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4 Theoretische Überlegungen und Einflussfaktoren auf abweichendes Verhalten

4.2 Theorien abweichenden Verhaltens

4.2.4 Kontrolltheoretische Ansätze

Den unterschiedlichen kontrolltheoretischen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie eine andere Ausgangsfrage als die bislang behandelten Theorierichtungen stellen. Während etwa die Strain- oder die Frustrationstheorie konformes Verhalten als den Regellfall betrachten und nach Auslösern für Abweichung fragen, gehen Kontrolltheorien davon aus, dass konformes Verhalten erklärungsbedürftig ist. Das Fehlen von Mechanismen, die Konformität herbeifüh-ren, führt demnach zu abweichendem Verhalten, nicht das Auftreten von Ereignissen, die ab-weichendes Verhalten auslösen.

Der kontrolltheoretische Ansatz, der von Hirschi (2005, Original 1969) geprägt wurde, geht davon aus, dass Menschen dann abweichendes Verhalten zeigen, wenn zu wenig soziale Kontrolle stattfindet. Nach Hirschi existieren vier Mechanismen, um Konformität herzustel-len: Attachments, commitment, involvement und beliefs. Unter attachment ist die emotionale Bindung an nahestehende Personen wie Eltern oder Peers zu verstehen. Da abweichendes Ver-halten diese Bindungen gefährden kann, werden sich Personen, die über stärkere Attachments verfügen, weniger zu abweichendem Verhalten neigen. Commitment bezeichnet eine

Selbst-verpflichtung auf bestimmte Ziele, wie zum Beispiel ein berufliches oder schulisches Ziel.

Auch hier bringt abweichendes Verhalten eine Gefährdung der Zielerreichung mit sich, wes-halb stärkere commitments die Wahrscheinlichkeit abweichenden Verhaltens verringern. In-volvement meint die Eingebundenheit in „conventional activities“ (ebd.: 187) wie Arbeit und Sport, welche den Individuen keine Zeit lassen, abweichendes Verhalten zu zeigen. Mit Beliefs schließlich sind gewisse normative Vorstellungen gemeint, wie etwa Einstellungen zum Rechtssystem.

Eine neuere Variante der Kontrolltheorien, die Power-Control-Theorie von Hagan (Hagan et al. 1985, 1990), versucht speziell, die unterschiedlichen Kriminalitätsraten von Frauen und Männern zu erklären. Die Theorie geht von einer zweifachen Schichtung der Familie aus, nämlich nach dem Alter und nach dem Geschlecht. Die Erwachsenen, insbesondere aber die Mutter, kontrolliert die Sozialisation der Kinder. Der Mann übt jedoch Macht sowohl über die Frau als auch über die Kinder aus. Die von der Frau ausgeübte soziale Kontrolle über die Kin-der erfolgt in einer Weise, dass diese Strukturen reproduziert werden. Deshalb werden bei Jungen eher Mut und Risikobereitschaft gefördert, bei Mädchen dagegen eher Konformität und Anpassung. Folglich neigen Jungen eher zu abweichendem Verhalten als Mädchen. Für den Grad der Unterschiedlichkeit ausschlaggebend ist dabei die Stellung der Eltern im Er-werbsleben. Je größer hier die Unterschiede zwischen Vater und Mutter, desto ausgeprägter auch die stärkere Delinquenzneigung der Jungen. Ist zum Beispiel der Vater voll erwerbstätig, die Mutter aber Hausfrau, soll die unterschiedliche Sozialisation besonders stark ausgeprägt sein. Die Theorie stößt auf Probleme, da sich die Erwerbsbeteiligung von Männern und Frau-en zunehmFrau-end angleicht, die unterschiedliche DelinquFrau-enz von SöhnFrau-en und Töchtern aber fortbesteht. Dies hat Hagan zu einer Revision seiner Theorie veranlasst. Er geht davon aus, dass die stärkere Kontrolle, die Eltern auf Töchter ausüben, fortbesteht, jedoch nicht mehr mit den Erwerbsstrukturen zusammenhängt:

„As women have gained occupational prestige and power in the labour force, parental control of sons and daughters and their identification with traditional gender roles and attitudes of hierarchic self­interest have be-come decoupled from the occupational structure. Women often have used their new agency gained from la-bour­force involvement to break these links. Of course, traditional gender­role schemas and hierarchic self-interested attitudes persist, but they do so more as indirect residues than as direct results of occupational patriar-chy. Meanwhile, the greater parental control of daughters compared to sons also persists, but possibly with a new meaning in advanced market societies, where the greater involvement of parents in the everyday lives of daugh-ters compared to sons may represent a positive form of social capitalization“ (Hagan et al. 2004: 674).

In ihrer „General Theory of Crime“ nehmen Gottfredson und Hirschi (1990) Elemente der Kontrolltheorie auf, stellen jedoch das Konzept der Selbstkontrolle in den Mittelpunkt der Erklärung abweichenden Verhaltens:

„As we have seen, classical theory is a theory of social or external control, a theory based on the idea that the costs of crime depend on the individual’s current location in or bond to society. What classical theory lacks is an explicit idea of self-control, the idea that people also differ in the extent to which they are vulnerable to the temptation of the moment“ (ebd.: 87).

Die Autoren erheben den Anspruch, eine Theorie vorzulegen, die jegliches abweichen-des Verhalten zu erklären vermag, aber auch die Frage beantworten kann, wie konformes Ver-halten zustande kommt. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass alle Arten abweichenden Verhaltens ähnlich strukturiert sind: Sie zielen auf kurzfristige Bedürfnisbefriedigung, sind zumeist einfach und ohne spezielle Fähigkeiten umzusetzen, bringen auf lange Sicht jedoch hohe Kosten in Form verschiedenartiger Sanktionen mit sich. Delinquente unterscheiden sich von Nichtdelinquenten dadurch, dass sie weniger in der Lage sind, ihre Bedürfnisse zu kon-trollieren und aufzuschieben. Die kurzfristigen Handlungsfolgen dominieren bei der Ent-scheidung über das individuelle Verhalten über die langfristigen. Dieser Ansatz hat nach Gottfredson und Hirschi den Vorteil, konstante Neigungen einer Person zu delinquentem Verhalten auch bei Änderung der Lebensumstände zu erklären. Dies können andere Ansätze, welche das Verhalten durch situative Umstände zu erklären versuchen, nicht leisten.

Geringe Selbstkontrolle ist nach Gottfredson und Hirschi (1990: 85) die „nature of cri-minality“. Aber nicht nur kriminelles Verhalten im engeren Sinn, sondern auch strukturell ähnliche Handlungen wie etwa Alkohol- oder Drogenkonsum können auf geringe Selbstkon-trolle zurückgeführt werden. Da Personen mit geringer SelbstkonSelbstkon-trolle zu einem bestimmten Typus von Handlungen neigen, bestreiten die Autoren, dass es häufig zu einer Spezialisierung auf bestimmte Formen abweichenden Verhaltens käme. Vielmehr konstatieren sie auch unter Bezugnahme auf empirische Forschungsergebnisse, dass kriminelle Personen zumeist ver-schieden Arten abweichenden Verhaltens zeigen (vgl. Gottfredson/Hirschi 1990: 91 ff.). Es stellt sich die Frage, wie mangelnde Selbstkontrolle eines Individuum entsteht und wie sie zu definieren ist. Leider ist die Theorie hierbei recht ungenau (vgl. Lamnek 1994: 142), was die latente Gefahr der Tautologisierung birgt: abweichendes Verhalten ist eine Manifestation man-gelnder Selbstkontrolle – zeigt ein Individuum also abweichendes Verhalten, mangelt es ihm an Selbstkontrolle. Jedoch geben die Autoren einige andere Merkmale neben der Neigung zu abweichendem Verhalten an, die sich im Falle mangelnder Selbstkontrolle zeigen, weshalb

zumindest eine indirekte Prüfung der Theorie möglich ist. Hergeleitet werden diese Merkmale aus den Eigenschaften krimineller Handlungen (vgl. Gottfredson/Hirschi 1990: 89 ff.).

Personen, die über geringe Selbstkontrolle verfügen, sind zunächst stark gegenwartsori-entiert. Sie bevorzugen sofortige Bedürfnisbefriedigung, wohingegen Personen mit hoher Selbstkontrolle in der Lage sind, die Befriedigung von Bedürfnissen aufzuschieben. Des weite-ren mangelt es Personen mit niedriger Selbstkontrolle an Fleiß und Ausdauer, sie streben nach einfachen Belohnungen. Drittens sind sie abenteuerlustig, aktiv und körperorientiert. Auf-grund der Tatsache, dass kriminelle Handlungen nur geringe Langzeiterfolge mit sich bringen, folgern Gottfredson und Hirschi, dass Personen mit geringer Selbstkontrolle instabile Partner-schafts- und Freundschaftsbeziehungen haben und auch ein wechselhaftes Berufsleben zeigen.

Da kriminelle Handlungen zumeist einfach auszuführen sind, tendieren Menschen mit niedri-ger Selbstkontrolle des weiteren zu Tätigkeiten, die nur eine niedri-geringe Einarbeitungszeit benöti-gen. Kognitive oder akademische Fähigkeiten werden von ihnen weder geschätzt noch beses-sen. Schließlich sind sie ichbezogen und indifferent gegenüber dem Leiden anderer, was die Autoren daraus folgern, dass kriminelle Handlungen für gewöhnlich andere Menschen schä-digen.

Erklärungsansätze für die vorliegende Arbeit liefern vor allem die Ursachen, die zu ge-ringer Selbstkontrolle führen sollen (vgl. ebd.: 94 ff.). Gottfredson und Hirschi heben hervor, dass sie nicht aktiv trainiert oder in der Sozialisation vermittelt wird, sondern dass sie viel-mehr das Produkt der Abwesenheit sie verhindernder Faktoren ist. Die wesentliche Quelle ge-ringer Selbstkontrolle ist eine ineffektive Kindererziehung. Zwar können angeborene Faktoren wie etwa eine geringe Intelligenz zum Versagen der Erziehung beitragen, jedoch ist es aus Sicht der Autoren immer möglich, Kinder so zu erziehen, dass sie eine hinreichende Selbstkontrolle erlangen. Innerhalb der Familie sind eine geringe emotionale Bindung der Eltern an das Kind, geringe Aufsicht, eine mangelnde Fähigkeit der Eltern, abweichendes Verhalten der Kinder zu erkennen, ineffiziente Bestrafung, elterliche Kriminalität, eine große Familie, fehlende Eltern-teile sowie eine arbeitende Mutter hinderlich bei der Ausbildung hinreichender Selbstkontrol-le. Diese Faktoren sind miteinander verknüpft. So führt etwa die Erwerbstätigkeit der Mutter wie auch eine steigende Zahl von Kindern dazu, dass die Überwachung der Kinder abnimmt.

Versagt die Familie als primäre Sozialisationsinstanz, kann es als weiterer Instanz der Schule gelingen, Kindern eine hinreichende Selbstkontrolle zu vermitteln. Sie kann damit auch die zweite Ursache mangelnder Selbstkontrolle bilden. Zwar hat sie, so die Autoren, gute Voraus-setzungen, um zu einer gelungenen Sozialisation beizutragen (etwa ihr hohes Interesse an

dis-ziplinierten Schülern), stößt aber insbesondere bei jenen Schülern auf Schwierigkeiten, deren Eltern nicht in der Lage sind, ihren Kindern ausreichende Selbstkontrolle zu vermitteln. Gera-de diese Eltern werGera-den nämlich mit Gera-der Schule nur geringfügig kooperieren, was es für die Schule schwierig macht, einen eigenständigen Sozialisationsbeitrag zu leisten.

Neben geringer Selbstkontrolle spielen in der Theorie auch situative Gegebenheiten eine Rolle. So betonen Gottfredson und Hirschi (ebd.: 89), dass mangelnde Selbstkontrolle nicht zwangsläufig zu Devianz führen muss: „In our view, lack of self-control does not require crime and can be counteracted by situational conditions or other properties of the individual.“ Aller-dings bleibt auch die Spezifikation solcher situativer Gegebenheiten eher vage. Abweichendes Verhalten wird dann wahrscheinlich, wenn Personen mit geringer Selbstkontrolle auf eine Ge-legenheit zu abweichendem Verhalten treffen.

Diese Vagheit ist vermutlich eine der Ursachen für die durchwachsenen empirischen Be-funde zur Theorie. Seipel und Eifler (2004) kommen zu dem Ergebnis, dass in Low-Cost-Situationen das Selbstkontrollkonzept erklärungskräftig ist, in High-Cost-Low-Cost-Situationen dagegen Rational-Choice-Überlegungen eher tragfähig sind. Grasmick et al. (1993) finden zwar einen Interaktionseffekt aus geringer Selbstkontrolle und der Gelegenheit zu abweichendem Verhal-ten, beurteilen die Theorie aber insofern skeptisch, als die Gelegenheit auch einen signifikan-ten Haupteffekt zeigt und außerdem ein beträchtlicher Varianzanteil des abweichenden Ver-haltens unerklärt bleibt. In ihrer Metaanalyse von 21 empirischen Studien finden Pratt und Cullen (2000) einen starken Einfluss mangelnder Selbstkontrolle auf abweichendes Verhalten, der allerdings in Längsschnittstudien geringer ist als in Querschnittstudien. Außerdem zeigt sich, dass bei gleichzeitiger Berücksichtigung lerntheoretischer Variablen diesen eine größere Erklärungskraft zukommt.

Wie die Selbstkontrolltheorie und andere Varianten der Kontrolltheorien bestimmte empirische bekannte Zusammenhänge zwischen abweichendem Verhalten und anderen Fakto-ren erkläFakto-ren können und welche FaktoFakto-ren im Rahmen der vorliegenden Arbeit im Lichte die-ser Theorien als untersuchenswert erscheinen, wird in Abschnitt 4.3 behandelt. Zunächst wenden wir uns jedoch einem Ansatz zu, der die bereits angesprochene Rolle der Schule stär-ker in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt.