategorien angeführt und definiert: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Verbrechen des Völkermords fand seine definitive rechtliche Regelung in einer 1948 von der UNO verabschiedeten speziellen Konvention.109

Jedoch lässt sich das Wesen des Verbrechens Völkermord nicht in den Rah-men der bis dahin geltenden gerichtlichen Tradition und juridisch begriffenen Rechtsprechung fassen. Es entsteht ein Ungleichgewicht zwischen der Dimen-sion des Verbrechens einerseits und Gerichtsverfahren und Urteil andererseits.

Die Einhaltung der grundlegenden Prinzipien für Gerichtsverfahren, wie zum Beispiel Neutralität oder die Regelung, im Zweifel zugunsten des Angeklagten zu urteilen, scheinen in diesem Fall dem intuitiven Gerechtigkeitsempfinden und dem Bedürfnis nach Wiedergutmachung entgegenzustehen. Achse jenes schwer-wiegenden Konflikts ist die Notwendigkeit, die von einer zivilisierten mensch-lichen Gesellschaft erarbeiteten fundamentalen rechtmensch-lichen Werte auf Taten anzuwenden, die nicht einmal mehr eine Verletzung dieser Werte bedeuten,

109 Bereits am 13. Januar 1942 gaben die Alliierten die sog. Declaration of St James’s Palace heraus. Auf Grundlage des Londoner Statuts [der Nürnberger Charta], das nach Ende der Kriegshandlungen am 8. August 1945 geschlossen wurde, richtete man den Internationalen Militärgerichtshof ein. Siehe die Einträge „Trials of War Criminals“

und „Crimes against Humanity“, in: Encyclopaedia of the Holocaust. Die Vereinten Nationen hielten in Art. 1 der Konvention u.a. fest, dass „ein Völkermord, ob in Friedens- oder in Kriegszeiten verübt, ein Verbrechen im Sinne des internationalen Rechts“ sei, und definierten in Art. 2 den Völkermord als Handlungen, die vollzogen werden „in der Absicht, bestimmte Volksgruppen, ethnische oder religiöse Gruppen vollständig oder in Teilen zu vernichten“, worauf diese Gruppen einzeln aufgezählt werden. Siehe Lord Russell of Liverpool: The Trial of Adolf Eichmann, London 1962.

sondern weit außerhalb der traditionell begriffenen Grenzen von Verbrechen und Strafe liegen.

Die Tragödie, jenen neuen Verbrechenstypus und neuen Typus des Bösen nicht angemessen verurteilen zu können, stellt Hannah Arendt in ihrem Buch Eich-mann in Jerusalem auf eindringliche – und dennoch für viele jüdische Milieus nicht annehmbare – Weise dar. Sie beschreibt das Spannungsverhältnis zwischen dem grundlegenden Zweck einer jeden Gerichtsverhandlung:  „Recht zu spre-chen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun“ und der Strategie der Kläger, die das Konzept „Höherer Zwecke“ verfolgten: der Welt ein erschütterndes Zeugnis die-ses Verbrechens und des unermesslichen Leids seiner Opfer zu geben. Arendt schreibt: „Unmißverständlich war die Zurückweisung der Anklage in den Worten, daß Leiden so unerhörten Ausmaßes »jenseits des menschlichen Verstehens« lie-gen, daß sie eine Sache »für große Schriftsteller und Dichter« sind und nicht in einen Gerichtssaal gehören, während die Taten und Motive, die diese Leiden her-vorgebracht haben, weder jenseits des Verstehens noch außerhalb der Gerichtsbar-keit liegen.“ Alle anderen, noch so erhabenen Ziele, führt die Autorin aus, könnten

„hiervon nur ablenken; sie werden zudem unweigerlich das eigentliche Rechtsver-fahren, das heißt die erhobene Anklage, die Urteilsfindung und die Festsetzung des Strafmaßes, in einem zweifelhaften Licht erscheinen lassen.“110

In den noch erhaltenen Holocausttexten zeichnen sich deutlich zwei Argu-mentationslinien für die Motivation des Schreibens ab. Eine beruft sich auf den Gerechtigkeitsbegriff, die andere auf Rache; eine benutzt Schlüsselwörter wie

„Tribunal“, „Staatsanwalt“, „Anklageschrift“, „Schuldige“, „Rechenschaft“, die andere Begriffe wie „rächen“ und „Vergeltung“ in allen erdenklichen Varianten.

Wer sich für die Rache entscheidet, glaubt nicht, dass es möglich ist, Gerech-tigkeit walten zu lassen. Das Verbrechen, das Böse übersteigen jegliches Maß und lassen sich daher auch nicht mit normalen Maßstäben messen.

Vor dem Hintergrund des brennenden Warschauer Ghettos – schreibt Calel Perechod-nik – habe ich mit eigenen Augen den Untergang des polnischen Judentums gesehen.

[…] Ich habe dann gedacht, daß in diesem Fall niemand übrigbleiben wird, um das Los meiner Frau zu beweinen und ihr ein ehrendes Andenken zu bewahren; daß niemand mehr Nachkommenden ihr Leiden wird berichten können; daß vielleicht niemand Rache fordern wird für ihr unschuldiges Leben, für den Tod von Millionen Juden.

Damals  – genau am siebten Mai [1943]  – beschloß ich, meine Geschichte aufzu-schreiben. Vielleicht bleibt sie erhalten und wird in Zukunft den Juden übermittelt, als getreues Abbild dieser tragischen Zeiten. Vielleicht wird sie die demokratischen Staaten

110 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem, op. cit., S. 301, 255, 302.

dazu bewegen, alle Deutschen schonungslos auszurotten und den unschuldigen Tod von Millionen jüdischer Kinder und Frauen zu rächen. (S. 225)

Perechodnik nennt sein Tagebuch ein „Testament der Rache“. Leizor Czarno-broda wiederum schildert den Zustand einer besonderen Art der Besessenheit, wenn ein Mensch, dem bereits alles genommen wurde, der Erfahrungen machen musste, die über jedes menschliche Maß hinausgehen, nur noch vom Gedanken an Rache erfüllt ist:

Denn es ist uns nichts geblieben bis auf den Rachedurst. Unser Denken, unser Schlaf, unsere Nahrung, unser einziges Sehnen und Streben – Rache (Archiwum Ringelbluma, S. 112).

Beherrscht von diesem einzigen Gedanken ist ein bei Eugenia Szajn-Lewin

Beherrscht von diesem einzigen Gedanken ist ein bei Eugenia Szajn-Lewin

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 107-116)