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Luhmanns Äußerungen über seine politischen Primärerfahrungen bekunden eine tiefe Desillusionierung in einem für politische Sozialisation entscheidenden

Im Dokument Das Argument 178/198 (Seite 23-26)

Lebensabschnitt. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sagte er:

»Vorher schien alles in Ordnung zu sein und hinterher schien alles in Ordnung zu sein, alles war anders und alles war dasselbe. Man hatte vorher seine Probleme mit dem Regime und hin terher war es nicht so, wie man es sich erwartet halte. Und deshalb war wahrscheinlich auch das juristische Studium für meine Art des Denkens wichtig geworden. (...) Vor 1945hatte man doch gehofft, daß nach dem Wegfall des Zwangsapparates alles von selbst in Ordnung sein würde. Das erste jedoch, was ich in der amerikanischen Gefangenschaft erlebte, war, daß man mir meine Uhr vom Arm nahm und daß ich geprügelt wurde. Es war überhaupt nicht so, wie ich vorher gedacht hatte. Und man sah dann bald auch, daß der Vergleich von politischen Regimen nicht auf der Achse 'gut/böse' verlaufen konnte, sondern daß man die Figuren in ih rer begrenzten Wirklichkeit beurteilen muß. Ich will damit natürlich nicht sagen, daß ich die Nazi-Epoche und die Zeit nach 1945 als gleichwertigbetrachte. Aber ich war nach 194S ein fach enttäuscht. Aber ob das wirklich so wichtig ist? Auf jeden Fall ist die Erfahrung mit dem Nazi-Regime für mich keine moralische gewesen, sonderneher eine Erfahrung des Willkür lichen, der Macht, der Ausweich-Taktiken des kleinen Mannes.« (1987a, 128f.)

Hier kann man vielleicht die existentielle Wurzel für die eigentümliche Ver-äußerlichung des Moralbegriffs in Luhmanns Sozialtheorie sehen. So klar die Nicht-Identität mit der NS-Ideologie ist, so eindeutig ist auch die Zurückwei sung jeder Theorie, welche Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime als gesellschaftliche Möglichkeit und Notwendigkeit versteht. Dieses Politikdefizit steht in engem Zusammenhang mit der Ausblendung des Widerstandsbegriffs aus seinem Themenkatalog. Die primäre Verzagtheit kontrastiert auffällig damit, daß Luhmann in einer anderen Diskussionssituation seinen Optimismus für die Zukunft »am ehesten in der Selbstanpassungsfahigkeit der Großstrukturen«

(ebd., 106) begründet sieht.

In seinem Nachruf auf den Schreibtischtäter Hans Globke meint der Zeit historiker Hans Buchheim in der FAZ vom 16.2.1973, Globkes Verhalten in der NS-Zeit könne nur von denjenigen verstanden werden, »diedie komplexe Natur des Totalitarismus begriffen hatten«. Diese Meinungfügt sich in eine Serie ähn

licher Apologien, in denen Fragen moralischer Schuld oder wenigstens Mit

schulddes für die Nürnberger Gesetze alsJuristverantwortlichen Referenten und Mitverfassers des maßgeblichen Kommentars gegenstandslos gemacht werden sollen (vgl. Gotto 1980). Nicht nur im Hinblick auf diesen umstrittenen Staats sekretär, sondern auf Täter und Mittäter des NS-Regimes generell wurde eine

Komplexitäts- und Systemargumentation entwickelt, mit der Fragen persönlicher

DAS ARGUMENT 178/1989 ©

852 Christian Sigrist oder kollektiver Schuld und Haftung ausgeschlossen werden sollten. In Ausein andersetzung mit der von Niemöller und anderen Angehörigen der Bekennenden Kirche aufgeworfenen Kollektivschuld-Thesewurde im juristischen Nachkriegs milieu in letzter Konsequenz die Idee eines kollektiven Subjekts zu Grabe getra gen, um sich von der Verantwortungfreizusprechen — wo kein Subjekt, da keine

Schuld.

Diese Zusammenhänge bilden den zeitgeschichtlichen Kontext zu Luhmanns theoretischer Konzentrierung auf den Systembegriff und auf die Komplexitäts problematik.

Zusammenfassung

Luhmanns »Anschluß« an biologische Systemtheorien führt nicht zu einer sozio logischen »Reflexion«über die riskanten Anwendungsmöglichkeiten der von die sen Theorien bearbeiteten naturwissenschaftlichen Entdeckungen und systemati schen Erkundungen manipulativer Technologien. Eine solche soziologische Sy stemtheorie trägt nichts Positives dazu bei, daß »die Gesellschaft«, insbesondere ihr politisches System, durch frühzeitige wissenschaftliche Folgenabschätzung über Risiken zum Beispiel der Gentechnologie kommunizieren und vernünftige Entscheidungen treffen sowie richtige Entwicklungen programmieren kann. Der Ertrag der Entsubjektivierungsoperation ist mager, da durch die kommunika tionstheoretische Verengung der Systemtheorie der potentielle Abstraktionsge winn entscheidend geschmälert wird: Der Rekurs auf Sinn als Letztelement schließt die Analyse nicht intendierter objektiver Strukturzusammenhänge aus der Analyse aus (vgl. Berger in: Haferkamp/Schmid 1987). Indem Luhmanns Begriffe bisher bestehende Definitionen als naiv oder durch die reale Evolution als »überholt« darstellen, gelingt es dieser eloquenten Systemlogik, ihre eigenen Modelle als alternativlos hinzustellen. Ihre wichtigstegesellschaftliche Funktion besteht nicht in der expliziten Festlegung auf dominante Klasseninteressen, son dern in der Entwaffnung alternativer Theorien. Diese Form generalisierender Theoriebildung ist deswegen scharf zu kritisieren, weil sie mit abstrakten Theo remen, die der gesellschaftlichenWirklichkeitentfremdete Interessen verfolgen, soziologisches Terrain okkupiertunddurch ihreBlendwirkung die Ausarbeitung und Erörterung von soziologisch relevanten Theorieansätzen erschwert, die Al ternativen zum Selbstlauf kapitalistischer Gesellschaften entwerfen und den Rückstand sozialwissenschaftlicher Reflexion gegenüber der technologischen Dynamik auf holbar machen könnten.

Anmerkungen

1 Im US-Kongreß wurde insbesondere beklagt,daß sich herausgestellt habe, welche Unsummen fürnutzlose sozialwisscnschaftliche Forschung ausgegeben worden war. DieFolge dieser negati venBilanz wardas Ausbleiben erheblicher Beträge fürsozialwissenschaftliche Projekte, was zu einervorübergehenden Schwächung desEinflusses der US-Soziologie inanderen Ländern führ te. Erst die wachsenden Schwierigkeiten von Befreiungsbewegungen an der Macht und die so wjetische Parallelaktion in Afghanistan haben zu einer erneuten Stärkung des amerikanischen Einflusses auf ideologischem und sozialwissenschaftlichem Gebiet in den Ländern der Dritten Welt geführt.

Das gesellschaftliche Milieu der Luhmannschen Theorie 853

2 Zwar hatte schon RalfDahrendorf mit seinen »Pfaden aus Utopia« eine konflikttheoretische Überwindung der »grand Iheory« (C.W. Mills) versucht, das niedrige theoretische Niveau seines Gegenwurfs verhinderte aber eine nachhaltige Wirkung, zumal einTeil der Argumentation durch das Parsonssche Spätwerk überholt wurde.

3 Bei aller Bemühung umhistorische Vielseitigkeit unterlaufen Luhmann allerdings auch erhebli cheIrrtümer. UmnureinBeispiel zunennen: esstimmt nicht, daß inderalteuropäischen Gesell schaft die Differenz von Stadt und Land »fast unerwähnt« (1985, 149) bleibt. Die pejorative se mantische Karriere desaufdasvulgärlateinische »vilanus« zurückgehenden Worts »vilain- istein schlagender Gegenbeweis.

4 »Überhaupt trifft die hier skizzierte Theorie sozialer Systeme sich inwesentlichen Punkten mit einer anthropologischen Soziologie, welche die •Weltoffenheit' unddieentsprechende Verunsi-chcrung des Menschen zum Bezugspunkt von (letztlich funktionalen) Analysen macht.«

('1972b, 131 n 9)

5 H. Ahlemeyer hat in seiner Münsteraner Habilitationsschrift »Soziale Bewegung als soziales Problem. Prolegomena zu einer systemtheoretischen Analyse von Einheit, Umweltverhältnis undFunktion sozialer Bewegungen« (1988) versucht, mit der Luhmannschen Systemtheorie so ziale Bewegungen zu analysieren. Obwohl Ahlemeyer dabei zu interessanten Ergebnissen ge kommen ist, zeigt sich m.E., daß die Luhmannsche Version der Systemtheorie nur sehr be schränkt für diesen Zweck brauchbar ist (vgl. Ahlemeyer 1989).

Literaturverzeichnis

Adorno, Th.W. (Hrsg.), 1969: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Stuttgart

Ahlemeyer, H., 1989: Was ist eine soziale Bewegung? Zur Distinktion und Einheit eines sozialen Phänomens. In: Zeitschrift für Soziologie 3, 175-191

Gotto, K. (Hrsg.), 1980: Der Staatssekretär Adenauers. Persönlicheit und politisches Wirken Hans Globkes. Stuttgart

Habermas, J., und N. Luhmann, 1971: Theorieder Gesellschaft oder Sozialtechnologie—Wasleistet die Systemforschung? Frankfurt/M.

Haferkamp, H., und M. Schmid (Hrsg.), 1987: Sinn, Kommunikation undsoziale Differenzierung.

Frankfurt/M.

Luhmann, N., 1972a: Funktion und Folgen formaler Organisation. West-Berlin ders.,' 1972b: Soziologische Aufklärung. Bd. 1, Opladen

ders., und R. Mayntz, 1973a: Personal im öffentlichen Dienst. Baden-Baden ders., 1973b: Zweckbegriff und Systemrationalität. Frankfurt/M.

ders., 1975a: Soziologische Aufklärung. Bd. 2, Opladen

ders., 1980: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 1, Frankfurt/M.

ders., 1981a: Soziologische Aufklärung. Bd. 3, Opladen

ders., 1981b: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München, Wien ders., 1981c: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 2, Frankfurt/M.

ders., 1984: Soziale Systeme. Frankfurt/M.

ders., 1985: Zum Begriff der sozialen Klasse. In: N. Luhmann (Hrsg.), Soziale Differenzierung.

Opladen

ders., 1986: Ökologische Kommunikation. Opladen

ders., 1987a: Archimedes und wir. West-Berlin

ders.,J1987b: Rechtssoziologie. Opladen

ders., 1988: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.

ders., 1989: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd. 3, Frankfurt/M.

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