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Koordinationsreduktion und Minimalitätsanforderungen

Im Dokument Morphologisch komplexe Wörter (Seite 33-85)

2.3 Diagnostika des phonologischen Wortes im Deutschen

2.3.2 Koordinationsreduktion und Minimalitätsanforderungen

Die Koordinationsreduktion (engl.coordination reduction) bezeichnet Strukturen, bei denen zwei Elemente unter Auslassung eines identischen Teilelements syn-taktisch durchundoderodermiteinander koordiniert werden, wobei die Auslas-sung unmittelbar an die Konjunktion angrenzen muss (vgl. Booij 1985: 143-144):

(15) Herbst- und Frühlingsblumen (16) Freund- oder Feindschaft

In beiden Beispielen wird das zweite Element des ersten komplexen Worts aus-gelassen und taucht nur im zweiten, durchundoderoderkoordinierten komple-xen Wort auf. In Beispiel (15) handelt es sich um zwei Komposita, in Beispiel (16) um zwei Derivate mit -schaft. Booij (1985) nimmt Beispiele wie diese als Grund-lage, um für die Notwendigkeit der prosodischen Domäne des pWorts zu argu-mentieren. Aus theoretischer Perspektive ist interessant, dass die Koordinations-reduktion ein Problem für bestimmte Annahmen der Lexikalischen Phonologie (und anderer modularer Theorien) darstellt, denn sie bedeutet, dass beim syntak-tischen Verfahren der Koordination auf die Wortstruktur zugegriffen wird. Dies widerspricht der Annahme, dass die interne lexikalische Struktur für die Syntax

opak ist und durch syntaktische Operationen folglich nicht verändert werden kann (vgl. dazu auch Abschnitt 2.1).

Im Rahmen der strukturellen Beschreibung zeigt Booij weiterhin auf, dass sich das ausgelassene Element weder durch phonologische, noch durch morphologi-sche oder syntaktimorphologi-sche Kriterien einheitlich charakterisieren lässt. Dass phono-logische und morphophono-logische Identität nicht ausreichen, zeigen die beiden un-grammatischen Beispiele in (17) und (18):

(17) *Vo- oder Flügel (18) *salz- und mehlig

(17) zeichnet sich durch die identische Lautsequenz /gəl/ aus, (18) durch das identische Derivationsmorphem -ig. Obwohl also beide Beispiele jeweils identi-sche Strukturen aufweisen, lassen sich diese im Gegensatz zu (15) und (16) nicht tilgen. Beispiele wie (19) und (20) verdeutlichen, dass auch syntaktische Identität kein ausschlaggebendes Kriterium für die Tilgungsmöglichkeit ist:

(19) professionelle und Amateurschauspieler (20) Amateur- und professionelleSchauspieler

Das getilgte Elementschauspieler hat in den koordinierten Konstituenten je-weils einen unterschiedlichen syntaktischen Status. In (19) wird ein freies, durch ein flektiertes Adjektiv modifiziertes Lexem getilgt, das in der koordinierten Kon-stituente aber als gebundene KonKon-stituente in einem Kompositum erscheint. In (20) ist es umgekehrt.

Die Beispiele sind zunächst von Relevanz für die pWort-Analyse, da sie ver-deutlichen, dass sich das Phänomen der Auslassung nicht über die Phonologie, Morphologie oder Syntax erfassen lässt. Stattdessen werden die tilgbaren Konsti-tuenten als phonologische Wörter analysiert. Darüber hinaus zeigen die Beispie-le, dass phonologische Wörter nicht mit syntaktischen Wörtern gleichzusetzen sind, denn den getilgten Konstituenten entsprechen häufig keine syntaktischen Wörter:

My answer to the problem of the nature of the deletable constituents is that they arephonological words(or projections thereof). By means of the noti-on ‘phnoti-onological word’ we can express the fact that there is not always a one-to-one-correspondence between syntactic words and their phonologi-cal correlates. (Booij 1985: 149)

Wiese (2000) thematisiert unter Rückbezug auf Booij (1985) die Koordinations-reduktion und verwendet sie als Diagnostik für das pWort im Deutschen. Aus Gründen, die sogleich erläutert werden, spricht er jedoch nicht von Koordinati-onsreduktion, sondern vongappingoderword deletion. Dieword deletion (Wort-tilgung) wird als optionale phonologische Regel formuliert, die auf das pWort Bezug nimmt:

Word Deletion

Delete a phonological word,

if it occurs adjacent to a phrase boundary, and

if a phonologically identical phonological word exists in an adjacent sister phrase in the coordinative structure. (Wiese 2000: 70)

Als Voraussetzung für die Anwendbarkeit der optionalen Regel gilt somit die Adjazenz des pWorts zu einer Phrasengrenze und das Vorkommen eines identi-schen pWorts in der unmittelbar angrenzenden Schwesterphrase. Obwohl Wiese in dieser Formulierung noch die Koordinationsstruktur aufgreift, merkt er spä-ter an, dass die Auslassung nicht nur Koordinationsstrukturen betrifft, sondern auch auftreten kann, wenn die betroffenen Konstituenten durch eine Präposition oder andere Funktionswörter verbunden werden, wie in (21) und (22). Darüber hinaus sei auch die von Booij (1985) geforderte Adjazenz zur Konjunktion nicht erforderlich, wie aus Beispielen wie (23) ersichtlich ist (aus Wiese 2000: 72).

(21) Sachsen entwickelte sich vom Herzog- zum Fürstentum.

(22) …übernahm er zum Fraktions- auch noch den Landesvorsitz (23) Frühlings-, Sommer- und Herbstblumen

Dies führt Wiese zu der Frage, wie die in der Regel genannte „phrase boundary“

zu definieren sei. Entgegen Booij (1985) schlägt er vor, die Phrasengrenze nicht syntaktisch zu bestimmen, sondern phonologisch. Dies hat den Vorteil, dass die phonologische Regel der Worttilgung nicht auf syntaktische Information zugrei-fen muss, sondern in ihrer Anwendbarkeit nur durch phonologische Information bestimmt ist. Die Regel legt somit zum einen fest, dass die zu tilgende Einheit ein phonologisches Wort sein soll, zum anderen, dass diese Tilgung nur an der Grenze einer bestimmten, noch genauer zu definierenden phonologischen Ein-heit stattfinden soll. Diese phonologische EinEin-heit muss dem pWort übergeordnet sein und als Interface-Domäne den Zusammenhang von Syntax und Phonolo-gie regeln. Die nächst höheren prosodischen Domänen sind die phonologische

Phrase und die Intonationsphrase. Beide sind nach Wiese relevant für die optio-naleword deletion rule– die phonologische Phrase als die Domäne, deren Gren-zen von der Regel betroffen werden, die Intonationsphrase als die Domäne, die die Anwendbarkeit der Regel blockiert. Zur Bildung der phonologischen Phra-se führt WiePhra-se aus, dass jede Adjektiv-, Verb- und NominalphraPhra-se, deren Kopf um ein Komplement oder ein Adjunkt erweitert ist, eine phonologische Phrase konstituiere. Präpositionen bilden keine eigene phonologische Phrase, sondern werden der nachfolgenden Phrase eingegliedert (vgl. Wiese 2000: 74). Die oben gegebenen Beispiele (21) und (22) könnten entsprechend folgendermaßen in pho-nologische Phrasen analysiert werden:

(21′) [Sachsen]𝜑[entwickelte sich]𝜑 [vom Herzogtum]𝜑 [zum Fürstentum]𝜑 (22′) [übernahm]𝜑[er]𝜑[zum Fraktionsvorsitz]𝜑[auch noch den Landesvorsitz]𝜑

Wiese räumt allerdings selbst ein, dass die Phrasierung von einem gewissen Maß an Variation und Optionalität geprägt sei, die durch Sprechstil, Sprechge-schwindigkeit, aber auch Länge der Konstituente hervorgerufen würden. Zudem sei davon auszugehen, dass ebenso wie auf der Ebene der pWörter auch für die pPhrasen Rekursivität zuzulassen sei (vgl. Wiese 2000: 74-77). Zu Funktionswör-tern äußert er sich nicht; es ist jedoch wahrscheinlich, dass „übernahm er“ bereits aufgrund der geringen Länge der Konstituenten eine gemeinsame phonologische Phrase bilden. Die oben gegebene knappe Erläuterung zur Bildung von phono-logischen Phrasen auf der Basis syntaktischer Phrasen scheint somit in der An-wendung mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert zu sein.

An dieser Stelle soll das Hauptaugenmerk jedoch auf der von Wiese postu-lierten phonologischen Regel der Worttilgung liegen. Sie wird folgendermaßen dargestellt:

(24) a. … ω𝑖]𝜑𝜑[…ω𝑖

↓ Ø

b. …ω𝑖…]𝜑 𝜑𝑖

↓ Ø

Regel (24a) behandelt alle Fälle, bei denen das finale pWort der ersten phono-logischen Phrase an eine phonologische Phrase mit identischem pWort angrenzt, was zur Tilgung des finalen pWorts führt (zum Beispiel invom Herzogtum zum Fürstentum). Regel (24b) bringt die Tilgung des initialen pWorts einer zweiten

phonologischen Phrase in Angrenzung an eine vorherige Phrase mit identischem pWort hervor (Bsp.Untersuchungsfrage und Untersuchungsgegenstand).

Die prosodische Domäne der Intonationsphrase wird für die optionale Regel der Worttilgung dadurch relevant, dass sie deren Anwendbarkeit blockiert. Eine Äußerung wie die Folgende ist daher nach Wiese (2000: 82) ungrammatisch:

(25) *[Er liebt alle Herbst-]IP[weil Frühlingsblumen so schnell verblühen]IP Da der Matrixsatz und der untergeordneteweil-Satz je eine eigene Intonati-onsphrase konstituieren, kann die Worttilgung in diesem Kontext nicht erfolgen, obwohl die prosodische Phrasierung auf untergeordneter Ebene dem in Regel (24) definierten Kontext entspricht.

Wieses Beschreibung der bei Booij (1985) noch alscoordination reduction be-zeichneten Struktur und der sie generierenden Regel verzichtet somit gänzlich auf die Einbeziehung morphologischer oder syntaktischer Information und stellt dadurch eine rein in der phonologischen Komponente operierende Regel dar, die – vergleichbar zu vielen anderen phonologischen Regeln – Bezug auf die Ränder von prosodischen Konstituenten nimmt (vgl. Wiese 2000: 77). Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die zur Regelformulierung notwendige prosodische Konstituente der phonologischen Phrase alles andere als unproblematisch ist. Die Bildung von phonologischen Phrasen auf der Basis der syntaktischen Struktur ist in vielen Punkten unklar, wie oben bereits angesprochen wurde. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass es kaum auf die phonologische Phrase bezogene Re-gularitäten zu geben scheint, die Evidenz für diese Domänenebene liefern könn-ten. Neben der Worttilgung führt Wiese (2000) Akzentverschiebungen an, die innerhalb von phonologischen Phrasen, aber nicht über diese hinaus, stattfinden könnten. Folgen beispielsweise Partikelverben wieánzìehenoderábnèhmen un-mittelbar auf einen einsilbigen Fuß wie inden Rock anziehen, so verschiebt sich der Hauptakzent vonanaufzíehen, umstress clashinnerhalb der phonologischen Phrase zu vermeiden. Dies geschieht nicht in Fällen wieDen Rock kann er ánzie-hen,die folglich als aus zwei phonologischen Phrasen bestehend analysiert wer-den (vgl. Wiese 2000: 75-76). Akzentverschiebungen zur Vermeidung vonstress clash und die optionale word deletion rulebilden somit die einzige Diagnostik für die phonologische Phrase. Über den problematischen Status der phonologi-schen Phrase hinaus lassen sich mit Hall (1998) und Smith (2003) noch weitere Kritikpunkte an der Analyse von Wiese (2000) anführen, auf die unten noch aus-führlich eingegangen wird.

Zunächst soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass die auf das pWort be-zogene Worttilgung die einzige Regel bzw. das einzige Diagnoseinstrument

dar-stellt, das das pWort in Hinblick auf übergeordnete phonologische Domänen ver-ortet. Alle anderen in den folgenden Kapiteln noch zu besprechenden Diagnosti-ka wie die Silbifizierung, die Wortakzentzuweisung und andere, zeigen die Inter-aktion des pWorts mit den untergeordneten Domänen Fuß und Silbe auf. Für das Phonologie-Morphologie-Interface bedeutet dies, dass das pWort nicht nur auf sublexikalischer und lexikalischer Ebene, sondern in diesem einen Fall auch auf postlexikalischer Ebene von Relevanz ist.

Die pWorttilgung als Diagnoseinstrument dient Booij (1985) und Wiese (2000) auch dazu, die Abbildbarkeit von prosodischer auf morphologische Struktur ge-nauer zu bestimmen. Welche morphologischen Einheiten können regelkonform getilgt werden und konstituieren folglich ein pWort? Unumstritten ist wohl, dass freie lexikalische Einheiten uneingeschränkt als pWörter fungieren (vgl. auch Hall 1999a). Präfixe und Suffixe verhalten sich allerdings uneinheitlich, und be-reits Wiese weist zusätzlich darauf hin, dass morphologische Faktoren alleine nicht genügen würden, um über die Tilgbarkeit einer Konstituente zu entschei-den.2

In Bezug auf die Suffixe besteht größere Einigkeit über die Frage ihrer Tilgbar-keit ingapping-Strukturen. Sowohl Booij (1985) als auch Wiese (2000) führen als tilgbare Suffixe im Deutschen -schaft, und -tuman. Booij erwähnt zusätzlich -bar, -haft und -los, während Wiese in seinen Beispielen noch auf -lichund -keit ein-geht. Gemeinsam ist diesen Suffixen, dass sie mit einem Konsonanten einsetzen, worin sie sich zentral von den nicht-tilgbaren Suffixen, nämlich -ig, -isch, -ung und -inunterscheiden. Die nicht-tilgbaren vokal-initialen Suffixe sind damit auch deutlich von vokal-initialen Lexemen und dem Suffix -echt (z. B. inwaschecht) unterschieden (vgl. Booij 1985: 152-153; Wiese 2000: 70). Einige Beispiele für die pWorttilgung bei Suffixen geben die folgenden Strukturen nach Wiese (2000: 70):

(26) Heiser- oder Übelkeit (27) Ritter- und Bauernschaft (28) *winz- oder riesig

(29) *Versicher- und Verwaltungen

Es ist zu beachten, dass weder Wiese (2000) noch Booij (1985) sich bei der Be-sprechung des pWortstatus auf nur ein Diagnosekriterium verlassen. Vor allem

2Wiese nennt hier lokale Ambiguitäten, die zu Parsingproblemen führen könnten, und die pro-sodische Struktur des verbleibenden Elements als mögliche Faktoren, die die Akzeptabilität der Gesamtstruktur bei Hörern und Sprechern einschränken könnten (vgl. Wiese 2000: 70). Dieser Aspekt wird von Smith (2003) noch weiter ausgebaut, siehe unten.

Booij (1985) unterstreicht, dass der durch die Tilgung nahe gelegte Status durch zusätzliche Evidenz wie das Wortakzentmuster, die Silbifizierung oder die Inser-tion von Glottalverschlüssen gestützt würde. Dies ist auch von Relevanz für die Beurteilung eines letzten, nicht ganz unproblematischen Suffixes, nämlich des Suffixes -chen. Es ist nach Wiese tilgbar und müsste entsprechend als ein pWort gelten:

(30) Brüder- oder Schwesterchen

Diese Analyse wird durch die Tatsache gestützt, dass das -cheneine Rolle für die ich-/ach-Allophonie spielt, auf die in Abschnitt 2.3.5 gesondert eingegan-gen wird. Problematisch und umstritten ist die Zuweisung des pWortstatus zu -chendadurch, dass es den sogenannten Minimalitätsanforderungen an ein pWort nicht genügt. Zu diesen gehört, dass das pWort einen Vollvokal beinhalten muss, was beim -chenjedoch nicht gegeben ist. Für dieses Suffix lassen sich somit kon-fligierende Beobachtungen machen, die letztendlich dazu führen, dass das Suffix von verschiedenen Autoren unterschiedlich behandelt wird, je nachdem, welcher Diagnostik mehr Gewicht beigemessen wird.

Von den präfigierten Elementen werdenur-, entlehnte gebundene Wurzeln wiepsycho-,sozio-,anti-sowie Partikeln wieüber-oderunter- dem Tilgbarkeits-test unterzogen und als grammatisch analysiert (vgl. Wiese 2000: 70). Booij (1985) behandelt für das Deutsche zusätzlich noch die Präfixezer-,ver-,ent- sowie be-undge-. Die beiden Letztgenannten nehmen einen Sonderstatus ein und werden weiter unten ausführlicher besprochen. Für die Tilgbarkeit vonver-,zer- und ent-werden folgende Beispiele angeführt (Booij 1985: 154; Darstellung durch Durch-streichung orientiert an Booij 1985):

(31) Er möchte ihn zerhauen oder verhauen (32) Sie möchte einladen, er möchte entladen

Es fällt auf, dass in diesen Beispielen im Gegensatz zu allen zuvor besproche-nen das Präfix nicht das getilgte Element ist, sondern das verbleibende (das rem-nant / den Rest). Dies trifft auch auf viele der bei Wiese gegebenen Beispiele zu, wie beispielsweisePsycho- und Soziolinguistik,Über- oder Unterbau. Ande-re Beispiele wiederum entspAnde-rechen der sonst angenommenen Regel der Worttil-gung, derzufolge das getilgte Element das pWort von Interesse ist:Uroma und -opa,Pseudoargumente und -lösungen,einatmen oder -saugen,vorgesungen und -gespielt (vgl. Wiese 2000: 70, 95). Da es sich um die Tilgung von Präfixen oder anderen Erstgliedern handelt, müssen diese Strukturen zwangsläufig solche sein,

bei denen die erste Konstituente des zweiten, koordinierten Elements getilgt wird.

Anderenfalls wäre die Adjazenz zur Phrasengrenze nicht gegeben. Wie bereits Smith (2003) anmerkt, ist es fraglich, ob diese Strukturen tatsächlich im Sinne der Tilgung interpretiert werden, oder ob hier nicht das zweite, koordinierte Ele-ment als eigenständig und vollständig aufgefasst wird.

Interessanterweise sind es genau die „fälschlicherweise“ eingefügten Beispie-le mit dem Präfix als Rest, die Beispie-letztendlich von Kritikern des Diagnoseinstru-ments Worttilgung als relevant anerkannt werden. Ausgangspunkt ist dabei die Tilgungsstruktur mitbe-wie in Beispiel (33) dargestellt:

(33) be- und entladen

Das Besondere an diesem Beispiel ist, dass das verbleibende, durch die Til-gung alleine stehende Präfix be-hier nur in der Form mit langem, gespanntem Vollvokal ([be:]) vorkommen kann und nicht – wie sonst – mit Reduktionsvokal.

Dies verdeutliche, dass das verbleibende Element Restriktionen unterworfen sei und phonologisch in der Lage sein müsse, isoliert vorzukommen (Smith 2003:

217). Auch Hall (1999a: 106) greift das Beispiel auf und zeigt daran das sog. Mi-nimal Word Requirementauf, also Wohlgeformtheitsbedingungen für das pWort im Deutschen. Diese besagen, dass das pWort im Deutschen minimal bimora-isch sein muss. Wie Smith ist somit auch Hall der Auffassung, dass das für die pWort-Diagnostik interessante Element in den Tilgungsstrukturen nicht das ge-tilgte, sondern das verbleibende Element ist. Dieses ist es, was demMinimal Word RequirementGenüge leisten muss und durch das isolierte Auftreten seine pWort-haftigkeit unter Beweis stellt.

Es ergibt sich nun die Frage, welche Konsequenzen diese Ansicht für die bisher dargestellte Worttilgung als pWort-Diagnostik hat. Unterzieht man die bespro-chenen Erstglieder und Zweitglieder dem Test in Hinblick auf die Frage, ob das zur Diskussion stehende Element alleine verbleiben kann, so ergibt sich für die Erstglieder ein recht unkompliziertes Bild. Diese waren es ja, die in den Beispie-len ohnehin überwiegend als Rest belegt wurden. Sowohl die entlehnten gebun-denen Wurzeln, als auch die Partikeln und die Präfixever-, zer-undent-erfüllen somit die Anforderungen für das pWort. Ein Sonderfall war hier das Präfixbe-, das nur in der Form mit langem Vollvokal isoliert verbleiben kann. Das Präfix ge-ist damit das einzige Präfix, das in der Koordinationsreduktion nicht als Rest be-legt ist. Wesentlich problematischer stellt sich der Sachverhalt für die Zweitglie-der dar, denn alle bisher besprochenen Belege zeigen die Tilgbarkeit Zweitglie-der Konstitu-ente auf, nicht ihre Fähigkeit, phonologisch isoliert aufzutreten. Spiegelbildlich zu den Erstgliedern müssen die Tilgungsstrukturen der Zweitglieder das erste

Element der zweiten, koordinierten Konstituente tilgen, so dass die Forderung der Adjazenz zur Grenze erfüllt ist und das Zweitglied der zweiten Konstituente entsprechend alleine verbleibt. Die folgenden Beispiele testen dies mit verschie-denen Suffixen:

(34) *Mutterglück und -schaft (35) *schadlos oder -haft (36) *schadhaft oder -los (37) *glücklos oder -lich (38) *kindlich oder -isch

Keine der Strukturen kann als akzeptabel eingestuft werden. Dies ist jedoch offensichtlich nicht auf einen Verstoß gegen dasMinimal Word Requirement zu-rückzuführen, denn alle dargestellten Suffixe enthalten einen Vollvokal und sind wenigstens bimoraisch. Auch gelten die dargestellten konsonantinitialen Suffi-xe (34)-(37) aufgrund anderer Diagnostika zumeist als eigene pWörter, die vo-kalinitialen (38) jedoch nicht. Der Koordinationsreduktionstest, der den Rest als das relevante Element ansieht, führt somit zu Konflikten mit der pWort-Analyse auf der Basis anderer Tests. Er weist keinerlei Trennschärfe zwischen den vo-kalinitialen und den konsonantinitialen Suffixen auf, sondern führt dazu, dass alle Suffixe gleichermaßen als nicht pWort-fähig zu klassifizieren sind. Die Tat-sache, dass keines der Suffixe in der Koordinationsreduktion phonologisch iso-liert stehen kann, ist dennoch interessant und deutet darauf hin, dass hier noch andere Faktoren als die in diesem Zusammenhang rein phonologisch bestimm-te pWorthaftigkeit eine Rolle spielen. Bezeichnend ist, dass keine Widersprüche mit anderen Diagnostika entstehen, wenn das verbleibende Element ein frei vor-kommendes Lexem ist, wie beispielsweise inUntersuchungsfragen und -design.

Lexikalische Wörter werden grundsätzlich als pWörter analysiert, so dass es in diesem Fall nicht zu Widersprüchen zwischen der Struktur der Worttilgung und der sonst üblichen pWort-Analyse kommt. Die Betrachtung der Worttilgung / Ko-ordinationsreduktion mit umgekehrter Perspektive, d.h. mit Fokus auf dem ver-bleibenden Element, bringt somit zutage, dass alle besprochenen Erstglieder – ganz gleich ob Lexem oder Präfix – bei Wahrung der Minimalitätsanforderungen an das pWort isoliert vorkommen können, während alle Suffixe im Gegensatz zu Lexemen als Zweitgliedern als ungrammatisch einzustufen sind, wenn sie in der

Struktur phonologisch isoliert vorkommen – und das unabhängig von ihrer pho-nologischen Struktur. Der Test der Koordinationsreduktion steht hier in Konflikt mit anderen Diagnostika zur pWort-Bestimmung.

In diesem Zusammenhang soll nun nochmals auf die anfänglichen Beispiele mit Fokus auf dem getilgten Element eingegangen werden, bei denen der Koor-dinationstest wie bereits erwähnt zu einer Differenzierung in vokalinitiale und konsonantinitiale Suffixe führt und im Einklang mit zusätzlicher Evidenz für die pWortstruktur steht. Sowohl Booij (1985) als auch Wiese (2000) thematisieren diese zusätzliche, (vermeintlich) unabhängige Evidenz und beziehen sich dabei zentral auf die Silbifizierung. Koordinationsreduktion und Silbifizierung führen zu den gleichen Ergebnissen: Die Suffixe, die getilgt werden können, bilden zu-gleich eine eigene Domäne für die Silbifizierung (39), während dies bei den nicht-tilgbaren Suffixen nicht zutrifft (40), (41). Entsprechend bezeichnet Booij (1985) den erstgenannten Typ alsnon-cohering affixes, den zweitgenannten Typ als cohe-ring affixes. Diecohering affixeswerden in das pWort des Stamms integriert und sind folglich nicht tilgbar, während die non-cohering affixes ein eigenes pWort bilden:

(39) Heiser- oder Übelkeit (40) *winz- oder riesig (41) *maler- oder wählerisch

Bezogen auf das getilgte Element ergibt sich die Ungrammatikalität der Struk-tur somit zwangsläufig aus der Silbifizierung. Nur, wenn sich klare Silbengren-zen ziehen lassen, ist die Struktur überhaupt möglich. In diesem Fall scheint die Koordinationsstruktur somit lediglich ein Epiphänomen der „zusätzlichen“ Evi-denz der Silbifizierung zu sein. Dass die Silbifizierung notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung ist, zeigt sich jedoch in anderen Fällen wie dem bereits eingeführten *Vo- oder Flügel. Silbifizierbarkeit ist hier zwar gegeben, weder das getilgte, noch das verbleibende Element lassen sich jedoch auf ein pWort

Bezogen auf das getilgte Element ergibt sich die Ungrammatikalität der Struk-tur somit zwangsläufig aus der Silbifizierung. Nur, wenn sich klare Silbengren-zen ziehen lassen, ist die Struktur überhaupt möglich. In diesem Fall scheint die Koordinationsstruktur somit lediglich ein Epiphänomen der „zusätzlichen“ Evi-denz der Silbifizierung zu sein. Dass die Silbifizierung notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung ist, zeigt sich jedoch in anderen Fällen wie dem bereits eingeführten *Vo- oder Flügel. Silbifizierbarkeit ist hier zwar gegeben, weder das getilgte, noch das verbleibende Element lassen sich jedoch auf ein pWort

Im Dokument Morphologisch komplexe Wörter (Seite 33-85)