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2.1 Befunde der Forschung zu Gewalt an Schulen

2.1.1 Ausmaß schulischer Gewalt

Gerade im Hinblick auf die öffentliche Diskussion, in welcher oftmals eine stetige Zunahme der Gewalt an Schulen konstatiert wird, erscheint es vielen Autoren wichtig, zunächst das Ausmaß schulischer Gewalt in deskriptiver Hinsicht zu untersuchen, bevor Ursachen der Ge-walt analysiert werden. Zur Abschätzung des Ausmaßes dienen Befragungen von Lehrkräften, öfter aber Aussagen von Schülern, weil diese als valider betrachtet werden (vgl. Piquero et al.

2002). Während Lehrer immer nur einen Ausschnitt des gewalttätigen Handelns beobachten können und zum Beispiel Gewalt am Schulweg oftmals bestenfalls sehr eingeschränkt wahr-nehmen, verhelfen Befragungen von Schülern zu eigener Täter- und Opferschaft zu einem umfassenderen Bild schulischer Gewalt. Außerdem kommt es bei Fremdbeobachtungen eher zu Wahrnehmungsverzerrungen als dies bei Selbstbeobachtungen der Fall ist.

Weitgehender Konsens besteht in der Literatur dahingehend, dass die Häufigkeit von Gewalttaten mit ihrer Schwere abnimmt und anders als in Medien und von Politikern behaup-tet schwere Gewalt nach wie vor selten anzutreffen ist. Differenzen bestehen einerseits hin-sichtlich der genauen Entwicklung im zeitlichen Verlauf der letzten Jahre und Jahrzehnte, worüber noch relativ wenig Befunde vorliegen, andererseits über die Schwere der Gewalt. So ist fraglich, ob eine annähernd konstante Zahl von Gewalttaten nicht über eine zunehmende Härte der Taten hinwegtäuscht.

Für den Zeitraum zwischen 1988 bzw. 1990 und 1996 finden Mansel und Hurrelmann (1998) anhand einer Schülerbefragung an Haupt- und Realschulen, Gymnasien und Gesamt-schulen in Nordrhein-Westfalen und Sachsen2 einen Anstieg verschiedener Formen abwei-chenden Verhaltens. Dieser Anstieg scheint jedoch geringer zu sein, als es die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik vermuten lässt. Die Autoren betonen, dass der durch die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik belegte Anstieg die realen Verhältnisse überschätzt, da sich in dieser das Anzeigeverhalten niederschlägt. Dieses kann sich aufgrund einer veränderten Problemwahr-nehmung auch bei Konstantbleiben der Deliktzahl ändern. Außerdem stellen sie heraus, dass neben einem tatsächlichen Anstieg auch eine veränderte Wahrnehmung und erhöhte Sensibi-lität gegenüber jugendlicher Gewalt das Bild sich verschlimmernder Zustände prägen können.

Der Anteil Befragter, die mindestens eine von vier abgefragten aggressiven Handlungen3 be-gangen hatte, stieg im Beobachtungszeitraum in Nordrhein-Westfalen von 37,2 auf 48,2 Pro-zent, in Sachsen von 34,3 auf 35,9 ProPro-zent, wobei nur der Unterschied in Nordrhein-Westfalen signifikant ist. Auch bei Eigentumsdelikten und Urkundenfälschung4 wird ein Anstieg festge-stellt. In Nordrhein-Westfalen stieg der Anteil Jugendlicher, die hier mindestens ein Vergehen begangen hatten, von 20,4 auf 35,0 Prozent, in Sachsen von 33,2 auf 40,9 Prozent (Man-sel/Hurrelmann 1998: 91). Auch bei Mehrfachtätern finden die Autoren ein deutliches Wachs-tum. Der Anteil Befragter, die mindestens eines der Gewaltdelikte mehrfach ausgeführt hatten, stieg in Nordrhein-Westfalen von 2,2 auf 3,8 Prozent, in Sachsen von 0,9 auf 1,0 Prozent (nicht signifikant). Noch deutlicher ist die Zunahme bei Eigentumsdelikten: Hier wird eine Steige-rung des Anteils der Mehrfachtäter von 3,3 auf 6,5 Prozent in Nordrhein-Westfalen und von 4,3 auf 11,2 Prozent in Sachsen berichtet. Insgesamt zeigt sich also ein recht geringer Anteil

2 Fallzahlen in Nordrhein-Westfalen 1594 (1988) und 1596 (1996), in Sachsen 926 (1990) und 707 (1996).

3 Abgefragt wurden die Items „Sachen von anderen absichtlich beschädigt oder zerstört“, „jemanden geschlagen oder verprügelt“, „jemanden bedroht“ und „jemandem eine Sache mit Gewalt weggenommen“.

4 Abgefragt wurden hier die Items „Irgendwo Sachen von anderen mitgenommen“, „irgendwo eingebrochen“

und „eine Unterschrift nachmachen“.

jugendlicher Mehrfachtäter. Dieser weist jedoch eine steigende Tendenz auf, soweit dies in Anbetracht von zwei Querschnittserhebungen im Abstand von sechs bzw. acht Jahren behaup-tet werden kann.

Fuchs et al. (2005) stellen in ihrer groß angelegten Längsschnittstudie (3609 bis 4523 Be-fragte je nach Erhebungswelle, vgl. ebd.: 67) in Bayern über verschiedene Schulformen ein-schließlich beruflicher Schulen hinweg bezüglich des Ausmaßes schulischer Gewalt zunächst fest, dass nur eines der 23 abgefragten Delikte von mehr als der Hälfte der Befragten begangen wurde, und zwar das Beschimpfen eines Mitschülers. Als zweithäufigste Tat finden sie das Herziehen über eine andere Clique innerhalb einer Clique. An dritter Stelle folgt jedoch ein Delikt, das immerhin dem Bereich körperlicher Gewalt zuzurechnen ist: 36,9 Prozent der Be-fragten gaben an, zumindest selten einen Mitschüler geschlagen zu haben, der sie provoziert habe. Die übrigen abgefragten Verhaltensweisen wurden deutlich seltener begangen. So kons-tatieren die Autoren: „Schwerwiegende Gewalthandlungen an bayerischen Schulen, die auch strafrechtlich zu ahnden wären, kommen so gut wie nicht vor“ (ebd.: 73). Betrachtet man die deskriptiven Befunde eingehender, fällt auf, dass der Anteil Befragter, welche angaben, die ver-schiedenen Delikte „oft“ oder gar „sehr oft“ begangen zu haben, äußerst gering ist und in den meisten Fällen zwischen einem und zwei Prozent liegt (vgl. ebd.: 74f.). Interessant ist auch, dass ein Rückgang der Gewalt konstatiert wird: „Der generelle Befund lautet also, dass im Jahr 2004 die Gewalthäufigkeit in der Regel geringer ist als 1999 und 1994“ (ebd.: 77). Im Längs-schnitt stellen die Autoren für Bayern ein Sinken der ohnehin relativ geringen Gewaltbelas-tung fest. Ein Index physischer Gewalt etwa, der von 0 (keine Gewalt) bis 10 (maximale Ge-walt) reicht,5 sank im Beobachtungszeitraum von 0,7 auf 0,6, ein Index verbaler Gewalt mit gleichem Wertebereich von 2,3 auf 2,1, ein Index „Gewalt gegen Sachen“ ging von 0,6 auf 0,4 zurück und ein Index psychischer Gewalt von 0,5 auf 0,4 – der Rückgang bezieht sich also auf alle betrachteten Arten abweichenden Verhaltens (ebd.: 81).

Hinsichtlich des Ausmaßes abweichenden Verhaltens finden sich ähnliche Befunde in vielen weiteren Studien. Bayer und Schmidt-Rathjens (2004) berichten Ergebnisse einer Befra-gung von 796 Schülern der siebten bis neunten Klasse an Haupt- und Realschulen und Gym-nasien in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg und stellen fest, dass 75,9 Prozent der Be-fragten nie oder nur sehr selten mit Gewalt in Berührung kamen. Dagegen gehören 14,6

5 Die Indizes wurden basierend auf verschiedenen Items zur Gewaltausübung berechnet, zu denen jeweils auf einer fünfstufigen Skala die Häufigkeit angegeben werden konnte, mit der die jeweilige Handlung begangen wurde (vgl. Fuchs et al. 2005: 80).

zent der Gruppe der Täter oder der Opfer-Täter an, sind also Personen, die entweder Gewalt nur begangen haben oder sie sowohl begangen als auch als Opfer erlebt haben. Auch hier zeigt sich, dass zwar 98,2 Prozent der Befragten psychische Gewalt ausgeübt hatten, aber nur 13,4 Prozent hatten dies häufig begangen. Physische Gewaltformen wie Raufereien hatten 79,2 Pro-zent erlebt, 26,9 ProPro-zent gaben an, extremere Gewalthandlungen erlebt zu haben.6

Eisner und Ribeaud (2003) berichten in ihrer Übersicht über Forschungsbefunde Anteile Befragter zwischen 15,6 und 22,8 Prozent, welche angaben, im Zeitraum eines Jahres mindes-tens eine Körperverletzung begangen zu haben und Anteile zwischen 4,3 und 6,0 Prozent für Raub, wobei auch sie betonen, „dass für den weit überwiegenden Teil dieser Jugendlichen Ge-walt ein einmaliges Ereignis ist“ (ebd.: 185).

Auch in Befragungen von Lehrkräften bestätigt sich die grundlegende Erkenntnis, dass Gewalt an Schulen nicht überschätzt werden darf. So schreiben Lamnek und Ottermann (2003: 161): „Ähnlich anderen Studien (...) zeigen auch die Ergebnisse unserer Lehrerbefra-gungen, dass das Bild einer brutal-gewalttätigen Schuljugend zurechtgerückt werden muss.

Die Schüler sind auch aus Lehrersicht besser als ihr Ruf in der Öffentlichkeit.“ Grundlage die-ses Fazits sind Befragungen von 786 Lehrkräften im Jahr 1994 und 940 Lehrkräften im Jahr 1999 an bayerischen Schulen, welche im Rahmen des Projekts, über das Fuchs et al. (2005) be-richten, durchgeführt wurde. Der Aussage etwa, die Gewalt an bayerischen Schulen sei drama-tisch angewachsen und man müsse dringend Gegenmaßnahmen ergreifen, stimmten im Jahr 1994 11,4 Prozent der Befragten Lehrkräfte zu, 1999 nur noch 6,3 Prozent. Dagegen stieg der Anteil derjenigen, die kaum eine Veränderung feststellen konnten, leicht von 8,8 auf 9,2 Pro-zent an (ebd.: 151).

Eine noch längere zeitliche Perspektive greift Schubarth (1999) auf. Er konstatiert, dass die These dramatisch zunehmender Gewalt für den Zeitraum von 1972 bis 1995 im Rahmen der Bielefelder Studie zu Gewalt an Schulen nicht zu bestätigen sei. Allerdings, so schränkt er ein, sei die gewalttätige Minderheit größer geworden, der Anteil Jugendlicher etwa, die mehr-mals im zurückliegenden Jahr eine Körperverletzung begangen hätten, sei in diesem Zeitraum von zwei auf sechs Prozent gestiegen. Etwas höhere Gewaltbelastungen berichten Lösel und Bliesener (2003). Immerhin 46,6 Prozent der insgesamt 1163 Befragten Nürnberger und Er-langer Haupt- und Realschulen und Gymnasien gaben an, im vergangenen Halbjahr einen Mitschüler geschlagen oder getreten zu haben, allerdings war dies bei 33,2 Prozent nur ein- bis

6 Angemerkt sei, dass es sich hier nur um Angaben zum zumindest einmaligen Erleben handelt, dies darf nicht verwechselt werden etwa mit regelmäßiger Täterschaft.

zweimal der Fall. Deutlich höher ist auch in dieser Studie die Belastung mit verbaler Gewalt, von der 62,3 Prozent angaben, diese im vergangenen Halbjahr begangen zu haben. Schwerere Delikte sind dagegen selten. Einen anderen Schüler mit einer Waffe bedroht hatten 4,0 Pro-zent, bei 1,7 Prozent kam dies mehr als zweimal vor (vgl. ebd.: 43). Zumindest in regionaler Hinsicht vergleichbar sind die Arbeiten von Funk (1995, 2000a, 2000b, 2000c). Auch er zeigt, dass verbale Aggressionen recht weit verbreitet sind, schwerere Delikte dagegen eher selten auftreten. Beispielsweise gaben 82,9 Prozent der befragten Jungen und 74,1 Prozent der Mäd-chen (insgesamt 1458 Befragte) an, jemanden beleidigt oder beschimpft zu haben, während nur 3,9 Prozent der Jungen und 0,9 Prozent der Mädchen angaben, andere Schüler mit Waffen bedroht zu haben (vgl. Funk 2000b: 5). Eine Veränderung der Art der Gewalt hin zu brutale-ren Vorkommnissen konstatiebrutale-ren Hornberg et al. (1994: 355f.), stellen aber auch fest, dass es zwar einen Anstieg der Gewalt gebe, der aber weit entfernt sei von medial transportieren Sze-narien.

Zusammenfassend zeigen sich hinsichtlich des Ausmaßes abweichenden Verhaltens an Schulen also folgende Ergebnisse (vgl. z.B. auch Busch 1998: 55f.):

- Verbale Aggressionen sind relativ weit verbreitet, das heißt sie gehören zum schuli-schen Alltag.

- Dagegen treten schwere körperliche Gewalttaten nur selten auf. Insbesondere gibt es nur eine kleine Minderheit von Wiederholungstätern, das heißt die meisten Schüler begehen solche Taten, wenn überhaupt, eher einmalig.

- Hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung sind die Ergebnisse uneinheitlich, außer-dem liegen relativ wenig Befunde hierzu vor. Weitgehend Einigkeit besteht dahinge-hend, dass es zumindest keinen dramatischen Anstieg der Gewalt gibt. Ob es aber einen leichten Anstieg, keine Veränderung oder sogar leichte Rückgänge gibt, ist nicht eindeutig zu klären.

Die Abschätzung des Ausmaßes schulischer Gewalt ist eine wichtige Aufgabe der Forschung, um überhaupt einen Eindruck von den Dimensionen des behandelten Problems zu bekom-men. Zwar bestehen je nach Erhebungsmethode Differenzen in den Ergebnissen, dennoch lie-gen vergleichsweise fundierte Ergebnisse zum Ausmaß der Gewalt vor. Seine Abschätzung ist aber nur ein Teilschritt bei der Entwicklung eines Gesamtbildes. Zentral ist daneben die Erklä-rung schulischer Gewalt, also die Suche nach Faktoren, welche Gewalt fördernd oder hem-mend wirken.