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EINLEITUNG:

LANDWIRTSCHAFT IN DEUTSCHLAND

Die Erzeugung von gesunden, ökologisch und ethisch vertretbaren Lebensmitteln in ausreichender Menge und vielfalt ist eine grund-legende voraussetzung für Gesellschaft. Darin liegt die zentrale Funktion des Landwirtschafts- und Ernährungssystems; dieses ist insofern unersetzlich. Die Formen der Funktionserfüllung allerdings unterliegen tiefgreifenden und rapiden Wandlungsprozessen. Diese veränderungen werden von endogenen Dynamiken ebenso be-fördert wie von exogenen Wirkungszusammen-hängen. Zu Letzteren gehören – in vielfältig interdependenter Weise – gesellschaftliche Strukturen, Konsumstile und Ernährungsgewohn-heiten, makroökonomische Bedingungen,

Klima- und umweltverhältnisse, wissenschaft-lich-technischer Fortschritt, politische und rechtliche Rahmensetzungen u. v. a. m. Dabei werden landwirtschaftliche Praktiken ebenso wie Ernährungsstile wegen ihrer unmittelbaren Wirkungen auf die Ökosysteme sowie wegen ihres vielfältig gefährdeten Zustands zunehmend unter den Gesichtspunkten der Endlichkeit von Ressourcen und der Generationengerechtigkeit diskutiert. Zugleich wird die Ertragssituation der Landwirtschaft selbst von diesen (negativen wie positiven) Ökosystemwirkungen mit beeinflusst.

Zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungen und den Auswirkungen von Landwirtschaft und Ernährung auf die Natur

gibt es ein komplexes Wechselspiel. Aus ihm resultieren insbesondere auch vielschichtige und konfliktreiche gesellschaftliche Diskurse, welche überdies in Zeiten zunehmend fragmentierter Öffentlichkeiten und in den Social Media an Schärfe zunehmen. Diese Diskussionssituation wird entscheidend mitbestimmt von einem auch mit dem wissenschaftlichen Erkenntnis-fortschritt einhergehenden gesellschaftlichen Wertewandel, in dem umwelt- und Tierschutz an Bedeutung gewinnen. Dies zeigt sich be-sonders prägnant im Bereich der Beurteilung von Tieren in der Landwirtschaft, die sich von einer anthropozentrischen Position hin zu einer verstärkten Anerkennung von Eigenwerten der Tiere verschiebt.1vergleichbares ist bei Themen wie Klimaschutz und Biodiversität zu beobachten. An sich passen Präferenzen wie Tier- und umweltschutz auch zu landwirtschaft-lichen Werthaltungen des Bewahrens und des generationenübergreifenden Denkens. Doch vergrößern sich die unterschiede zwischen den sozialen Milieus, sodass die Kommunikation zwischen ihnen, z. B. zwischen Stadt und Land, erschwert sein kann.

Was die Erwartungen an Landwirtschaft und Lebensmittel anbelangt, so kann die sozial-wissenschaftliche Forschung für weite Teile der Bevölkerung eine ausgeprägte „Natürlichkeits-präferenz“2 zeigen: eine in vielen Gesellschaften

1 S. Hölker, A. Spiller et al. (2019): Tierethische Intuitionen in Deutschland – Entwicklung eines Messinstrumentes zur Erfassung bereichsspezifischer Werte im Kontext der Mensch-Tier-Beziehung, in: German Journal of Agricultural Economics, 299–315.

2 S. Román et al. (2017): The importance of food naturalness for consumers: Results of a systematic review, in: Trends in Food Science & Technology, https://doi.org/10.1016/j.tifs.2017.06.010, 44–57.

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verbreitete Skepsis gegenüber Eingriffen in natür-liche Prozesse, z. B. gegenüber Lebensmittel-zusatzstoffen oder Züchtungsverfahren. Diesem Phänomen der Natürlichkeitspräferenz liegt ein Naturbegriff zugrunde, der mit einer idealisierten vorstellung von Natur einhergeht. „Die Natur“

wird dabei mit positiven Wertbegriffen auf-geladen. Sie ist „gut“ (im ethischen, zuweilen gar im religiösen Sinn), sie ist „ursprung“ (Heimat und Herkunft) und sie ist „rein“ (unverfälscht).

Diese Natürlichkeitspräferenz gehört zur Ambiva-lenz der Agrarumweltdiskussion. Die technische Beherrschung der Natur in landwirtschaftlichen Prozessen stößt auf Widerspruch, während sie von den Landwirt:innen selbst oftmals als Fortschritt wahrgenommen wird. Je stärker die produktivitätsorientierten Seiten der Landwirt-schaft betont und ihre Technologien thematisiert werden, desto skeptischer wird die

Wahr-nehmung in gewissen Bereichen der Gesellschaft, aber auch in Teilen des Berufsstandes selbst.

Ein solches unbehagen an der modernen Land-wirtschaft kann als Kritik an der unterwerfung der Natur unter die verwertungslogik wirtschaft-lichen Handelns gedeutet werden. Diese Kritik sieht in Natur und Landschaft eine der wenigen erhalten gebliebenen Ressourcen lebenswelt-lichen Selbstverständnisses, einen Rückzugsort gegen die Zumutungen von Kapitalismus und Moderne, einen Ort der Identitätsstiftung und Heimat. In dieser Perspektive kann eine sich von regionalen Bindungen, Naturgrenzen des Tieres oder handwerklichen Traditionen der Lebensmittelherstellung entfernende Branche als Bedrohung erfahren werden: als eine Bedrohung, die existenzielle Dimensionen besitzen mag, weil sie mit Ernährung als einem sowohl unmittelbar körperlichen wie zugleich vollständig kulturell überformten vorgang direkt verbunden ist.

Zudem sehen viele Landwirt:innen eine er-hebliche Kluft zwischen hohen gesellschaft-lichen Qualitätserwartungen einerseits und einer (zu) geringen Zahlungsbereitschaft der verbraucher:innen beim Lebensmittelein-kauf (sogenannte Bürger-verbraucher-Lücke) andererseits. Sie nehmen gesellschaftliche Einschätzungen und Erwartungen der an-gedeuteten Art häufig auch als Zeichen von uninformiertheit und Entfremdung von den Realitäten der Lebensmittelproduktion wahr und fühlen sich in ihrer Expertenrolle nicht ernst genommen. Dabei ist es zutreffend, dass immer mehr Menschen keinen direkten Bezug mehr zur Landwirtschaft haben. Landwirt:innen erleben sich in dieser Situation nicht selten als ohnmächtig und empfinden sie als ungerecht, weil sie sich zugleich einem erheblichen öko-nomischen Druck ausgesetzt sehen. Bauer- oder Bäuerinsein ist Selbstverständnis, ist vielfach Lebensentwurf seit Generationen und geht über-dies mit großen individuellen verpflichtungen und Bindungen zeitlicher, räumlicher, sozialer und finanzieller Art einher.

Es wäre allerdings verfehlt, kritische Haltungen gegenüber der Landwirtschaft zu einem all-gemeinen gesellschaftlichen Akzeptanzdefizit zu generalisieren und dieses auf bloßen Informations-mangel zurückzuführen. Gesellschaftliche Diskurse sind vielschichtiger. Eine sehr kritische Beurteilung des „Systems“ Landwirtschaft kann durchaus mit hoher Wertschätzung für die darin arbeitenden Landwirt:innen einhergehen. und auch wenn es richtig ist, dass in einer zunehmend verstädterten Bevölkerung die Kenntnisse über Agrarproduktion zurückgehen, spricht wenig für die Annahme, Informationskampagnen allein würden die Wert-schätzung für die Landwirtschaft steigern können;

kritische Einschätzungen wachsen eher mit dem Informationsniveau der verbraucher:innen.3

3 W. I. Sonntag, A. Spiller et al. (2021): Im Streit um die Nutztierhaltung – Gesellschaftsorientierte Kommunikationsstrategien für die Agrar- und Ernährungswirtschaft, in: German Journal of Agricultural Economics, https://doi.org/10.30430/70.2021.1.1-16.

Die hier skizzierte Situation des Agrardiskurses birgt die Gefahr von Missverständnissen und gegenseitigen Erwartungsenttäuschungen.

Diese erschweren zusätzlich den sachlichen Ausgleich vielfältig divergierender Interessen und vergrößern die Herausforderungen, die mit der Entwicklung eines nachhaltigen Landwirtschafts- und Ernährungssystems verbunden sind.

In den nachfolgenden Abschnitten dieser Einleitung umreißt die ZKL mit knappen Strichen und mit einigen wenigen Kennzahlen zur gegenwärtigen Situation des Agrar- und Ernährungssystems4 sowie zu seiner Entwicklung jene Lage, von welcher die Beschreibungen und Empfehlungen der anschließenden Teile dieses Abschlussberichts ausgehen.

unter Agrar- und Ernährungssystem verstehen wir die Gesamtheit der Akteur:innen und Aktivitäten von der Produktion bis zum Konsum von Lebensmitteln.

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EINLEITuNG: LANDWIRTScHAFT IN DEuTScHLAND / ÖKONOMIScHE ASPEKTE