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Kräfteverhältnisse im Ernährungs- Ernährungs-system, kartellrechtliche Fragen

4 Ökonomische Handlungsfelder, Politikoptionen und Empfehlungen

4.1.2 Kräfteverhältnisse im Ernährungs- Ernährungs-system, kartellrechtliche Fragen

externer Effekte europäisch eingebettet sein.

Dabei sind die Rahmenbedingungen so zu wählen, dass eineverlagerung der Produktion über die Grenzen des Eu-Binnenmarktes verhindert wird (s.

auch Kapitel B 4.2). Dort, wo eine europäische ver-einheitlichung derartiger Maßnahmen nicht ab-sehbar ist, sollen sie national so flankiert werden, dass Leakage-Effekte durch Produktionsverlage-rungen innerhalb der Eu vermieden werden.

Sozialer Ausgleich steigender Lebensmittel-preise: Ziel und Erwartung ist es, dass durch vermeidung bzw. Internalisierung die derzeit entstehenden externen Kosten der Lebens-mittelproduktion und des Lebensmittelkonsums langfristig sinken, und zwar an den Stellen, an denen sie aktuell auftauchen, wie etwa im Gesundheitssystem oder im umweltbereich.

Diese Entwicklung wird sich jedoch eher lang- als kurzfristig vollziehen. um zu ver-hindern, dass gerade einkommensschwache verbrauchergruppen und vulnerable Haushalte (z. B. solche mit Transfereinkommen) durch steigende Lebensmittelpreise kurzfristig belastet werden, müssen eine soziale Flankierung und ein monetärer Ausgleich für diese Gruppen sichergestellt werden. Dies kann z. B. durch eine Erhöhung des ernährungsbezogenen Satzes bei Transfereinkommen und durch jährliche Kompensationszahlungen bei der Anhebung von verbrauchssteuern erfolgen. Aufgrund der langfristig zu erwartenden Einsparungen durch vermeidung bzw. Internalisierung negativer ex-terner Effekte des Agrar- und Ernährungssystems ist dies gleichwohl eine finanziell nachhaltige Maßnahme.

Folgende von wissenschaftlicher Seite im

Rahmen des Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesund-heitlichen verbraucherschutz (WBAE) beim BMEL

im Juni 202068 empfohlene Instrumente können darüber hinaus eingesetzt werden, um das Steigen von Lebensmittelpreisen sozialverträglich abzufangen. Die ZKL empfiehlt, auf diese Instru-mente zurückzugreifen:

– die Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte;

– eine kostenlose und qualitativ hochwertige Kita- und Schulverpflegung;

– eine Anpassung der Regelbedarfe der Grundsicherung;

– eine SenkungdesEinkommensteuersatzesin Kombination mit einer Erhöhung der Sozial-leistungen für Gruppen, die keine Einkommen-steuer zahlen;

– eine Sonderzahlung/Steuerrückzahlung („Nach-haltigkeitsprämie“) für einkommensschwache Haushalte, wie zurzeit im Rahmen der cO2 -Zertifikate/-Steuer diskutiert wird.

4.1.2 Kräfteverhältnisse im Ernährungs-system, kartellrechtliche Fragen

Zielsetzung der Agrarpolitik muss es sein, den Landwirt:innen als wirtschaftenden unterneh-mer:innen ein rentables Arbeiten im Rahmen ökologischer und sozialer verantwortung in einer im Hinblick auf Preis und Qualität wettbewerbs-fähigen Landwirtschaft zu ermöglichen. Agrar-politische Steuerungs- und Förderinstrumente müssen ungeachtet dessen geeignet sein, strukturelle Wettbewerbsnachteile der Landwirt-schaft in der Wertschöpfungskette auszugleichen und nicht marktfähige gesellschaftspolitische Ziele zu unterstützen.

Der Lebensmittelmarkt ist ein komplexes Netzwerk vielfältig miteinander verflochtener Stufen und Prozesse der Wertschöpfung. Dabei sind die jeweiligen verhandlungspositionen von großer struktureller Asymmetrie und Divergenz

68 WBAE (2020): Politik für eine nachhaltigere Ernährung – Eine integrierte Ernährungspolitik entwickeln und faire Ernährungsumgebungen gestalten, https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ministerium/Beiraete/agrarpolitik/wbae-gutachten-nachhaltige-ernaehrung.html.

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gekennzeichnet. Die Landwirtschaft verkauft ihre Produkte nur in geringem umfang direkt an die verbraucher:innen, vielmehr in der Regel über die lebensmittelverarbeitende Wirtschaft an den Lebensmitteleinzelhandel. In Deutschland ist die Wertschöpfung in der Lebensmittelkette durch eine erhebliche Konzentration aufseiten des Handels im vergleich zur Landwirtschaft, aber auch – wenngleich weniger ausgeprägt – im vergleich zur Ernährungsindustrie

gekenn-zeichnet. Erzeuger:innen setzen ihre Produkte in einem vielschichtigen Wirtschaftsraum ab;

sie finden ihre Abnehmer:innen in einer vielzahl von Märkten (z. B. verarbeitung, Gastronomie, Lebensmitteleinzelhandel, Direktvermarktung, Export). Im Lebensmitteleinzelhandel stehen die vier größten Händler ca. 6 000 unternehmen der Lebensmittelverarbeitung und Ernährungs-industrie sowie etwa 263500 landwirtschaft-lichen Betrieben gegenüber. Dies führt nicht in allen, aber in einigen Warengruppen zur Ab-hängigkeit der Landwirtschaft von den vorgaben der Industrie oder des Handels.

Die ZKL schlägt vor, einen Wettbewerbsraum zu schaffen, in dem zwischen landwirtschaft-lichen Betrieben, Lebensmittelverarbeitung und Handel faire verhandlungen stattfinden und in dem die höheren Kosten der vermeidung und Internalisierung negativer Externalitäten gleichwertig über die gesamte Kette bis hin zur verbraucherschaft getragen werden. Wichtige Elemente eines derartigen Wettbewerbsraums werden im Folgenden skizziert.

Langfristige Kooperations- und Abnahme-beziehungen mit Handel, produzierenden und verarbeitenden unternehmen sowie verbrau-cher:innen können für eine verstetigung der Produzenteneinkommen, eine Abfederung der Risiken und Planungssicherheit sorgen.

Bilateral vereinbarte gemeinsame Mengen-planungen oder Festpreismodelle für Teile der Liefermengen können für die Beteiligten Risiken

in stark volatilen Lebensmittelmärkten ver-mindern. Hingegen stellen dauerhafte staatliche Eingriffe in die einzelbetrieblichen Mengen-planungen oder Quotenregelungen keine realisti-sche Option für eine Anhebung des Preisniveaus dar. Im Falle einer Überproduktion, die zu einem enormen Preisabfall führt, sollte europäisch das Instrument der zeitlich begrenzten freiwilligen Mengenreduzierung aller Produkte der ge-meinsamen Marktorganisation (GMO) etabliert werden. Die genannten Marktkriseninstrumente sind geeignet, teure Überschüsse und hohe Einkommensverluste zu vermeiden.

Angesichts zunehmend konzentrierter Strukturen aufseiten der Abnehmer:innen (der verarbei-ter:innen wie des Handels) landwirtschaft-licher Produkte sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die Marktrisiken entlang der Wert-schöpfungskette gleichmäßiger – entsprechend den jeweiligen Leistungsfähigkeiten und

Belastungsgrenzen – zu verteilen. Dies kann z. B.

durch die Förderung von Erzeugerzusammen-schlüssen oder auch durch die Förderung und Regulierung vertraglicher Abkommen zwischen den einzelnen Stufen des Systems erreicht werden.

Eine weitere Stärkung der verhandlungsposition der landwirtschaftlichen unternehmen im Wertschöpfungssystem über die bisherigen Re-gelungen hinaus muss durch eine stärkere kartell-rechtliche Privilegierung von Erzeuger:innen und ihren vermarktungsorganisationen erfolgen.

Branchenverbände unter Einbeziehung mehrerer Stufen der Lieferkette bieten die Möglichkeit, die Qualitäts- und Absatzförderung sowie die Wirtschaftlichkeit der Erzeuger:innen zu stärken. Mit Kooperationen bei Produktion und vermarktung können Lasten geteilt und Stärken gebündelt werden.

In Betracht zu ziehen ist auch ein Ausbau der wettbewerbsrechtlich zulässigen Kooperations-möglichkeiten der kleinen und mittelständischen

Saatzuchtunternehmen. Weiterreichende Möglichkeiten zur Bündelung ihrer Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, aber auch zu Kooperationen bei der vermarktung ihrer

Produkte könnten diese unternehmen in die Lage versetzen, ihre Innovationskraft und die Arten- und Sortenvielfalt zu stärken, ihre Produkte effizienter anzubieten und hierdurch zum vorteil der Nutzer:innen im Wettbewerb mit erheblich größeren weltweit agierenden unternehmen zu bestehen sowie ihre Marktposition im verhältnis zum Handel (insbesondere zum Saatgut- und Lebensmittelgroß- und -einzelhandel) zu stärken.

Ebenso wird eine verstärkte Förderung

innovativer Geschäftsmodelle (z. B. Solidarische Landwirtschaft, Direkt- und

Online-ver-marktungskonzepte, Green Care) für land-wirtschaftliche Betriebe zur Stabilisierung und Diversifizierung landwirtschaftlicher Einkommen vorgeschlagen. Dabei ist wichtig, sicherzustellen, dass die umsetzung neuer unternehmens-konzepte nicht dazu führt, dass unternehmen vorschnell die Förderkriterien für landwirtschaft-liche Betriebe nicht mehr erfüllen.

verbraucher:innen bestellen Lebensmittel immer häufiger online und kaufen auch direkt bei den Erzeuger:innen; die coronapandemie hat diesen Trend weiter verstärkt. um diese Wachstumsmärkte bedienen zu können, sollten Landwirt:innen beim Einsatz und bei der Nutzung von digitalen Anwendungen zur

Direktver-marktung mit technischen und konzeptionellen Beratungsleistungen unterstützt werden. Zudem ist eine stärkere vernetzung mit im Markt bereits vorhandenen digitalen

Geschäfts-modellen wie Lebensmittelplattformen sinnvoll.

Die Digitalisierung ermöglicht nicht nur neue vermarktungsformen und -wege, sondern auch einen erweiterten, zielgerichteten Dialog (regio-nal, personalisiert, innovativ) über die Produkte zwischen Erzeuger:innen und Kund:innen.

Je enger in einer regionalenWertschöpfungskette zusammengearbeitet wird, desto eher bleiben die Wertschöpfungserträge in der Region. chan-cen liegen in innovativen vermarktungswegen und regionalen Wertschöpfungsketten. So sollte die regionale (Direkt-)vermarktung z. B. durch Ausweitung von Regionalprogrammen und klare Herkunfts- und Regionalkennzeichnungen (s. Kapitel B 4.1.3) gefördert werden.

Das Gelingen von neuen Produktions- und vertriebsansätzen ist auch von günstigen Rahmenbedingungen abhängig. So sind landwirtschaftliche unternehmen, die in der Nähe von urbanen Zentren liegen, in mancher Hinsicht solchen gegenüber im vorteil, die fernab von städtischen Absatzmärkten ihre Flächen bewirtschaften.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die ZKL ist der Auffassung, dass die Beziehungen und ver-handlungspositionen der verschiedenen Stufen im Agrar-, Lebensmittel- und Ernährungssystem systematisch und strukturell neu gestaltet werden sollten. Zur Symmetrisierung der ver-schiedenen Marktpositionen leisten direkte oder digitale Interaktionsbeziehungen zwischen Pro-duzent:innen und den nachgelagerten Stufen der Wertschöpfungskette einen wichtigen Beitrag.

Die ZKL empfiehlt daher in diesem Zusammen-hang insbesondere den Ausbau regionaler und lokaler Wertschöpfungspartnerschaften sowie ein transparentes und auf einheitlichen Mindeststandards basierendes Kennzeichnungs-system. Landwirtschaftliche Betriebe sollten dabei unterstützt werden, nachgelagerte Wertschöpfungsfunktionen verstärkt ein-zugliedern, um von der Kundennähe und der höheren Wertschöpfungstiefe auf der verarbeitungs- und vermarktungsstufe besser profitieren zu können (Rohstoffveredelung statt nur Rohstoffproduktion). Darüber hinaus sollten neue Produktionsmodelle und -konzepte (z. B.

Kooperation landwirtschaftlicher Betriebe mit

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Start-ups, regionalen Lebensmittelverarbei-ter:innen oder regionalen Akteur:innen der Gemeinschaftsverpflegung) gefördert werden.

Auch sollte auf verbindliche Lieferverträge mit konkreten Angaben über Menge, Qualität, Preis und Laufzeit des vertrages hingewirkt werden, um die Planungssicherheit für Erzeuger:innen zu erhöhen. Force-majeure-Regelungen, die eine Haftung der Produzent:innen in Fällen einer unverschuldeten unmöglichkeit der Lieferung (höhere Gewalt) ausschließen, sollten überdies ein verkehrsüblicher Bestandteil von Lieferver-trägen sein.

Insgesamt sollten kettenübergreifende Ansätze unter Einbeziehung aller Akteur:innen der Wert-schöpfungskette intensiviert und die Kommunika-tion zu landwirtschaftlicher Erzeugung verstärkt werden. Dazu würde nach dem verständnis der ZKL auch gehören, Schlichtungsmechanismen zur Konfliktbeilegung zu etablieren und sich auf eine „umgangskultur“ (z. B. verhaltenskodex, Ombudsstelle, Preisbeobachtungstelle) zu verständigen.

Das Gesetz zur Stärkung der Organisationen und Lieferketten im Agrarbereich, mit dem die Eu-Richtlinie über unlautere Handelspraktiken (2019/633) national umgesetzt wird, muss daraufhin evaluiert werden, ob dadurch die Lieferbeziehungen in der Lieferkette fairer ge-worden sind.

Auch sollten unionsrechtliche Spielräume des geltenden Eu-Wettbewerbsrechts (er-leichterte Freistellung vom Kartellverbot für Erzeugergemeinschaften) zur Stärkung der ver-handlungsposition gegenüber Abnehmer:innen landwirtschaftlicher Rohstoffe stärker genutzt werden.

Nach der verabschiedung nationaler Liefer-kettengesetze könnte sich ein europäisches Lieferkettengesetz positiv auf die Wettbewerbs-situation im heimischen Markt auswirken und

für eine verbesserung der ökologischen und sozialen Produktionsbedingungen in Drittländern sorgen. Aufgrund des Beitrags zur ökonomischen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit spricht sich die ZKL für ein Lieferkettengesetz auf

europäischer Ebene aus.

4.1.3 Markttransparenz, Kennzeichnungs-