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2 Literaturübersicht

2.5 Neutrophile Granulozyten (PMN)

Der neutrophile Granulozyt (PMN) nimmt im Zusammenhang mit SIRS und MODS eine zentrale Stellung ein und ist eine der wichtigsten Zellen des unspezifischen Immunsystems (GRISWOLD u. MAIER 1988). Er gehört zu den Zellen der myeloiden Reihe. Innerhalb von 14 Tagen differenziert sich im Knochenmark ein Myeloblast zu einem reifen PMN mit lobuliertem Kern. Der reife PMN verlässt das Knochenmark und tritt mit einer Halbwertszeit von ungefähr sechs Stunden vorübergehend in die Blutbahn. Bei Bedarf migriert er ins Gewebe, wo er für etwa ein bis zwei Tage funktionsfähig ist (BAINTON et al. 1971).

Neutrophile Granulozyten besitzen zwei Arten der namensgebenden Granula. Die primären, azurophilen oder auch peroxidasepositiven Granula enthalten unter anderem Myeloperoxidase, Elastase, Lysozym und β-Glycerophosphatase. Die sekundären, spezifischen oder peroxidasenegativen Granula enthalten Laktoferrin, Prokollagenase, Lysozym und alkalische Phosphatase (ACKERMAN 1971; BAINTON et al. 1971). Durch die Sekretion dieser Substanzen kann der PMN körperfremde Stoffe lysieren. Außerdem ist er zur Phagozytose fähig.

Überschreitet ein Pathogen die mechanische Barriere des Körpers, wird es zunächst durch das unspezifische Immunsystem erkannt. Zum einen wird es durch Antikörper gebunden, wodurch es neutralisiert und opsonisiert wird. Zum anderen wird über den klassischen, alternativen oder den Lektin-Weg das Komplementsystem aktiviert. Dabei binden jeweils bestimmte Komplementproteine entweder an einen Antigen-Antikörperkomplex, direkt oder über Lektine an die Pathogenoberfläche. Eine enzymatische Kaskade wird ausgelöst, wobei die Komplementproteine gespalten werden und so Fragmente mit unterschiedlichen Effektorfunktionen entstehen. So wird durch C4b und C3b das Pathogen opsonisiert und C5b, C6, C7, C8 und C9 bilden einen membranangreifenden Komplex, der das Pathogen lysieren kann. C5a, C3a und C4a erhöhen die Gefäßpermeabilität und stimulieren in Mastzellen die Freisetzung von Mediatoren. Damit vermitteln sie die Entzündungsreaktionen (JANEWAY et al. 1997a). Außerdem wirken die Komplementfragmente C3a und C5a zusammen mit einer Vielzahl von Substanzen wie LPS, TNF-α, IL-1, IL-8, Sauerstoffradikalen, Fragment D der Fibrinolyse und dem plättchenaktivierenden Faktor (PAF) chemotaktisch (DEMLING 1985;

WARREN et al. 1989; KINDT et al. 1991). Die Chemokine werden in Gewebemakrophagen

und Endothelzellen gebildet. Wie im Kapitel 2.2 dargestellt, bedarf es dafür aber nicht unbedingt eines Pathogens; Chemotaxine werden auch im Rahmen einer SIRS gebildet.

Chemotaxine geben den PMNs über einen Gradienten chemischer Reize den Ort des Geschehens und damit die Wanderungsrichtung vor (VAN GRIENSVEN 1999a). Teilweise binden Chemotaxine, z.B. das Komplementfragment C5a über spezifische Rezeptoren an die PMNs, was sie zu einer amöboiden Bewegung veranlasst (JANEWAY et al. 1997b).

Neben den Chemotaxinen gibt es Stoffe, die die PMNs direkt aktivieren. Sie entstehen z.B.

bei der Ischämie und der Reperfusion der Schockphase. Im Blut wirken LPS, Komplementfaktoren, Immunkomplexe, Gerinnungsfaktoren und Faktoren des Kallikrein-Kinin-Systems aktivierend auf die PMNs. Dazu kommen in den Organen freigesetzte Aktivatoren wie TNF-α, PAF, Prostaglandine, Leukotriene, Granulozyt-Monozyt-kolonieformender Faktor sowie Gewebe-, z.B. Kollagenfragmente (WARREN et al. 1989;

NEUHOF 1991).

Die Aktivierung der PMNs wird über Rezeptoren der Zellmembran oder des Zellplasmas gesteuert (HURST 1987). Sie führt zur Adhäsion der PMNs ans Endothel der Mikrozirkulation, zu vermehrter Produktion und Freisetzung von Mediatoren, wie Sauerstoffradikale und Lysozym, zum cell spreading (sternförmiges Ausbreiten der Endothelzelle) und anschließend verminderter Verformbarkeit und priming (Anheben auf höheres Aktivitätsniveau) (HAGENLOCKER et al. 1990; BAUER u. MARZI 1994). Das cell spreading sowie inflammatorische Mediatoren erhöhen die Permeabilität des Endothels (MARUO et al. 1992; VAN GRIENSVEN et al. 1999b).

Die Adhäsion des PMN an das Endothel ist der entscheidende Schritt zur Migration aus der Blutbahn in das Gewebe (FURIE et al. 1987; FURIE u. MCHUGH 1989; SPRINGER 1994) und läuft in den drei Phasen rolling, attachment und diapedesis ab. Gesteuert werden die einzelnen Phasen durch verschiedene Adhäsionsmoleküle, die auf den Oberflächen sowohl der PMN als auch der Endothelzellen exprimiert werden (KUROSE et al. 1994). Man unterscheidet vier Gruppen von Adhäsionsmolekülen, die Selektine, die Integrine, die Immunglobuline und die mucin-like Glykoproteine, welche jeweils andere Aufgabenschwerpunkte übernehmen (KUMAR et al. 2005).

So sind die Selektine für das rolling an den Endothelzellen zuständig. Verminderte Blutflussgeschwindigkeit und erhöhte Scherkraft in den Gefäßen führen zur Margination der PMNs. Durch Chemokine und Zytokine (TNF-α und IL-1) wird die Expression leukozytärer L-Selektine und endothelialer P- und E-Selektine sowie ihrer Liganden, die mucin-like Glykoproteine, auf den PMNs und dem Endothel induziert. Bei Kontakt kommt es zu einer Bindung von geringer Affinität. Die PMNs werden immer wieder vom Blutstrom mitgerissen, um anschließend erneut an das Endothel zu binden, so dass es zu einer rollenden Vorwärtsbewegung kommt (KUMAR et al. 2005).

Die Gruppe der Integrine ist für den nächsten Schritt des attachment zuständig. Integrine bestehen aus zwei Moleküluntereinheiten, den α- und β-Untereinheiten, wobei letztere noch in β1, β2 und β3 unterteilt wird (WELBOURN et al. 1992; SEEKAMP et al. 1993a). Die β1- und die β2-Untereinheiten binden an zwei endotheliale Adhäsionsmoleküle der Immunglobulingruppe, das vaskuläre Adhäsionsmolekül-1 (VCAM-1; vascular cell adhesion molecule-1) und das interzelluläre Adhäsionsmolekül-1 (ICAM-1; intercellulare adhesion molecule-1). Durch Chemokineinfluss - vermittelt über mucin-like Glykoproteine - werden die Integrine modifiziert und die leukozytär-endotheliale Bindung wird hochaffin. In der Folge stoppt der PMN ab, sein Zytoskelett wird reorganisiert, er verformt sich und migriert per diapedesis ins Gewebe (KUMAR et al. 2005).

Waren Mikroorganismen Auslöser der chemotaktischen Reize, trifft der PMN auf sie, erkennt, bindet, phagozytiert und lysiert sie. Die dabei aus den Granula freigesetzten Substanzen wirken direkt auf das Pathogen. TNF-α und IL-8 regen den PMN zur respiratorischen Entladung (respiratory burst) an, wobei Sauerstoffradikale und NO erzeugt werden. Ist jedoch das SIRS ursächlich für die Bildung von Chemotaxinen, treffen die lysierenden Substanzen direkt auf das Gewebe und schädigen es. Zudem bewirken die Substanzen zusammen mit PAF und Leukotrien B4 die Steigerung der Gefäßpermeabilität und die vermehrte Expression der Adhäsionsmoleküle, was die Entzündung potenziert (KLAUSNER et al. 1989; GRINO 1994).

Auch in der Entwicklung des akuten Nierenversagens (ANV) spielen die PMNs eine bedeutende Rolle. So werden PMNs bereits sechs Stunden nach Verabreichung von LPS in der Niere nachgewiesen (CUNNINGHAM et al. 2002). Die Aktivierung von PMNs im

Experiment führt zur Reduktion der glomerulären Filtrationsrate (GFR) (HORL et al. 1990).

Werden die PMNs durch künstliche Perfusion aus der Niere ausgeschlossen, kommt es trotz LPS-Anwesenheit nicht zum ANV (COHEN et al. 1990), werden jedoch PMNs hinzu gefügt, ist die GFR stark vermindert (LINAS et al. 1995). Dabei besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Anzahl der PMNs im Gewebe und der Verminderung der GFR (CUNNINGHAM et al. 2002).

Die bloße Anwesenheit der PMNs in der Niere scheint jedoch nicht auszureichen, ihre adhäsionsmolekülgesteuerte Extravasation ist notwendig (LINAS et al. 1995). So können die Gewebeschäden bei einem ANV durch Blockade der Adhäsionsmoleküle verringert werden (KELLY et al. 1994; KELLY et al. 1996). In gleicher Weise wirkt die spezifischere Blockade von ICAM-1 (KELLY et al. 1994), die Unterdrückung der ICAM-1 Expression (HALLER et al. 1996) und die Verwendung von ICAM-1-knockout-Mäusen (KELLY et al. 1996). Auch die Blockade des P-Selektins (SINGBARTL et al. 2001) und des Selektin-Liganden (NEMOTO et al. 2001) reduziert den Grad des ANV. In TNF-Rezeptor-1-knockout-Mäusen (TNFR1-knockout) finden sich weniger PMNs im Nierengewebe als bei Kontrollmäusen (CUNNINGHAM et al. 2002), was die Rolle der TNF-α induzierten Adhäsionsmoleküle auch für die Niere unterstreicht. In ischämischen Nieren wurde zudem eine erhöhte Expression von ICAM-1 und Integrinen durch das Endothel festgestellt (ROMANOV et al. 1997).