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4 Theoretische Überlegungen und Einflussfaktoren auf abweichendes Verhalten

4.2 Theorien abweichenden Verhaltens

4.2.3 Anomietheorie und moderne Straintheorie

Etwa zeitgleich mit Sutherlands Theorie der differenziellen Assoziation erarbeitete Merton (1938) die Grundlagen der Anomietheorie. Merton selbst betonte 1997 die Kompatibilität von Anomietheorie und Sutherlands Überlegungen. Während bei letzteren im Zentrum steht, wie deviantes Verhalten erlernt wird, die ursprünglichen Ursachen abweichenden Verhaltens aber ausgeblendet werden, nimmt die Anomietheorie Mertons genau diese Ursachen in den Blick.

Gegenstand seiner Untersuchung war der Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und ab-weichendem Verhalten. Um diesen zu klären, unterschied Merton zwischen kulturell definier-ten Zielen, Zwecken und Interessen einerseits und der sozialen Definition, Regulierung und Kontrolle der akzeptierten Wege der Zielerreichung andererseits (Merton 1938: 672 f.). Erken-nen die Mitglieder einer sozialen Gruppe sowohl die Ziele als auch die legitimen Mittel an, entsteht kein Problem, sie verhalten sich konform. Es kann aber vorkommen, dass zwischen Zielen und Mitteln der Zielerreichung keine Übereinstimung besteht. Ein solcher anomischer Zustand kann, so Merton, zu abweichendem Verhalten führen: „As we shall see, certain as-pects of the social structure may generate countermores and antisocial behaviour precisley be-cause of differential emphases on goals and regulations” (ebd.: 674). Verschiedene Konstel-lationen sind dabei denkbar. (a) Die Individuen erkennen die kulturell definierten Ziele an, verfügen aber nicht über die legitimen Mittel zu ihrer Erreichung; (b) die Individuen verfügen zwar über die Mittel der Zielerreichung, teilen aber die Ziele nicht; (c) die Individuen weisen sowohl die Ziele als auch die anerkannten Mittel zu deren Erreichung zurück.

Fall (a) bezeichnet Merton als Innovation. Es werden neue Wege gesucht, die Ziele zu er-reichen. Diese Wege entsprechen nicht den als legitim erachteten Wegen und können folglich als abweichendes Verhalten bezeichnet werden. In Fall (b), von Merton als Ritualism bezeich-net, wird aus Gewohnheit an den „guten Sitten“ festgehalten, ohne dass die Ziele tatsächlich angestrebt würden. Fall (c) schließlich, als Retratism bezeichnet, tritt nach Merton am

seltens-ten ein. Menschen, welche diese Strategie wählen, ziehen sich zurück und leben am Rande der Gesellschaft. Als Beispiele werden psychisch erkrankte Personen oder Drogenabhängige ge-nannt. Abgesehen von diesen drei Fällen gibt es noch den Fall der Rebellion, bei der Ziele und Mittel im Rahmen der Einführung einer neuen Gesellschaftsordnung durch neue ersetzt wer-den. Dies ist jedoch nicht für die Erklärung alltäglichen abweichenden Verhaltens relevant.

Der hier interessierende Fall ist vielmehr Fall (a).

Nach Merton hängt die Wahl der Innovations-Strategie von der Klassenstruktur ab, da beispielsweise einfache Arbeiter über weniger legitime Mittel verfügen als höhere Angestellte.

Allerdings führt eine niedrigere Position in der Klassenhierarchie nicht automatisch zu abwei-chendem Verhalten:

„It is only when a system of cultural values extols, virtually above all else, certain common symbols of suc-cess for the population at large while its social structure rigorously restricts or completely eliminates access to approved modes of aquiring these symbols for a considerable part of the same population, that antisocial behav-iour ensues on a considerable scale“ (ebd: 680, Hervorhebungen im Original).

Halm (2000) hebt hervor, dass es die Leistung des anomietheoretischen Ansatzes sei, den Blick weg von der Betrachtung der absoluten sozioökonomischen Lage hin zur Bedeutung der relativen Lage zur Erklärung abweichenden Verhaltens zu lenken. Mit diesem Übergang ist eine weitere umfangreiche Diskussion verbunden, wobei unklar scheint, ob es tatsächlich die absolute oder doch die relative Lage ist, welche zur Erklärung abweichenden Verhaltens bei-tragen kann (Crutchfield/Wadsworth 2002). Halm zeigt gleichzeitig eine verbreitete Kritik an der Anomietheorie auf. Merton geht davon aus, dass die zu erreichenden Ziele in einer Gesell-schaft relativ unumstritten sind. Dies muss aber keineswegs der Fall sein, vielmehr kann es von Gruppe zu Gruppe unterschiedliche Ziele geben. Außerdem unterstellt die Anomietheorie, so Clowards (1959) Kritik, dass der Zugang zu illegitimen Mitteln der Zielerreichung unbe-schränkt sei, sich Personen, welche nicht über die legitimen Mittel verfügen, also problemlos illegitimen Mitteln zuwenden könnten. Die von Cloward (1959) explizit als Fortentwicklung der Anomietheorie angelegte, später aber oft eigenständig rezipierte Theorie der differenziel-len Gelegenheiten betont dagegen, dass nicht nur die Zugänge zu legitimen Mitteln der Errei-chung bestimmter Ziele ungleich verteilt sind, sondern auch die Zugänge zu illegitimen Mit-teln. Beispielhaft führt er aus, dass eine Person, welche professioneller Dieb werden möchte, einerseits Anleitung, andererseits aber auch Anerkennung anderer Diebe benötigt (ebd.: 168).

Beides steht aber nicht jedermann gleichermaßen zur Verfügung, so dass es – anders als Mer-ton annahm – nicht ohne weiteres möglich ist, im Falle des fehlenden Zugangs zu legitimen Mitteln einfach zu illegitimen Mitteln zu greifen. Beeinflusst werden die Zugänge zu

illegiti-men Mitteln durch die Sozialstruktur beziehungsweise die Zugehörigkeit zu bestimmten Sub-kulturen. Beispielsweise kann der Zugang zu Bereichen des organisierten Verbrechens abhän-gig sein von der ethnischen Zugehörigkeit.

Solche Schwächen mögen die Ursache sein, warum die Anomietheorie in ihrer ur-sprünglichen Form eher schwache empirische Stützung fand (Albrecht 2002: 768). Dennoch ist das Konzept der Anomie nach wie vor sehr populär, wenn es um die Erklärung abweichen-den Verhaltens geht (Passas 1995). Allerdings hat sich die Bedeutung teilweise deutlich ge-wandelt. So sehen Fuchs und Luedtke (2003: 172) den Anomieansatz recht allgemein „im Zu-sammenhang mit dem Individualisierungskonzept“ und führen aus, dieser mache „ein restrik-tives Klima mit hohen Konformitätszwängen und geringen Partizipationschancen für die Er-klärung von Gewalt und Kriminalität an Schulen verantwortlich“ (ebd.). Auch Passas (1995) betont die Flexibilität des Anomieansatzes, das er als ein Erklärungskonzept „mittlerer Reich-weite“ betrachtet. Fraglich ist dann, wovon diese Reichweite abhängt und ob es einen Kern dieses Ansatzes gibt, der die Ableitung eindeutiger Hypothesen erlaubt. Nach Passas (ebd.: 97) ist dieser Kern der „breakdown of norms regulating behaviour and social interaction“. In die-ser Formulierung erhält man eine recht allgemeine Hypothese, die aber immerhin empirische Prüfbarkeit erlaubt: Kommt es in irgendeiner Gruppe (aus welchen Gründen auch immer) zu einem Regelverlust, werden die Individuen in dieser Gruppe eher abweichendes Verhalten zei-gen. Auf Schulen übertragen lässt sich die allgemeine Annahme ableiten, dass neben den for-malen Regeln, die in einer Klasse gelten, auch die informellen Normen, welche sich im Schü-lerverband herausbilden, eine Rolle für die Erklärung abweichenden Verhaltens spielen soll-ten, und zwar dahingehend, dass relativ schwache Regeln – verbunden mit der Vermittlung bestimmter Ziele – Gewalt fördernd wirken. Mit den sozialökologischen Ansätzen werden wir eine weitere Theorierichtung betrachten, die einen solchen Zusammenhang postuliert.

Auch im Desintegrationsansatz von Anhut und Heitmeyer (Anhut 2005, An-hut/Heitmeyer 2000, Heitmeyer 1994) werden anomietheoretische Überlegungen aufgegriffen.

Zunächst an der Erklärung rechtsradikaler Gewalt orientiert, wird Modernisierungsthesen entsprechend angenommen, dass gesellschaftliche Integrationsleistungen abnehmen. Hier-durch müssen Probleme und Misserfolge verstärkt internal attribuiert werden. Es kommt zu sozialer Desintegration, also zu verminderter Teilnahme an gesellschaftlichen Institutionen.

Desintegrationserfahrungen können unter bestimmten Bedingungen zu antisozialen Einstel-lungen, insbesondere zu fremdenfeindlichen Haltungen führen. Zu diesen Bedingungen zählt die Persönlichkeitsstruktur. So „wirken sich stark ichbezogene, autoritäre

Persönlichkeitsmus-ter begünstigend auf die Ausübung anti-sozialer VerhaltensmusPersönlichkeitsmus-ter als Selbstbehauptungsmittel aus“ (ebd.: 53). Der Ansatz versucht zahlreiche Faktoren bei der Erklärung abweichenden Ver-haltens zu integrieren. So werden politischen Faktoren, der Eingebundenheit in soziale Netz-werke und Gruppen, Intergruppenbeziehungen (also die Art der Kontakte zwischen Angehö-rigen verschiedener sozialer Gruppen) und dem sozialen Klima im Stadtteil Einflüsse auf das Ergebnis individueller Problemsichten zugesprochen.

Ebenfalls als Weiterentwicklung der Anomietheorie zu betrachten sind aktuellere Straintheorien, wie sie etwa von Agnew (1992) vorgelegt wurden. Mit explizitem Bezug auf Merton arbeitet er eine allgemeine Straintheorie aus (Agnew 1995a). Diese überwindet seiner Ansicht nach jene Kritikpunkte, welche Straintheorien bis zu diesem Zeitpunkt entgegenbracht wurden. Dabei handelt es sich unter anderem um das Problem, dass die empirisch ge-fundene Delinquenz der Mittelschicht nicht erklärbar ist und dass der Unterschied aus ange-strebtem und erwartetem wirtschaftlichen Erfolg in empirischen Untersuchungen oftmals kei-nen oder nur eikei-nen geringen Zusammenhang mit abweichendem Verhalten zeigte (ebd.: 114).

Agnew unterscheidet drei wesentliche Arten von „Strain“, also von Belastungen oder Strapa-zen, mit denen ein Individuum konfrontiert sein kann: (1) „Strain as the failure to achieve po-sitivley valued goals“, (2) „Strain as the removal of positively valued stimuli“ und (3) „Strain as the presentation of negative Stimuli“ (ebd.: 51, 57 f.). Speziell der erste Aspekt macht die Paral-lelen zu Mertons Ansatz deutlich, allerdings wird der Fokus auf eine andere Art von Zielen gelegt. Es geht nicht mehr nur um die Unmöglichkeit, ideale Ziele zu erreichen, welche das kulturelle System vorgibt. Vielmehr wird die Bedeutung konkreter, individueller Ziele und der Verhinderung ihrer Erreichung betont. Diese Ziele werden im Vergleich mit anderen gebildet und bewertet – explizit wird hier also wieder die soziale Komponente in die Theorie einge-baut.

Zusätzlich zu versagter Zielerreichung betont Agnew die Möglichkeit, dass der Wegfall positiver Stimuli oder das Auftreten negativer Ereignisse wie etwa der Verlust nahestehender Personen, die Scheidung von Eltern oder ein Umzug in einen anderen Schulsprengel (vgl.

ebd.: 59) abweichendes Verhalten fördern kann. So kann es vorkommen, dass die betroffene Person an den (vermeintlichen) Verursachern des Ereignisses Rache üben will oder versucht, Ersatzstimuli zu erreichen. Durch den Konsum illegaler Drogen kann versucht werden, das Ereignis zu verarbeiten. Schließlich kann versucht werden, dem Ereignis zu entgehen, was mit legitimen Mitteln oftmals nicht möglich ist.

Empirische Prüfungen der Straintheorie lieferten zumindest teilweise stützende Ergeb-nisse. Agnew und White (1992: 475) finden einen „relatively substantial effect on delinquency and drug use“ ihrer Maße für Strain. Aseltine et al. (2000) stellen fest, dass Ärger und Feindse-ligkeit als Reaktion auf negative Erlebnisse wie Schulprobleme, unerwünschte Schwangerschaft oder finanzielle Probleme aggressive Formen abweichenden Verhaltens fördern, dass jedoch kein Zusammenhang mit Marihuanakonsum oder nicht-aggressivem abweichendem Verhal-ten (wie etwa dem Ausreißen aus dem Elternhaus) besteht. Hoffmann und Su (1997) fanden einen vom Geschlecht unabhängigen kurzfristigen Einfluss negativer Lebensereignisse auf De-linquenz und Drogenkonsum bei 11- bis 17-jährigen Jugendlichen, ein Ergebnis, das wieder-um von Hoffmann und Cerbone (1999) teilweise bestätigt wurde. In ihrer Längsschnittbe-trachtung konnten sie zeigen, dass eine hohe Zahl negativer Lebensereignisse mit einem signi-fikanten Wachstum abweichenden Verhaltens einhergeht; dieser Zusammenhang war unab-hängig von Geschlecht, Familieneinkommen, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl.

Mit der Anomie- und der Straintheorie liegen Ansätze vor, die sowohl Einflüsse der öko-nomischen Lage als auch von Schulproblemen auf abweichendes Verhalten erfassen können.

Im Folgenden werden kontrolltheoretische Ansätze behandelt, welche nicht abweichendes, sondern konformes Verhalten als erklärungsbedürftig erachten.