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4 Theoretische Überlegungen und Einflussfaktoren auf abweichendes Verhalten

4.2 Theorien abweichenden Verhaltens

4.2.2 Lerntheoretische Ansätze

Lerntheoretische Ansätze gehen davon aus, dass abweichendes Verhalten wie jedes andere Verhalten erlerntes Verhalten ist. Sie behandeln einerseits Lernprozesse, die mehr oder weni-ger unabhängig vom sozialen Kontext des Individuums ablaufen. Darunter fallen etwa Ver-stärkungsprozesse, welche durch ein Befriedigungsgefühl nach der Verübung einer Gewalttat auftreten können und die dann zu einer Verfestigung des abweichenden Verhaltens führen.

Andererseits – soziologisch interessanter – werden auch Umwelteinflüsse auf abweichendes Verhalten betrachtet. Nach Akers (1990) handelt es sich bei lerntheoretischen Ansätzen nicht nur um die meistbeachteten, sondern auch um die umfassendsten und grundlegendsten An-sätze zur Erklärung abweichenden Verhaltens. Er versucht zu zeigen, dass auch die aus der ökonomischen Theorietradition stammenden Rational Choice-Überlegungen und Abschre-ckungstheorien, welche davon ausgehen, dass eine hinreichende Strafandrohung abweichendes Verhalten verhindern kann, gegenüber früheren lerntheoretischen Gedanken keine grundle-gend neuen Erkenntnisse liefern. Vielmehr sind sie, so Akers, unter generelle lern- und verhal-tenstheoretische Überlegungen subsumierbar. So betont er, dass Lerntheorien nicht von einem Individuum ausgehen, das keine Entscheidungen trifft und nur passiv konditioniert wird, son-dern dass sie vielmehr ein Entscheidungen treffendes und Handlungsfolgen antizipierendes Individuum annehmen (ebd.: 81).

Maßgeblich geprägt wurde die sozialpsychologische und soziologische Diskussion um Lerntheorien ursprünglich von der Theorie der differenziellen Assoziation Sutherlands (1939, zur Entwicklung der Theorie vgl. Akers 1998: 21ff.). Nach ihm werden abweichende Verhal-tensweisen in Interaktionen mit anderen Personen erlernt. Dabei werden einerseits Motive und Einstellungen erlernt, die abweichendes Verhalten fördern oder unterdrücken, anderer-seits aber auch die abweichenden Handlungen selbst, beispielsweise Techniken und Fertigkei-ten, um bestimmte Delikte zu begehen. Relevant dafür, ob es zur Ausübung abweichender Verhaltensweisen kommt, sind die differenziellen Kontakte. Damit ist die Bilanz aus Kontak-ten zu Personen gemeint, welche eine positive oder negative Einstellung zu abweichendem Verhalten haben, wobei allerdings ungeklärt bleibt, wie sich diese Einstellungen entwickeln.

Überwiegen Kontakte zu Personen, welche Devianz zeigen oder befürworten, wird das Indivi-duum eher zu abweichendem Verhalten neigen. Überwiegen dagegen Kontakte zu Personen, die keine Devianz zeigen und diese ablehnen, wird die individuelle Neigung zu Devianz ab-nehmen. An dieser Stelle wird die soziale Komponente der Theorie deutlich: die individuellen Lernprozesse hängen maßgeblich von der Einbettung in soziale Kontexte ab. In verschiedenen Kontexten können unterschiedliche Wertesysteme herrschen. Hier liegt eine deutliche Nähe zur Subkulturtheorie vor. Diese geht davon aus, dass es in der Gesellschaft Gruppen mit unter-schiedlichen Werte- und Normensystemen gibt und die Bezeichnung eines Verhaltens als

„abweichend“ damit gruppenspezifisch ist (Cohen/Short 1968).

Sutherland (1939) nahm die Verteilung der Kontakte als erklärenden Faktor an. Wie die-se Verteilung zustande kommt und ob möglicherweidie-se Personen, welche zu deviantem Verhal-ten neigen, bewusst oder unbewusst Kontakt zu Personen suchen, die ebenfalls zu deviantem Verhalten neigen, wird nicht erklärt. Bedeutsam sind aber verschiedene Merkmale der diffe-renziellen Kontakte. So hat nach Sutherland die Häufigkeit, die Dauer, die Priorität und die Intensität der Kontakte einen Einfluss darauf, inwieweit sie handlungsleitend werden. Je enger ein Kontakt ist, je häufiger und länger er stattfindet und je wichtiger die Kontaktperson für das Individuum ist, desto stärker ist deren Einfluss auf das Verhalten. Damit ist erklärbar, warum besonders der Familie und frühkindlichen Gewalterfahrungen in der Familie eine große Rolle bei der Erklärung abweichenden Verhaltens zukommen. Ausgehend von der Beobachtung „of the immense amount of criminality in the modern commercial and industrial transactions, which generally takes the form of fraud“ (ebd.: 57) betont Sutherland jedoch, dass nicht nur die Familie als maßgebliche Gruppe beachtet werden muss, sondern auch Kontakte im Er-wachsenenleben einen wichtigen Einfluss auf abweichendes Verhalten haben können.

Burgess und Akers (1966) erweiterten die Theorie unter Hinweis auf Operationalisie-rungsprobleme und widersprüchliche empirische Befunde zu Sutherlands Annahmen. So gebe es sowohl innerhalb als auch zwischen verschiedenen Studien sowohl stützende als auch wi-dersprechende empirische Erkenntnisse zu Sutherlands Theorie (ebd.: 129). Als zentrale Her-ausforderung betrachten sie die Zusammenführung von Erkenntnissen über strukturelle Eflüsse auf abweichendes Verhalten mit Erkenntnissen über individuelle Faktoren, welche in-nerhalb bestimmter Strukturen darüber entscheiden, ob diese zu abweichendem Verhalten führen oder nicht. Wichtig sind ihnen also die konkreten Lernprozesse des Individuums. In der zugrunde liegenden Verhaltenstheorie wird unterschieden zwischen zwei wesentlichen Ar-ten des VerhalAr-tens: respondent behaviour, also VerhalAr-ten, welches direkt auf einen entspre-chenden Stimulus erfolgt, und operant behaviour, also Verhalten, welches das zentrale Nerven-system einbezieht und welches „a function of its past and present environmental consequen-ces“ (Burgess/Akers 1966: 132) ist. Folgt auf solches Verhalten ein positiver Stimulus, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Verhalten auch in Zukunft gezeigt wird. Ein solcher Stimulus kann nun sowohl in einer sozialen als auch in einer nicht-sozialen Situation auftre-ten. Anders formuliert: Abweichendes Verhalten kann sowohl in der Interaktion mit anderen als auch ohne Interaktion erlernt werden. Wird es in sozialen Situationen erlernt, kann man annehmen, dass jene Personen einen besonders starken Einfluss auf die Lernprozesse haben, welche die größte Quelle für positive Verstärkungen sind – also in der frühkindlichen Phase meist die Eltern, später aber auch Freunde, Erzieher oder Lehrkräfte. Burgess’ und Akers’

Überlegungen führen zu einer Reformulierung der Annahmen Sutherlands. Dabei behalten sie wesentliche Annahmen zwar bei, ergänzen und präzisieren sie aber an manchen Stellen. Unter anderem wird die zentrale Annahme Sutherlands, wonach Menschen dann deviantes Verhal-ten zeigen, wenn die die Zahl Gewalt befürworVerhal-tender Kontakte die Zahl Gewalt ablehnender Kontakte übersteigt, überarbeitet: „Criminal behaviour is a function of norms which are disc-riminative for criminal behaviour, the learning of which takes place when such behaviour is more highly reinforced than noncriminal behaviour“ (ebd.: 146).

In einer etwas späteren Arbeit fanden Akers et al. (1979) starke empirische Evidenz für den lerntheoretischen Ansatz. Sie konnten 68 Prozent der Varianz des Marihuanakonsums und 55 Prozent der Varianz des Alkoholkonsums in einer Umfrage unter 3065 US-ameri-kanischen Jugendlichen erklären. Auch andere neuere Arbeiten belegen die Erklärungskraft der Theorie für verschiedene Formen abweichenden Verhaltens (vgl. Akers 1998: 110ff. sowie die empirischen Beiträge in Akers/Jensen 2003). Dennoch bleiben einige Fragen

unbeantwor-tet wie etwa die nach dem unterschiedlichen Einfluss devianter Einstellungen und devianter Handlungen anderer Personen. Unklar ist auch, warum abweichendes Verhalten erstmalig ein-setzt, wenn doch immer schon ein Individuum vorhanden sein muss, von dem ein weiteres das abweichende Verhalten erlernen kann. Unbestritten ist aber, dass individuelles Verhalten vom Verhalten anderer Personen beeinflusst wird. Einen anderen Ursachenkomplex für ab-weichendes Verhalten, nämlich individuelle Deprivation und versagte Zielerreichung, nehmen die Anomie- und die Straintheorie in den Blick.