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6 Das Ausmaß abweichenden Verhaltens an beruflichen Schulen 93

7.4 Die Situation in der Ausbildung und im Betrieb

Die Befragten verbringen einen großen Teil ihrer Zeit im Betrieb, das neue Umfeld prägt ver-mutlich maßgeblich die Lebenssituation der Auszubildenden. Daher ist die Hypothese ange-bracht, dass die Situation im Betrieb einen Einfluss auf abweichendes Verhalten haben kann.

Aus theoretischer Sicht ist ein Gewalt steigernder Effekt von Problemen in der Ausbildung zu erwarten (vgl. Hypothese 3 in Abschnitt 4.3). Zwar ist anzunehmen, dass Probleme im Ausbil-dungsbetrieb zunächst auch die Neigung zu deviantem Verhalten im Betrieb fördern. Aller-dings kann davon ausgegangen werden, dass auch außerbetriebliches und damit innerschuli-sches Verhalten durch Probleme im Betrieb beeinflusst wird. So erscheint es etwa plausibel, dass Aggressionen und Gewalt im Betrieb mit größerer Wahrscheinlichkeit sanktioniert wer-den als Übergriffe etwa gegen Mitschüler. Insbesondere in kleinen Betrieben ist es wahr-scheinlich, dass Gewalthandlungen entdeckt werden, wohingegen zum Beispiel kleinere Schlä-gereien auf dem Pausenhof mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht geahndet werden. Daher wird zumindest ein Teil der an sich gegen Subjekte im Betrieb gerichteten Aggression verlagert werden und sich in innerschulischer Gewalt niederschlagen. Außerdem ist anzunehmen, dass Probleme im Betrieb und in der Schule oftmals gemeinsam auftreten. So können einerseits gemeinsame Ursachen angenommen werden. Wurde etwa eine falsche Berufswahl dahinge-hend getroffen, dass sich die Neigungen und Fähigkeiten des Auszubildenden nicht mit dem Berufsbild decken, wird dies sowohl die Situation im Betrieb als auch jene in der Schule beein-flussen. Andererseits arbeiten Schulen und Ausbildungsbetriebe nicht isoliert voneinander. So gab circa ein Viertel der befragten Lehrkräfte in der zweiten Erhebungswelle an, Schüler als Disziplinarmaßnahme in den Betrieb geschickt zu haben – allein auf diesem Wege findet also ein Verknüpfung schulischer und betrieblicher Probleme statt. Die Annahme der Verlagerung abweichenden Verhaltens auf andere Objekte steht in Einklang mit psychologischen Ansätzen, welche annehmen, dass sich Aggressionen gegen andere Objekte als jene, welche die Ursache der Aggression darstellen, richten können (vgl. Abschnitt 4.2.1).

Abweichendes Verhalten in der Schule wird oft isoliert untersucht, weshalb vergleichs-weise wenig empirische Ergebnisse zu Zusammenhängen außer- und innerschulischer Gewalt vorliegen. Auch werden selten konkrete Einflussfaktoren außerhalb der Familie und der Peergroup betrachtet, vielmehr werden recht allgemeine Phänomene wie die soziale Lage un-tersucht. Einen Zusammenhang zwischen außer- und innerschulischer Devianz konnten etwa Lösel et al. (1997) finden. Aufgrund ihrer Ergebnisse nehmen sie an, dass Phänomene der Ge-walt in der Schule nicht isoliert betrachtet werden können, sondern vielmehr „Teil einer

gene-ralisierten und persistenten Antisozialität“ (ebd.: 340) sind. Kratzmeier und Schneider (2003) untersuchen den Einfluss des sozialen urbanen Umfelds auf schulische Devianz, wobei sie ei-nen Zusammenhang nur für physische Gewalttätigkeiten finden konnten.

Im Folgenden werden also zwei Thesen geprüft, die eine Verfeinerung von Hypothese 3 darstellen:

(1) Probleme im Ausbildungsbetrieb und geringe Erfolge in der Ausbildung fördern abweichendes Verhalten in der Schule.

(2) Das Ausmaß, in dem abweichendes Verhalten von den Problemen beeinflusst wird, hängt von der Stärke des Wunsches ab, die Ausbildung zu beenden.

Für die Prüfung der These werden die Daten der ersten Erhebungswelle herangezogen, da man annehmen kann, dass Personen mit großen Problemen im Betrieb mit geringerer scheinlichkeit in die zweite Stichprobe gelangt sind, weil sie die Ausbildung mit höherer Wahr-scheinlichkeit früher abgebrochen haben. Als unabhängige Variablen werden zwei Indizes zur Zufriedenheit mit der Situation in der Ausbildung einbezogen, welche sich aus je drei fünfstu-figen Items einer Likertskala zusammensetzen. Ein Index misst dabei die Zufriedenheit mit Ausbildungsinhalten, der Abwechslung bei der Arbeit sowie der Kompetenz der Ausbilder, ist also eher auf der inhaltlich-sachlichen Ebene angesiedelt. Der zweite Index deckt dagegen per-sönlich-informelle Aspekte ab und misst, wie zufrieden die Befragten mit dem Arbeitsklima und der Akzeptanz bei Kollegen und Vorgesetzten sind.49 Die Indizes wurden auf einen Wer-tebereich von null bis eins standardisiert, wobei größere Werte größere Unzufriedenheit be-deuten. Der Mittelwert des Indizes zur Zufriedenheit mit inhaltlichen Aspekten liegt bei 0,33 (Standardabweichung 0,22), der Mittelwert des Indizes zur Zufriedenheit mit persönlichen Aspekten bei 0,25 (Standardabweichung 0,23). Weiterhin gehen zwei Dummyvariablen in die Analyse ein, die den Wert eins annehmen, wenn der Befragte seine Chance, die Ausbildung abzuschließen klein oder sehr klein einschätzt beziehungsweise wenn er die Chance, ein Über-nahmeangebot zu erhalten klein oder sehr klein einschätzt. Diese beiden Variablen messen demnach, inwieweit die Befragten erwarten, insgesamt eine erfolgreiche Ausbildung zu absol-vieren. Eine geringe Chance, die Ausbildung abzuschließen, sehen 8,3 Prozent der Befragten, 29,9 Prozent halten die Chance auf ein Übernahmeangebot für klein oder sehr klein. Die Grö-ße des Ausbildungsbetriebs geht ebenfalls in die Analyse ein, da anzunehmen ist, dass damit

49 Cronbach's Alpha liegt für den ersten Index bei 0,69, für den zweiten bei 0,77. Alternative Zusammenfassungen der Items lieferten keine substanziell anderen Ergebnisse.

indirekte Effekte auf die Devianz der Auszubildenden einhergehen.50 Allerdings können unter-schiedliche Vermutungen über die Richtung des Einflusses angestellt werden. So ist in größe-ren Betrieben die Betreuung Auszubildender möglicherweise besser ausgebaut als in kleinen Betrieben, was einen Devianz mindernden Effekt haben sollte. Andererseits ist die soziale Kontrolle in einem großen Betrieb vermutlich geringer, was einen Devianz steigernden Effekt zur Folge haben sollte.

Die Stärke des Wunsches nach einem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung wird über eine Dummyvariable operationalisiert, die den Wert Eins annimmt, wenn der Befragte den gewählten Ausbildungsberuf als „Traumberuf “ bezeichnet hat. Dies ist bei 9,8 Prozent der Be-fragten der Fall. Zusätzlich zu den Haupteffekten gehen vier Interaktionsterme in die Modelle ein zwischen der Frage, ob es sich beim gewählten Beruf um den Traumberuf handelt einer-seits und den beiden Indizes zur Zufriedenheit sowie den Dummys zur Chanceneinschätzung andererseits. Damit wird der Annahme Rechnung getragen, dass der Einfluss der Ausbil-dungssituation abhängig ist von der Stärke des Wunsches, diese abzuschließen.

Zur Modellierungsstrategie sei angemerkt, dass mit den Daten aus den zehnten Klassen der dritten Erhebungswelle ähnliche Modelle geschätzt wurden, wobei als Indikator für die Stärke nach dem Wunsch eines erfolgreichen Abschlusses eine andere Variable herangezogen wurde, nämlich die Frage, ob der Beruf als Übergangslösung ergriffen worden sein. Diese Va-riable wurde ferner auch in die Modelle der ersten Erhebungswelle einbezogen. Sie ist weniger schief verteilt als die Frage nach dem Traumberuf. Die Ergebnisse erwiesen sich als stabil, sie sind also weder von der Erhebungswelle noch von Detailfragen der Operationalisierung ab-hängig.

In bivariater Betrachtung zeigen sich zwar hoch signifikante, aber sehr schwache Korre-lationen zwischen den Indizes zur Zufriedenheit in der Ausbildung und den verschiedenen Gewaltitems, sie liegen stets unter 0,1. Etwas deutlicher sind die Zusammenhänge bei der Ein-schätzung der Chance, die Ausbildung abzuschließen. So liegt etwa der Anteil derjenigen, die mindestens eines der im Index „Gewalt gegen Personen“ erfassten Delikte begangen haben, bei den Personen, welche diese Chance als gering einstufen um vier Prozentpunkte höher als bei der Vergleichsgruppe (15,8 gegenüber 11,7 Prozent), beim Index „Gewalt gegen Sachen“ be-trägt der Unterschied knapp sechs Prozentpunkte (20,7 gegenüber 14,9 Prozent). Ähnliche

50 Die Größe des Betriebs wurde für Betriebe mit höchstens 1000 Mitarbeitern offen erfasst, zusätzlich war es möglich, „mehr als tausend“ anzukreuzen. Bei Personen, die dies ankreuzten, wurde die Zahl 1200 als Mitarbei-terzahl angenommen. Versuchsweise andere eingesetzte Zahlen bestätigten die so gewonnenen Ergebnisse.

sammenhänge ergeben sich bei Betrachtung der Einzelitems. Stets findet man signifikante Dif-ferenzen, wobei Schüler, die ihre Erfolgsaussichten gering einschätzen, eher zu Devianz nei-gen. Kaum Differenzen zeigen sich dagegen bei der Einschätzung der Chance, ein Übernah-meangebot zu erhalten. Bei Gewalt gegen Sachen findet man hier sogar einen der Hypothese widersprechenden Effekt. Schüler, welche eine geringe Chance auf ein Übernahmeangebot se-hen, gaben nur zu 14,9 Prozent an, mindestens eines der im Index erfassten Delikte begangen zu haben, bei den Personen, die bessere Chancen vermuteten, lag der Anteil bei 16,1 Prozent.

Dagegen zeigt sich beim Item „Mitschüler geschlagen“ ebenso ein hypothesenkonformer Zu-sammenhang (12,1 gegenüber 9,6 Prozent) wie beim Index „Gewalt gegen Personen“ (14,7 ge-genüber 11,7 Prozent). Die anderen abhängigen Variablen hängen nicht signifikant mit der unabhängigen Variable zusammen.

In der multivariaten Betrachtung (Tabelle 7-12) bestätigen sich die gefundenen Zusam-menhänge weitgehend nicht. Geschätzt wurden zunächst Modelle für jede abhängige Variable, die entsprechend These 1 nur die Haupteffekte der unabhängigen Variablen zum Betrieb und zur Situation in der Ausbildung enthielten. In einem zweite Schritt wurden diese Modelle durch vier Interaktionsterme ergänzt, um zu prüfen, ob der Einfluss der Ausbildungssituation von der Frage abhängt, ob es sich beim gewählten Beruf um den Traumberuf handelt. Betrach-ten wir zunächst die Modelle ohne Interaktionseffekte. Die Indizes zur Zufriedenheit mit der Situation im Betrieb zeigen nur vereinzelt schwach signifikante Zusammenhänge. Die erwarte-te Zahl begangener Delikerwarte-te gegen Personen serwarte-teigt an, wenn die Unzufriedenheit mit persönli-chen Faktoren im Betrieb steigt. Die erwartete Zahl von Delikten gegen Sapersönli-chen und die Wahr-scheinlichkeit, Einrichtung beschädigt zu haben, steigen mit der Unzufriedenheit mit inhaltli-chen Aspekten. Eine geringe Einschätzung der Chance, die Ausbildung abzuschließen oder vom Betrieb übernommen zu werden, zeigt eine uneinheitliche Wirkung, allerdings besteht hier nur ein einziger signifikanter Effekt: wer die Chance auf ein Übernahmeangebot für ge-ring hält, hat eine größere erwartete Zahl von Delikten gegen Personen, wobei dieser Einfluss auch nur schwach signifikant ist. Die Betriebsgröße zeigt in den beiden Modellen zu Gewalt gegen Personen einen positiven Effekt. Absolvieren die Befragten ihre Ausbildung in einem größeren Betrieb, neigen sie eher zu Gewalt gegen Personen. Eine geringe Rolle spielt auch, ob es sich beim gewählten Beruf um den Traumberuf handelt. Zwar zeigt sich hier entgegen der These tendenziell ein Gewalt steigernder Haupteffekt, der sich jedoch nur im Modell für den Index Gewalt gegen Personen zum 1-, im Modell für den Index Gewalt gegen Sachen zum 5-Prozent-Niveau als signifikant erweist.

Tabelle 7-12: Einfluss der Ausbildungssituation auf abweichendes Verhalten Vorbildung (Referenzkategorie: Hauptschule 9. Klasse)

Kein Abschluss/

Förderschule 2,667*** 2,732*** 2,286** 2,458** 2,048** 1,895** 2,428** 2,177* 1,160 1,209 Qualifizierender

HS-Abschluss 0,855 0,872 1,028 1,048 0,986 0,988 0,954 0,925 0,833 0,824

Mittlere Reife 0,560*** 0,566** 0,548*** 0,543** 0,900 0,899 0,803 0,777 0,825 0,817

abzuschließen 0,753 0,719 0,719 0,624 0,994 0,988 0,986 0,958 1,107 1,080

auf ein

Erläuterungen: Tabelliert sind bei den Negativ-Binomial-Modellen für die Indizes Incident Rate Ratios, bei den Logit-Modellen für die Einzelitems Odds Ratios. Daten der 1. Erhebungswelle 2002. *: p ≤ 0,05; **: p ≤ 0,01; ***: p ≤ 0,001

Die Berücksichtigung der Interaktionseffekte liefert vor diesem Hintergrund kaum überra-schende Ergebnisse. Es zeigt sich nun zwar ein schwach signifikanter Einfluss der Unzufrie-denheit mit persönlichen Aspekten auf die Wahrscheinlichkeit, Einrichtung beschädigt zu

ha-ben. Die Einschätzung der Chance auf ein Übernahmeangebot zeigt beim Index Gewalt gegen Personen keinen Effekt mehr, dagegen bei der Chance, einen Mitschüler geschlagen zu haben, und die Frage nach dem Traumberuf zeigt in keinem Modell mehr einen Effekt. Berücksichtigt man aber die ohnehin teils nur schwachen Signifikanzen, erscheinen diese wenigen Änderun-gen nicht als substanziell. Auch erweist sich keiner der Interaktionseffekte als signifikant. So-weit die betrachteten Variablen also überhaupt einen Einfluss auf die Neigung zu abweichen-dem Verhalten haben, spielt es für die Stärke des Einflusses keine Rolle, mit welcher Motivati-on man den gewählten Ausbildungsruf ergriffen hat. Schließlich bleibt festzuhalten, dass sich auch die klassenspezifischen Differenzen nicht durch die Berücksichtigung der Lage im Be-trieb erklären lassen. Die geschätzten Varianzen auf Klassenebene bleiben etwa so groß wie im Grundmodell, auch sind sie alle mindestens zum Niveau 0,01 signifikant.

Man kann annehmen, dass der Wunsch, die Ausbildung abzuschließen, mit fortschrei-tender Ausbildungsdauer steigt. Die Auszubildenden haben kurz vor Abschluss der Ausbil-dung mehr Zeit in die AusbilAusbil-dung investiert, ein später AusbilAusbil-dungsabbruch führt dazu, dass das Alter im Falle eines doch noch erfolgreichen Abschlusses einer anderen Ausbildung deut-lich höher liegt, was auf dem Arbeitsmarkt als negatives Signal gewertet wird. Daher lässt sich vermuten, dass Probleme im Ausbildungsbetrieb kurz vor Beendigung der Ausbildung ernster genommen werden und sich daher in anderer Weise auf das Verhalten der Schüler auswirken.

Um dieser Vermutung nachzugehen, wurden für die zwölften Klassen der dritten Erhebungs-welle die Modelle aus Tabelle 7-12 ebenfalls geschätzt, wobei lediglich die Variable „Traumbe-ruf “ ersetzt wurde durch die Variable „Übergangslösung“. Die Ergebnisse der berichteten Mo-delle bestätigten sich jedoch: Keine der unabhängigen Variablen zeigte deutliche oder über die verschiedenen Modelle hinweg stabile Effekte.

Trotz im Detail unterschiedlicher Modellierungen und der Betrachtung unterschiedli-cher Subpopulationen zeigen sich also durchgängig keine bedeutsamen Effekte der Ausbil-dungssituation auf abweichendes Verhalten in der Schule. Hypothese 3 ist daher tendenziell abzulehnen. Vor dem Hintergrund der theoretischen Annahmen überrascht dieses Ergebnis.

Selbstverständlich gibt es zahlreiche andere Strategien als Gewalt, mit Misserfolgen in der Ausbildung und Problemen im Betrieb umzugehen: Die Auszubildenden können den Ausbil-dungsbetrieb oder sogar den Beruf wechseln, sie können versuchen, ihre Leistungen zu verbessern, indem sie mehr lernen, oder sie können resignieren und sich zurückziehen. Den-noch wäre zumindest ein tendenzieller Einfluss zu erwarten gewesen, der sich aber nicht ge-zeigt hat. Variablen aus zwei wichtigen vermuteten Einflussbereichen, nämlich der Schule und

dem Betrieb, haben damit bislang entgegen den Annahmen keine wesentlichen Einflüsse auf das abweichende Verhalten der befragten Schüler gezeigt, was die Frage nach anderen Fakto-ren in den Vordergrund rückt. Im folgenden Abschnitt soll daher auf die ökonomische Lage der Auszubildenden eingegangen werden.