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Im vorangegangenen Abschnitt wurden zahlreiche Faktoren zusammengetragen, die mit ab-weichendem Verhalten Jugendlicher über verschiedene Studien hinweg relativ stabile Zusam-menhänge aufweisen. Es handelt sich dabei um keine erschöpfende Aufstellung, vielmehr soll-te versucht werden, wichtige und gut unsoll-tersuchsoll-te Faktoren herauszuarbeisoll-ten. Weisoll-tere Faktoren wurden analysiert, so zum Beispiel der Medienkonsum (vgl. etwa Baier/Pfeiffer 2007, für ei-nen Überblick Lukesch 2002, Theunert et al. 2002). Eindeutig ist, dass abweichendes Verhalten von Jugendlichen nicht durch einzelne Faktoren hinreichend erklärt werden kann, sondern dass zahlreiche Faktoren zusammenwirken. Es ist davon auszugehen, dass vor allem solche Jugendliche zu abweichendem Verhalten neigen, bei denen eine größere Zahl von Risikofakto-ren zusammenkommt.

Die vorliegenden Befunde basieren auf unterschiedlichen Erhebungsinstrumenten und Daten aus unterschiedlichen Regionen, sind stabil unter Kontrolle auf eine Vielzahl von Dritt-variablen, ihnen liegen teils quantitative, teils qualitative Vorgehensweisen zugrunde, die Grö-ßen und Zusammensetzungen der Stichproben variieren stark. Man kann daher davon ausge-hen, dass es sich nicht etwa um methodische Artefakte handelt, sondern um tatsächlich beste-hende Zusammenhänge. Ist die Forschung zu abweicbeste-hendem Verhalten daher an einem Punkt der Sättigung angelangt, der weitere Forschung unnötig macht? Aus meiner Sicht existieren vor allem zwei Fehlstellen, zu deren Schließung die vorliegende Arbeit beitragen soll. Die erste Lücke betrifft die seltene Betrachtung beruflicher Schulen, die zweite die häufig anzutreffende Vernachlässigung adäquater statistischer Verfahren.

Berufliche Schulen. Die meisten Studien befassen sich mit Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien. Zuweilen werden auch Grund-, Gesamt- oder Sonderschulen berücksichtigt, berufliche Schulen finden zwar stellenweise ebenfalls Beachtung, zumeist aber bestenfalls am Rande. Groß angelegte Studien, die sich speziell mit beruflichen Schulen befassen, fehlen. So resümierten Melzer et al. im Jahre 2002: „Noch stärker als die Grundschule sind die Berufs-schulen ein Stiefkind empirischer Gewaltforschung“ – soweit ich sehe, hat sich daran in den vergangenen Jahren wenig geändert. Eine Betrachtung beruflicher Schulen scheint jedoch viel

versprechend zu sein: Schüler an Berufsschulen befinden sich in einer grundsätzlich anderen Lebenssituation als etwa Haupt- oder Realschüler, weshalb interessant ist, ob die bekannten Befunde auch für diese Schüler stabil sind. Die Beantwortung dieser Frage stellt einen Test für die Reichweite der üblicherweise herangezogenen Theorien dar, denkt man im Speziellen etwa an den sozialökologischen Ansatz. Berufsschüler sind seltener in der Schule als etwa Gymnasi-asten, sie werden an unterschiedlichen Lernorten unterrichtet, was annehmen lässt, dass ande-re Faktoande-ren oder eine andeande-re Gewichtung der Faktoande-ren als an allgemein bildenden Schulen anzutreffen sein werden. Weitere Gründe sprechen für die explizite Betrachtung von berufli-chen Schulen: zu großen Anteilen finden sich hier Hauptschüler wieder, also eine vergleichs-weise stark gewaltbelastete Klientel. Wie oben gezeigt wurde, liegt die Gewaltbelastung nach den vorliegenden Befunden an beruflichen Schulen dementsprechend recht hoch (Fuchs et al.

2005). Die hohe Gewaltbelastung bestimmter Gruppen wird oftmals als Begründung für deren Betrachtung herangezogen. So wählen beispielsweise Lösel und Bliesener (2003) eine be-stimmte Jahrgangsstufe mit dem Hinweis aus, die entsprechende Altersgruppe weise eine hohe Gewaltbelastung auf. Analog kann die Betrachtung von Berufsschulen mit ihrer hohen Ge-waltbelastung begründet werden. Das duale Ausbildungssystem sieht sich darüber hinaus mit verschiedenen krisenhaften Erscheinungen konfrontiert, welche eine Betrachtung beruflicher Schulen hinsichtlich des Aspekts der Gewaltbelastung geboten erscheinen lassen. In Kapitel 3 gehe ich ausführlicher auf diese Krise ein und diskutiere mögliche Implikationen für die For-schung zu Gewalt an Schulen.

Auswertungstechniken. Erstaunlich ist, dass für Deutschland viele Arbeiten vorliegen, in denen aussagekräftige statistische Verfahren zur Analyse der vorliegenden Daten keine An-wendung finden. Viele der bestehenden Studien basieren auf großen Stichproben von hunder-ten oder tausenden Befraghunder-ten, wobei sowohl die Methoden der Stichprobenziehung als auch etwa die eingesetzten Erhebungsinstrumente den Stand der methodischen Forschung wider-spiegeln. Bei der Auswertung dieser Daten wird dann jedoch regelmäßig auf Verfahren zu-rückgegriffen, welche die vorhandenen Informationen nicht im größtmöglichen Ausmaß aus-schöpfen. Auch auf diesen Missstand wiesen Melzer et al. (2002: 855) bereits hin. In zahlrei-chen Publikationen findet man etwa zahlreiche grafische Darstellungen bivariater Zusammen-hänge, aber keine multivariaten Analysen. Dabei soll der Wert bivariater Betrachtungen nicht in Abrede gestellt werden, auch in der vorliegenden Arbeit finden sich diese. Sie bieten den Vorteil einfacher, statistisch voraussetzungsarmer Analysen. Es muss aber klar sein, dass im schlimmsten Falle reine Scheinkorrelationen berichtet werden, wenn auf keine Drittvariablen

kontrolliert wird. Auf jeden Fall aber besteht keinerlei Garantie, dass bivariat gefundene Zu-sammenhänge auch im Ausmaß stabil bleiben, kontrolliert man auf andere Faktoren. So kön-nen bivariate Analysen eikön-nen ersten Überblick darüber verschaffen, ob vermutete Zusammen-hänge in den erhobenen Daten wohl vorliegen, eine fundierte Analyse theoretisch oder auch nur aus Plausibilitätsgründen vermuteter Zusammenhänge stellen sie aber nicht dar. Dieses Argument wiegt umso schwerer, als durch die verwendeten ex-post-facto-Designs keine Kon-trolle von Störvariablen ex ante stattfinden kann. Trotzdem bilden sie immer wieder den Schwerpunkt der Analysen.

Aber auch dort, wo multivariate Analysen Anwendung finden, werden oftmals nur die üblichen Standardverfahren wie OLS-Regressionen und Varianzanalysen verwendet (z.B. Kas-sis 2002, Lösel et al. 1997, Rostampour/Schubarth 1997). Auch diesen Verfahren soll nicht der Wert abgesprochen werden; gerade OLS-Regressionen sind bekanntlich recht robust gegen Verletzungen ihrer Annahmen (Krämer 1980). Sie ermöglichen die Analyse zahlreicher unab-hängiger Variablen und können so freilich sinnvoll zur Anwendung gebracht werden, um eine Drittvariablenkontrolle durchzuführen. Dennoch haben diese Verfahren ihre Grenzen und es entsteht der Eindruck, dass sie oftmals recht unreflektiert verwendet werden (vgl. etwa Funk 1995 zu einem Missverständnis der Normalverteilungsannahme der OLS-Regression oder Lö-sel/Bliesener 2003 und Wenzke 1995 für eine offensichtlich unbegründete Anwendung schrittweiser Regressionen).

Die Kritik richtet sich jedoch weniger gegen Details der Durchführung statistischer Ana-lysen als gegen die Ausblendung einer ganzen Modellfamilie: In nur ganz vereinzelten Studien finden sich Modelle, welche die Mehrebenenstruktur der Daten adäquat berücksichtigen.

Oberwittler (2004) stellt fest, dass auch für die sozialökologische Delinquenzforschung wenig gesicherte Erkenntnisse zur Anwendung der Mehrebenenanalyse vorliegen. Eine der Ausnah-men für die schulische Gewaltforschung liefern Funk und Passenberger (1999). Auch wenn es sich hier um explorative Analysen handelt, deuten die Ergebnisse darauf hin, dass manche der üblicherweise stabilen Befunde bei adäquater statistischer Modellierung nicht bestehen blei-ben. So finden Funk und Passenberger zum Beispiel keinen Einfluss der Schulform auf abwei-chendes Verhalten.

Durch die Gruppierung der Befragten in Klassen und Schulen sind zentrale Annahmen etwa der OLS-Regression verletzt, unter anderem die Unabhängigkeit der Beobachtungen voneinander oder die Homoskedastizitätsannahme. Mag diese Vernachlässigung noch akzep-tabel sein, wenn es nicht um schulspezifische Erklärungsfaktoren geht, erscheint sie vollends

fragwürdig, wenn explizit aggregierte Variablen auf Klassenebene oder Merkmale der Schule in die Analysen einbezogen werden, wie dies etwa bei Varbelow (2003: 149), Hanewin-kel/Knaack (1997a) oder Lösel/Bliesener (2003: 69) der Fall ist. Dies betonen auch Melzer und Schubarth (2006: 211):

„Die aggregierten Daten (Gruppenvariablen) dürfen nicht – so z.B. in einem einfachen Regressionsmodell (OLS) – wie die Individualvariablen auf Individualebene eingeführt werden, weil dadurch bei diesen Variablen die Fallzahl (…) fälschlicherweise erhöht würde. Diese künstliche Erhöhung der Fallzahl führt dazu, dass die entsprechenden Schätzungen des Modells eine Genauigkeit suggerieren, die keineswegs gerechtfertigt ist (Unter-schätzung der Standard-Errors). Dadurch können zufällige Ergebnisse als statistisch signifikante Ergebnisse erzielt werden und falsche Schlussfolgerungen gezogen werden“ (Hervorhebung C.G.).

Die Bedeutung der Mehrebenenanalyse für die Untersuchung des Einflusses sozialer Kontexte ist in der sozialwissenschaftlichen Forschung durchaus bekannt (Hinz 2005). Insbe-sondere die Schulforschung dient oft als eines der Paradebeispiele für die Anwendung dieser Modellierungsstrategie (z.B. Bryk/Raudenbush 1992, Goldstein 2003, Langer 2004). Umso er-staunlicher ist es, dass die deutsche Forschung zu Gewalt an Schulen diese Methoden bislang so randständig behandelt.