• Keine Ergebnisse gefunden

Die Menschen 1

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 192-200)

Die Menschen im Ghetto sind, von oben betrachtet, eine wimmelnde Menge, die sich auf Straßen und in Hinterhöfen drängt. Solche Darstellungen finden sich in Schilderungen des täglichen Lebens, der allgemeinen Betriebsamkeit, des Zustands auf den Straßen und des Verhaltens der Passanten. Ist der Verfasser von Tagebuch oder Memoiren im Ghetto unterwegs, so befindet er sich stets im dichtesten Gedränge, auch die Wohnungen sind übervölkert, die Anlaufstel-len für Flüchtlinge belegt bis zum Letzten. Die allgegenwärtige Menschenmenge wird mal zum eigenen Thema, mal nur zum Hintergrund der Aufzeichnungen.

Ebenfalls erwähnt werden die Menschenmassen in Berichten über die große Liquidierungsaktion oder den Aufstand: in einer Blockformation auf dem Weg zum Umschlagplatz durch ausgestorbene Straßen oder auf dem Straßenpflaster sitzend in Erwartung der Selektion, oder aber bei der Verladung in Waggons.

In sämtlichen Fällen bleibt die Menge gesichtslos und anonym, es sei denn, der Blick des Betrachters hält an einer konkreten Person inne, umreißt deren Aus-sehen und hebt sie aus der Menge hervor – manchmal nur durch einen einzigen Satz oder gar ein einziges Epitheton.

Die Betrachtung der Figuren möchte ich bei den Portraitskizzen von Per-sonen aus bestimmten Gesellschafts-, Berufs- oder auch informellen Grup-pen beginnen. Das können Beamte der Gemeinde sein (wie bei Stefan Ernest),

SS-Männer aus der Befehlsstelle [im Orig. deutsch] (wie bei Ber Warm oder N.N.

„Pamiętniki“, Sign. 129, Archiv des ŻIH), Menschen, die sich zusammen im Bunker verstecken (wie bei Leon Najberg) oder einfach die Freundeskreise der Autoren (wie in Chaim Aron Kaplans Tagebuch). Ein solches Gemeinschafts-portrait setzt sich aus den Darstellungen der einzelnen Gestalten zusammen;

eine auf diese Weise konstruierte Sequenz weist eine Kettenstruktur auf:  Die Kettenglieder enthalten die Portraits der einzelnen Personen. Tritt eine solche Beschreibungssequenz auf, unterbricht sie den Erzählfluss und gibt dem Autor so die Möglichkeit, die Figuren, um die sich seine Geschichte dreht, näher vor-zustellen. Solche Serien von Portraitskizzen werden zu selbstständigen Einhei-ten, deren Länge vor allem von der Art des Diskurses abhängt. Steht eher die erzählte Handlung im Vordergrund, so sind die Gruppenportraits – wenn sie überhaupt vorkommen – kurz, oberflächlich und fragmentarisch. Dagegen sind sie in einem überwiegend beschreibenden Diskurs ausführlich gestaltet. So ist es vor allem in den Tagebüchern von Stefan Ernest, Stanisław Adler oder dem unbekannten Autor, dessen Text das ŻIH-Archiv bei den „Pamiętniki“ unter Sig-natur 129 aufbewahrt.

In Umfang und Systematik der Ausführungen unterscheiden sie sich von den erwähnten Aufzeichnungen Emanuel Ringelblums Sylwetki [Silhouetten], die seine Herausgeber als integralen Bestandteil in die Kronika getta warszaw-skiego eingliederten. Die Sylwetki bestehen aus bisweilen sehr langen, nach Art von Einträgen in biographischen Wörterbüchern oder Enzyklopädien verfassten Skizzen, aber auch aus kurzen, manchmal sogar nur einsätzigen persönlichen Notizen. Die geschilderten Personen sind nach Berufen geordnet. Am ausführ-lichsten charakterisiert Ringelblum politische und gesellschaftliche Aktivisten und Wissenschaftler; separat stellt er Schriftsteller und Journalisten, Schauspie-ler, Musiker, Pädagogen, bildende Künstler und Rechtsanwälte dar. Die Skizzen und Notizen fügen sich zu einem eigenen umfänglichen Buch zusammen, das die Verluste für die Gesellschaft im Warschauer Ghetto und die jüdische Kultur im Allgemeinen dokumentiert.

Den Text regiert das Prinzip des enzyklopädischen Biogramms: Er enthält ein Maximum an Informationen über Leben, Tätigkeit und Werk der betreffenden Person, zusätzlich dazu Urteile und allgemeinere Reflexionen. Vor allem cha-rakterliche und geistige Eigenschaften werden exponiert, die Früchte der Arbeit eines ganzen Lebens präsentiert sowie das innere Bild der Person, ihre politi-sche, wissenschaftliche oder künstlerische Aktivität umrissen.

Bei Ringelblum trifft die Konvention des objektivierten Biogramms auf die Schilderung von privaten Beobachtungen und Erinnerungen, Anekdoten und auf eigene Kommentare. Schließlich kannte der Autor nahezu alle Figuren seiner

Portraits persönlich oder war ihnen zumindest schon einmal begegnet. Daher sind diese Skizzen gewissermaßen in natura entstanden. Umso mehr verwun-dert bei einer solch umfangreichen Darstellung verschiedenster Figuren die nahezu vollständige Auslassung äußerlicher Merkmale – als bleibe im Rahmen der gewählten Konvention kein Platz für die Beschreibung von Äußerlichkeiten.

Auch wenn man von den Personen ansonsten außerordentlich viel erfährt, wird ihre Physiognomie nicht konkretisiert. Das Bild des portraitierten Menschen ist somit unvollständig. Er hat kein Gesicht – es fehlt das wichtigste äußerliche Zei-chen menschlicher Individualität, das den Einzelnen von der Menge abhebt und ihn als einzigartiges Individuum identifiziert. An dieser Stelle ist zu bedenken, dass die Überzeugung vom Gesicht als Spiegel der Seele und des Charakters und vom Zusammenhang zwischen der Form der fleischlichen Hülle eines Menschen und dessen inneren Eigenschaften zu den uralten Traditionen der europäischen Kultur gehört175.

Bei über hundert in den Sylwetki charakterisierten Figuren lässt sich in ledig-lich fünf Fällen von einer Beschreibung physiognomischer Elemente sprechen.

Zwei Mal treten sie in fragmentarischer Form auf. Der Autor beschränkt sich darauf, gewisse auf das Aussehen bezogene Stereotypen zu signalisieren, die eine rein unterstützende Rolle spielen und den Hintergrund der Situation bilden, in der die Figur sich befindet. Wenn z.B. Ringelblum schreibt, „Genosse Sagans hochgewachsene, bärtige Gestalt dominierte den Saal“, und sein „lautes, gesun-des Lachen“ erwähnt (S. 537), geht es ihm weniger um die Schilderung spezi-fischer Merkmale des individuellen Aussehens als darum, ein für die betreffende Figur typisches Verhalten zu unterstreichen. In einem anderen Beispiel erzwingt die übergeordnete Information – der Sachverhalt, dass ein bekannter jüdischer Ethnograph namens Szmul Lehman im Ghetto hungern musste – gewisserma-ßen eine, wenn auch dürftige, Bemerkung über dessen Aussehen: „von gerin-ger Körpergröße, dünn“ (S. 568). Drei weitere physiognomische Erwähnungen verselbstständigen sich sozusagen. Sie sind, anders als die vorigen, nicht mehr leichthin mitten in den Text eingeflochten, sondern treten an besonders wich-tiger Stelle auf: an dessen Anfang. Die Portraitskizze beginnt mit einigen kur-zen Bemerkungen zum Aussehen. Über Roza Symchowicz erfährt man, dass

175 Darüber schreibt J. Bachórz in seiner hervorragenden Skizze „Karta z dziejów zdro-wego rozsądku, czyli o fizjonomice w literaturze“ [Geschichtliche Karte des gesun-den Menschenverstands oder Über die Physiognomik in der Literatur], in: „Teksty“

Nr. 2/1976, in der er die physiognomischen Interessen von der Antike bis zum 19. Jh.

und ihren Einfluss auf die Beschreibung literarischer Figuren darstellt.

sie „groß, schlank, mit einem lieben und freundlichen Gesicht, einem silbrig gesprenkelten Haupt, ungefähr 50 Jahre alt“ gewesen sei (S. 607). Über Dr. Szy-mon Lubelski ist zu lesen: „Groß, gutaussehend, mit langem schwarzen Haar und loderndem Blick“ (S. 610).

Am weitesten ausgebaut und im Kontext der Gesamtheit wohl am bedeu-tendsten ist die Beschreibung Mordechaj Anielewiczs. Ringelblum eröffnet seine breit angelegte biographische Erzählung über den Kommandanten der ŻOB [Jüdische Kampforganisation; poln. Żydowska Organizacja Bojowa; jid-disch: Jidische Kamf Organisatie] folgendermaßen:

Jenen jungen Menschen, 25 Jahre alt, von mittlerer Größe, mit einem schmalen, blei-chen, spitzen Gesicht, langen Haaren, sympathischen Äußeren, lernte ich am Anfang des Krieges kennen. Er kam wie für den Sport gekleidet zu mir […]. Wer hätte ahnen können, dass dieser stille, bescheidene und sympathische junge Bursche zu einem Mann heranwachsen würde, der drei Jahre später der bedeutendste Mann im Ghetto sein sollte, dessen Namen die einen voller Hochachtung aussprachen und die anderen – voller Angst (S. 495).

Das ist im Grunde die einzige Stelle in den gesamten Sylwetki, an der der Autor die Rolle der physiognomischen Beschreibung anerkennt und sie bewusst bei der Konstruktion des Bildes von seiner Figur einsetzt. Dieses und kein ande-res Aussehen Anielewiczs, seine Kleidung transportieren nicht nur wichtige Informationen über ihn als Person, sondern erweisen sich auch als wesentliches Element für die im Text angewandte kommunikative Strategie. Das Aussehen von Anielewiczs Gesicht ist vor allem ein Zeichen für seine Jugend und seine körperliche Zartheit, die so stark mit seinem enormen Heldenmut kontrastie-ren, mit der heroischen Größe, zu der er bald heranwachsen sollte. Ringelblum deckt dieses Paradox gleich am Anfang auf und macht es zum Schlüssel, mit dessen Hilfe die Figur sich begreifen lässt. Die einleitende Frage – Wie kommt es, dass ein derart unscheinbarer Junge eine solche Größe in sich birgt? – wird zum Schwungrad für die gesamte biographische Erzählung. In diese Richtung gehen die Reflexionen des Autors, der eine bezeichnende Wahrheit entdeckt, die die Zeit des Ghettos, die Zeit der Vernichtung zutage fördert – waren doch die Menschen, die sich in jener Zeit zu ungeahnten Höhen aufschwangen, zumeist gewöhnliche, kleine, unerfahrene junge Leute. So wie Anielewicz – Helden ohne erhabene äußerliche Züge.

Bezeichnend ist, dass Marek Edelman  – der Vertreter und annähernde Altersgenosse des ŻOB-Kommandanten – in seinem 1945 publizierten Bericht Das Ghetto kämpft kein einziges Mal Anielewiczs Äußeres erwähnt, ebenso wenig wie das Aussehen anderer Mitstreiter. Auch in seinem berühmten

Gespräch mit Hanna Krall viele Jahre später, in dem er ein weniger helden-haftes Bild von Anielewicz zeichnet (indem er eine befremdliche Geschichte darüber erzählt, wie Anielewicz  – Sohn einer Händlerin  – die Kiemen von feilgebotenen Fischen mit roter Farbe anmalt), nennt er keinerlei physiog-nomische Einzelheiten. Vielleicht war das Äußere des ŻOB-Kommandanten für Edelman so offensichtlich, vom Informationswert her neutral oder auch schlicht so unwichtig, dass es nicht der Erwähnung lohnte. Woran Edelman keinen Gedanken verschwendete, erstaunte hingegen Ringelblum, der eine Generation älter war als die beiden. Daher hat Anielewicz von allen bei Ringel-blum beschriebenen Figuren die konkretesten Gesichtszüge. Wenn man also die Sylwetki ein Album mit Portraits von Holocaustopfern nennen wollte, so besäße einzig in Anielewiczs Fall die Bezeichnung „Portrait“ – wenigstens ein Stück weit – ihre ursprüngliche Bedeutung.

In anderen Sammlungen von Portraitskizzen ist die Dichte an physiognomi-schen Beschreibungen unterschiedlich, meist jedoch eher gering, oder sie sind gar nicht vorhanden. Am detailreichsten werden Aussehen, Kleidung, materielle Attribute und die Art, sich zu bewegen, noch in den Portraits von SS-Männern aus der sog. Befehlsstelle geschildert – einem in der Żelazna-Straße 103 in einem Alt-bau untergebrachten Spezialstab der Formation Einsatz Reinhardt [auch: Aktion Reinhardt; Anm. d. Übers.], die von Lublin nach Warschau abgestellt worden war, um die Liquidierungsaktion im Ghetto zu leiten. Gezeichnet werden diese Portraits von Ber Warm, einem jüdischen Polizisten, der dort Dienst tat, und von einem Juristen aus Włocławek, ebenfalls Funktionär beim Ordnungsdienst (N.N. „Pamiętniki“, Sign. 129, ŻIH-Archiv). Bei Warm ist die Physiognomik der Deutschen eines der Elemente seiner detailreichen Schilderung der Funktions-weise jener Maschinerie namens Befehlsstelle und hat – sozusagen – illustrativen Charakter. Bei N.N. 129 wiederum sind die Gesichtszüge der Figuren oftmals karikativ überspitzt dargestellt und werden zum Bestandteil einer wertenden metaphorisierten Beschreibung. Die ausführlichen Portraitierungen lassen lite-rarisches Talent, eine gute Beobachtungsgabe, Humor und Erfindungsreichtum erkennen. Geballte Epitheta verleihen den Zeichnungen Dichte und lassen aus-gewählte Eigenschaften stärker hervortreten. Diese Methode verrät die Intention des Verfassers, mittels der Physiognomie ins Innere der Figuren vorzudringen und sie seinem Urteil zu unterziehen.

Oberscharführer Mende […] ähnelte einem Arbeitsgaul, einem flämischen Zugwallach.

[…] [E] r war groß, hellhaarig, kräftig gebaut, hatte ein quadratisches, grobes, fülliges Gesicht, eine aufwärts gerichtete Nase und hellblaue, wässrige, tiefliegende kleine Äug-lein („Pamiętniki“, Sign. 129, S. 122).

Außer seinen vollständig gezeichneten Portraits präsentiert N.N. 129 auch einige Miniaturen. In ihnen wird die physiognomische Beschreibung wiederum auf ein absolutes Minimum reduziert, inspiriert lediglich lapidare, scharfe und bösartige Portraitaufnahmen, z.B.: „[Oberscharführer Klostermeyer [tatsächlich wohl „Klaustermeyer“; Anm. d. Übers]] – überaus abstoßend, vom Aussehen her eine Kreuzung aus Friseur und Schlächter“, „[Unterscharführer Becker] – hübsch und knackig, vom Typ Eintänzer“ (S. 122). Eine einzelne Phrase oder ein treffendes Epitheton geben – den eigenen Worten des Autors zufolge – „die Unterschiede in Aussehen und Temperament bei den einzelnen Akteuren der Truppe Sonderkommando [im Orig. deutsch]“ wieder (S. 123).

Leon Najberg, der 18 Personen beschreibt, die sich gemeinsam mit ihm wäh-rend des Ghettoaufstands im Bunker verbergen, bemerkt nahezu gar nichts über deren individuelles Aussehen. Zur Einleitung seiner Darstellung der gesamten Gruppe notiert er stattdessen folgenden Satz, der sich auf alle bezieht:

Die Männer sind schrecklich gealtert und sehen mit ihren ungestutzten Bärten, den unrasierten Gesichtern aus wie Urmenschen (S. 99).

Anschließend wird nur bei diesem Sammelportrait noch das Gesicht eines Man-nes hervorgehoben und gesondert beschrieben.

Festinger – […] heiteres, gutmütiges Gesicht und typisch jüdische, traurige Augen. Er hat dunkle Haut und schwarze Haare, ist von mittlerem Wuchs und vom Alter her um die 28 (S. 102).

Stefan Ernest lässt physiognomische Beschreibungen gänzlich aus. In seinem Tagebuch platziert er ein eigenes Kapitel mit dem Titel „Sylwetki czołowych oso-bistości getta“ [Portraits der führenden Persönlichkeiten im Ghetto]; er nennt es

„Erwägungen persönlicher Natur“ und versieht es mit einer Einleitung, in der es u.a. heißt:

Es muss an die Personen erinnert werden, die sich – leider, wenn auch nicht durch eigenes Verschulden, vergebens – bemühten, jenes von so vielen Stürmen hin- und her-geworfene Schiff in ruhigere Gewässer zu geleiten („Pamiętniki“, Sign. 195, S. 117).

Die darauffolgenden Skizzen – die (wie die Stilistik der Einleitung bereits ahnen lässt) ausführlich und literarisch ausgefeilt sind – legen die Betonung auf die Interpretation von Einstellungen und Verhalten der Figuren, nicht jedoch auf deren Aussehen. Kompetent legt Ernest die formal-rechtliche Situation der höheren Gemeindebeamten dar, ihre Verstrickung in die Realien des Ghettos;

auch bemüht er sich, ein moralisches Profil eines jeden von ihnen zu zeichnen.

Dabei belässt er es nicht bei der Dokumentation von Ereignissen, Tätigkei-ten, Entscheidungen, bei Informationen über Amtsmodus und Charakter der

übernommenen Aufgaben. Die Darstellung der einzelnen Figuren soll vor allem dazu dienen, deren Haltung und Handlungsmotivation zu verstehen sowie sie letzten Endes auch zu rechtfertigen. Der Autor scheut auch hagiographische Tonlagen nicht, wie zum Beispiel in einer dem Rechtsanwalt Bernard Zunde-lewicz, Leiter der Arbeitsabteilung der Gemeinde, gewidmeten Skizze. In einer solchen Konvention finden realistische Beschreibungen von Äußerlichkeiten keinen Platz mehr.

[Zundelewicz] […] war eine der schönsten Gestalten des Warschauer Ghettos. […]

[E] r war das Herz des Gemeinderates […]. Er war eine aufrechte, reine, edle Gestalt, die im Dunkel, das sich über uns gesenkt hatte, hell erstrahlte (S. 124–125).

2

Schreiben mehrere Autoren über dieselben Menschen, ergänzen ihre textuellen Portraits einander. Das bei der Lektüre entstehende Bild entfaltet sich gewisser-maßen im Durchschnitt verschiedener Blicke, ist aus verschiedenen Schichten zusammengesetzt. Die wichtigste offizielle Persönlichkeit im Ghetto – die daher auch häufig in Aufzeichnungen vorkam – war zweifellos der Gemeindevorsit-zende Adam Czerniaków. Auf der Seite der Schinder wird wohl am häufigsten die Figur Karl Brandts erwähnt – SS-Obersturmführer der Abteilung IV B der Warschauer Gestapo, zuständig für Judenangelegenheiten. Czerniaków traf sich viele Male dienstlich mit Brandt. Versuchen wir, ihre synthetischen Portraits zu rekonstruieren.

Der Vorsitzende ist die Hauptfigur zahlreicher Aufzeichnungen, die manch-mal den Umfang und die Tiefe essayistischer Skizzen erreichen. Die Autoren versuchen seine Haltung und seine Tätigkeit gerecht wiederzugeben und zu beurteilen, den Schlüssel zum Verständnis seines Leben und Todes zu finden.

Mich wird jedoch im Zusammenhang mit der Figur Czerniaków nicht der moralische, politische oder historiosophische Diskurs beschäftigen, sondern der Ausdruck der physiognomischen Beschreibungen. Was verzeichneten die Tage-buch- und Memoirenautoren des Ghettos über das Aussehen ihres Vorsitzen-den?Eine Beschreibung, die in ihrer Genauigkeit verblüfft, in ihrem Streben, die Details von Czerniakóws Gesicht präzise wiederzugeben und auch die winzigs-ten Elemente seiner Physiognomie fein herauszuarbeiwinzigs-ten, stammt aus der Feder von Jan Mawult (Stanisław Gombiński). Ich zitiere die Stelle vollständig, enthält sie doch eine der wenigen dichten und konsequent physiognomischen Darstel-lungen, in denen gerade das Äußere der beschriebenen Figur die Grundlage für Urteile über deren Charakter bietet.

Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann Mitte Fünfzig, beleibt, mit glattrasiertem flei-schigem Gesicht, hängenden Wangen und einer leicht hängenden Unterlippe, kahl, mit der starken Brille eines Kurzsichtigen auf seiner platten, an den Nasenflügeln leicht auf-geworfenen Nase. Auf den ersten Blick, nach den ersten äußerlichen Eindrücken hätte man gedacht – ein Banker, Industrieller, Politiker, Chirurg, aber welcher Beruf auch immer, womit auch immer er befasst war: Er war ein bodenständiger Mensch, der das Leben liebte und in all seinen Ausprägungen verstand, der sicherlich mit Kennermiene den Duft einer guten Zigarre, den Geschmack exzellenter Speisen und das Bouquet tro-ckener Weine zu beurteilen wusste. Ein Mann, der zu urteilen gewohnt war, der das Leben genoss und seine guten Seiten, seine Sinnesfreuden zu schätzen wusste – doch nicht in ihrer simpelsten Form: Trotz der schweren und sinnlichen Konturen ließen manche seiner Gesichtszüge – die Kinnlinie, der kritische Zug, der sich in den Falten um seinen Mund andeutete – eine gewisse Finesse, einen erlesenen Geschmack erken-nen. Richtet er im Aufstehen seine hochgewachsene Gestalt auf – so sieht man einen starken, auf gute Jahre zurückblickenden Mann, geht er – bemerkt man seinen siche-ren, raschen Schritt, spricht er – vernimmt man knappe und klare Sätze (Pamiętniki z getta, S. 52)

Die Aufmerksamkeit aller Portraitisten fesselte vor allem Czerniakóws Gesicht und seine Beleibtheit. Keiner jedoch ließ sich zu einer derart genauen Schilde-rung verleiten wie Mawult, einer SchildeSchilde-rung, die die naturgetreue Abbildung anstrebt, dabei aber frei ist von wertenden Elementen oder emotional gefärbten Bezeichnungen. Bei Stefan Ernest hat Czerniakóws Aussehen wenig konkrete Eigenschaften, sondern unterliegt einer erhöhenden Stilisierung:

Vor den Augen steht mir die mächtige, erhabene Gestalt des Vorsitzenden, jenes stets von Schmerz und Leid wie versteinerte Gesicht […], todernst, ehrwürdig und feierlich, schwarz gekleidet, […] er lächelte nie (Pamiętniki z getta, S. 51).

Makower schreibt, Czerniaków sei „beleibt, apoplektisch und schwer“ (S. 200) gewesen; Hirszfeld erwähnt seinen „stark vorspringenden Kiefer, der ihn Mus-solini ähneln ließ“ (S. 253); Adler stellt einen deutlich abwertenden Vergleich an: „groß, beleibt, kahlköpfig, über sechzig Jahre alt, das Gesicht einer müden Bulldogge“ (S. 69).

Was den Gestapomann Brandt betrifft, so ist von den beiden ausführlichsten Charakteristiken – Ber Warm und N.N. 129 – die erstere milder und neutraler.

Der Autor wahrt eine kühle Distanz zu seinem Modell, er will einfach dessen Aussehen, dienstliche Tätigkeit, typisches Verhalten wiedergeben. Warm ist aufmerksamer Beobachter und bemüht sich, auf möglichst vollständige Weise Zeugnis zu geben, das eher die Gestalt eines objektivierten Berichts denn eines persönlichen Bekenntnisses annimmt  – daher die Konzentration auf Fakten und konkrete Ereignisse, auf das äußere Erscheinungsbild von Orten, Men-schen, Gegenständen. Aus diesem Grund scheint hier die einzige, noch dazu

verhältnismäßig milde, wertende Äußerung bei der Beschreibung Brandts  –

„äußerst unsympathisches Gesicht“ (Pamiętniki z getta, S. 75) – davon zu zeugen, dass dem Autor mehr an der getreuen Erfassung der körperlichen Eigenschaften lag als an einer Bewertung. Er nimmt zum Beispiel ein bestimmtes anatomisches Detail wahr und belässt es bei dessen Notierung: „die Falten unter seinen Augen bilden so etwas wie Kissen“ (l.c.). Dieselbe Eigenschaft bemerkt auch N.N. 129, verwendet sie aber, um wertende Vergleiche zu konstruieren:

Ein Mann […] mit fleischigem, vollem Gesicht, stark gezeichneten, herabhängenden Augenbrauen, die große, vorstehende, dunkelbraune Augen halb verdecken, unter denen sich Augenringe abzeichnen wie bei einem Alkoholsüchtigen oder Nierenkran-ken (Pamiętniki z getta, Sign. 129, S. 121).

Andere, bereits sehr kurze Schilderungen gehen mehr in Richtung Karikatur und heben Hässlichkeit, Bedrohlichkeit, Grausamkeit des Beschriebenen hervor.

Leon Najberg zeigt Brandt auf dem Umschlagplatz als ungerührten, routiniert und methodisch vorgehenden Schinder:

Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit stumpfem, teigigem Gesicht, eine Peitsche in

Er war ein kleiner, untersetzter Mann mit stumpfem, teigigem Gesicht, eine Peitsche in

Im Dokument Aus dem Polnischen von Lisa Palmes (Seite 192-200)