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Affixoide im Deutschen

Im Dokument Morphologisch komplexe Wörter (Seite 191-196)

Erst- und Zweitgliedern

4.1 Affixoide im Deutschen

Affixoide werden überwiegend in der germanistischen Linguistik diskutiert, und dort sehr kontrovers (siehe u. a. Elsen 2009; 2011; Fleischer & Barz 2012; Schmidt

1987). Nach Elsen (2009) lassen sich vier Positionen bezüglich des Affixoids iden-tifizieren: Erstens eine Ablehnung des Konzepts mit dem Ergebnis, dass eindeu-tig „zwischen Derivation und Komposition zu entscheiden“ (Elsen 2009: 323) sei, zweitens eine Erwähnung des Begriffs, ohne dass dieser systematisch zur Kate-gorisierung von Wortbildungseinheiten eingesetzt werde, drittens die Annahme, dass es sich beim Affixoid um einen nützlichen Begriff, nicht aber um eine ei-genständige Kategorie handele und schließlich die Auffassung, dass die Affixoid-bildung (oder auch Halbaffigierung) gleichrangig neben Komposition und Deri-vation stünde (vgl. Elsen 2009: 323). Ziel dieses Abschnitts ist es nun nicht, die Debatte zur Nützlichkeit oder gar Notwendigkeit des Begriffs in ihren Einzelhei-ten darzulegen. Es sollen aber die EigenschafEinzelhei-ten thematisiert werden, die häufig als konstitutiv für Wortbildungselemente mit Affixoidcharakter angesehen wer-den. Verstärktes Interesse gilt außerdem den Aussagen, die in Zusammenhang mit der phonologischen Struktur der entsprechenden Wortbildungselemente ge-macht werden.

Im Zusammenhang mit der phonologischen Struktur wurde der Begriff Af-fixoid oder synonym Halb-Suffix/Semi-Suffix bereits in Kapitel Abschnitt 2.3 er-wähnt, nämlich in den Abschnitten zu drei verschiedenen Diagnostika für das phonologische Wort: der Koordinationsreduktion (Abschnitt 2.3.2), der Wortak-zentzuweisung (Abschnitt 2.3.3) und der Phonotaktik (Abschnitt 2.3.6). Beson-ders Smith (2003) verwendet den Begriff und hält in Bezug auf die Koordinati-onsreduktion und die Phonotaktik fest, dass sich Affixoide wie beispielsweise Haupt- anders verhalten als Affixe auf der einen Seite und Lexeme auf der an-deren. So sei es unproblematisch, Lexeme in Komposita auszulassen, während

„completely grammaticalized prefixes“ (Smith 2003: 221), sehr schwer auszulas-sen seien. Die Affixoide, die Smith als „less grammaticalized prefixes“ bezeichnet, sollen bezüglich dieses unterschiedlichen Verhaltens von Lexemen und Affixen bei der Koordinationsreduktion eine Zwischenposition einnehmen. Hinsichtlich der Phonotaktik gilt laut Smith (2003), dass die Affixoide näher an der mögli-chen Komplexität von Lexemen seien als Affixe. Als Beispiel für die Komplexität dient wiederumHaupt-, das sich aufgrund des Kodaclusters von den allermeisten Präfixen unterscheide (siehe auch Abschnitt 2.3.6). Im Zusammenhang mit der Wortakzentzuweisung sei vor allem an die Ausführungen bei Giegerich (1985) erinnert, der den Verlust des pWortstatus sowie das daraus resultierende Akzent-muster und vor allem die lautliche Reduktion von Semi-Suffixen in Wörtern wie chairman odercupboard an die fehlende semantische Analysierbarkeit des Ge-samtwortes bindet. Phonologische und semantische Verdunklung werden hier als zumindest korrelativ, wenn auch nicht kausal zusammenhängend betrachtet.

Phonologische Eigenschaften von Affixoiden thematisiert auch Vögeding (1981).

In seiner Auseinandersetzung mit dem Suffixoid -frei kommt er in Anlehnung an Höhle (1976) auf „Grenzsymbole“ zu sprechen, die er anhand des Beispiels -artig sogar als eines von zwei Definitionskriterien in der Abgrenzung von

Suf-fixen, Halbsuffixen und Kompositionsgliedern ansetzt. Halbsuffixe und Kompo-sitionsglieder seien durch „kompositionsgliedtypische“ Phonologie gekennzeich-net, Suffixe hingegen durch „suffixtypische“. Erstere beinhaltet das Auftreten von Grenzsymbolen (in der Argumentation von Vögeding ist dies die Auslautverhär-tung), während zweitere deren Ausbleiben mit sich bringt (vgl. Vögeding 1981:

106, 111). Es ist natürlich deutlich zu erkennen, dass diese Annahme einer direk-ten Referenz zwischen morphologischem Status und phonologischer Struktur in dieser frühen Arbeit aus dem Jahr 1981 im Widerspruch zu den im Rahmen der prosodischen Phonologie gewonnenen Erkenntnissen steht (vgl. Nespor & Vogel 2007; Wiese 2000). Wie in Kapitel Abschnitt 2.3 ausführlich dargelegt wurde, gel-ten vor diesem Hintergrund die Suffixe mit konsonantischem Anlaut in der Regel als pWort-fähig, die Suffixe mit vokalischem Anlaut jedoch nicht. Das Auftreten von phonologischen Prozessen oder „Grenzsymbolen“ ist dann an das phonologi-sche Wort gebunden und nicht unmittelbar an den morphologiphonologi-schen Status. Auf diesen Umstand weisen auch Dalton-Puffer & Plag (2000: 242) hin, die in ihrer Diskussion der Wortbildungselemente -ful, -typeund -wiseim Englischen dafür plädieren, die Aussagekraft von phonologischen Eigenschaften für den morpho-logischen Status der Einheiten mit Vorsicht zu betrachten.

Eine zentrale Perspektive auf Affixoide, in die sich auch die besprochenen pho-nologischen Eigenschaften einfügen, betrifft die diachrone Entwicklung die-ser Wortbildungselemente. Nach Nübling u. a. (2013: 74-83) stellen die Affixoide im historischen Verlauf eine „Brücke“ zwischen Lexem und Affix dar. Als Beispiel dient unter anderem das neuhochdeutsche Suffix -lich, das auf das althochdeut-sche Lexemlīh(‚Körper, Gestalt‘) zurückgeht. Nach semantischem Wandel (Ent-konkretisierung) und phonologischem Wandel befindet sich das Suffix laut den Autorinnen derzeit im Übergang vom wortwertigen Suffix zum nicht wortwerti-gen Suffix, was sich beispielsweise in der möglichen Silbifizierung von <freund-lich> alsfreun.dlich zeige (vgl. Nübling u. a. 2013: 75). Teil des phonologischen Wandels ist somit der Verlust des pWortstatus und ein Abbau an phonologischer Substanz. Die diachrone Perspektive ist auch bei Smith (2003) und Giegerich (1985) relevant, wie die obige Darstellung aufgezeigt hat; Smith (2003) spricht explizit von mehr oder weniger grammatikalisierten Elementen. Zu beachten ist allerdings, dass das bei Giegerich (1985) diskutierte semantische Kriterium nicht dem von Nübling u. a. (2013) besprochenen Kriterium der semantischen

Entkon-kretisierung entspricht. Während sich dieses auf den Wandel der konkreten Be-deutung des betroffenen Lexems zur abstrakten BeBe-deutung des Affixes bezieht, nimmt das Kriterium der semantischen Transparenz auf die Kompositionalität der Bedeutung des komplexen Wortes Bezug.

Im Sinne eines Grammatikalisierungsprozesses beschreibt vor allem Munske (2002) den Wortbildungswandel vom freien Lexem zum Derivationsaffix, wobei er unter dem Abschnitt „Grammatikalisierung von Konstituenten im Komposi-tum“ auf die „einst als Affixoide bezeichneten Einheiten“ (Munske 2002: 28) ein-geht. Die Übertragung des Grammatikalisierungskonzepts auf den Wortbildungs-wandel bringt mit sich, dass unter anderem Prozesse wie „semantisches Ausblei-chen“, „Verlust syntaktischer Unabhängigkeit“ und auch „Verlust phonologischer Substanz und Autonomie“ (Munske 2002: 28) im Übergang vom freien Lexem zum Affix erwartet werden. Zentral ist außerdem, dass das sich wandelnde Ele-ment reihenhaft auftritt. Für die diachrone Entwicklung ist somit kennzeichnend, dass ein ungebunden vorkommendes Element im Übergang vom gebundenen Vorkommen in Komposita zum gebundenen, reihenhaften Vorkommen als Af-fixoid bis hin zum nur noch gebundenen Vorkommen als Affix voranschreitet.

Als zentraler Bestandteil dieser Entwicklung wird die semantische Entkonkre-tisierung gesehen, die das Affixoid vom freien Lexem bzw. vom Bestandteil im Kompositum unterscheidet. Weiterhin kann es zu phonologischem Substanzver-lust kommen (vgl. Munske 2002).

Die synchrone Betrachtungsweise der Affixoide greift häufig deutlich auf das diachrone Konzept zurück (vgl. etwa Ascoop & Leuschner 2006; Stein 2008;

Stevens 2005). Stein (2008: 183) schreibt:

Von Affixoiden zu sprechen setzt voraus, für die Analyse von Wortbildungs-produkten eine diachronische Perspektive einzunehmen und die Ausbildung von affixartigen Wortbildungselementen als eine Erscheinungsform von Wort-bildungswandel zu verstehen.

Die Konzeptualisierung von Affixoiden als Gegenstand der synchronen Be-schreibung ist somit unter Ausschluss der diachronen Perspektive gar nicht mög-lich. Vor diesem Hintergrund hält Stein (2008: 191ff) als zentrale Eigenschaften von Affixoiden fest: Die (Tendenz zur) Reihenbildung, die Positionsfestigkeit, Dis-tributionsbeschränkungen und ein Grad der Desemantisierung (Stein 2008: 192-193). Ab wann ein Element als reihenhaft auftretend einzustufen ist, problema-tisiert Stein unter Rückbezug auf Barz (1989) als letztendlich willkürliche Ent-scheidung. Grundsätzlich wird dann von einer Wortbildungsreihe gesprochen, wenn die Wortbildungsprodukte „nach ein und demselben Modell“ (Stein 2008:

192) gebildet sind. Als Orientierungspunkt für das Vorliegen von reihenhaftem Auftreten setzt er – ebenfalls in Anlehnung an Barz (1989) – minimal fünf Ex-emplare an. Die Positionsfestigkeit der Affixoide bedeutet, dass sie in Bezug auf ihre Basis nicht sowohl als Erstglied als auch als Zweitglied auftreten können, worin sie sich von Kompositumsgliedern unterscheiden. Zudem zeigen die Affi-xoide häufig eine charakteristische Distribution, wenn etwa Bildungen wie Hei-denlärmmöglich sind, solche wie *Heidenstilleaber nicht. Die Desemantisierung schließlich bezieht sich auf das gleichlautende freie Lexem, demgegenüber die Affixoide eine abweichende Semantik aufweisen, die zumeist in einer Entkon-kretisierung oder Verallgemeinerung gesehen wird (Stein 2008: 192-193). In ei-ner Fußnote geht Stein (2008: 186) auch auf die Lautstruktur von Affixoiden ein.

Er stellt fest, dass Affixoide nicht durch die für Grammatikalisierungsprozesse typische Erosion, d.h. die Reduktion phonetischer Substanz, gekennzeichnet sei.

Elsen (2009) beschreibt die Affixoide ähnlich wie Stein (2008). Als relevantes Kriterienbündel zur Kennzeichnung der Affixoide fasst sie die Reihenbildung, die semantische Veränderung und das Vorkommen eines freien Pendants auf (vgl.

Elsen 2009: 319). Im Zuge der detaillierten Abgrenzung der Affixoide von den Affixen einerseits und den Lexemen andererseits schreibt sie abschließend: „Sa-lopp gesprochen ist festzuhalten, dass sich Affixoide wie Affixe verhalten, aber aussehen wie Wörter.“ (Elsen 2009: 326). Dies ist im Rahmen der vorliegenden Ar-beit vor allem deshalb interessant, weil mit „aussehen“ natürlich die Lautgestalt der Affixoide gemeint ist. Im Grunde genommen entspricht die zitierte Aussage der oben beschriebenen Auffassung von Vögeding (1981), da hier ebenfalls nicht der „Umweg“ über die prosodische Konstituente des phonologischen Wortes ge-nommen wird, sondern die morphologische Kategorie unmittelbar mit der Laut-gestalt in Zusammenhang gebracht wird. Konkret thematisiert Elsen (2009) die lautlichen Eigenschaften „Lautgehalt“ und Akzentmuster. So seien die Affixoide

„lautlich noch nicht reduziert wie viele der bereits etablierten Affixe“ (Elsen 2009:

326) und „Suffixoidbildungen behalten das Akzentmuster des Determinativkom-positums bei, Präfixoidbildungen verändern es“ (Elsen 2009: 326). Zu beachten ist hierbei, dass die von Elsen besprochenen Präfixoidbildungen ausschließlich sol-che sind, die dem Muster der Intensivierung entspresol-chen, also etwa Bildungen mitRiesen-,Affen-,sau- usw. Bei diesen kann der Hauptakzent auf das Zweitglied verlagert sein, etwa inAffenárbeit. (Eine empirische Untersuchung existiert hier-zu m.W. allerdings noch nicht).

Vor dem Hintergrund des obigen knappen Forschungsüberblicks lässt sich zu-nächst der Bogen zurück zur Lautstruktur der Affixoide schlagen. Es hat sich ge-zeigt, dass im Übergang vom Lexem zum Affix lautliche Reduktion erwartet wird.

Grundsätzlich werden die Affixoide dabei als „näher“ am Lexem als am Affix be-trachtet. Ob und ab wann die lautliche Reduktion auftritt, ist dabei weitgehend unklar. Die Ausführungen von Nübling u. a. (2013) zum Suffix -lichlassen sich so lesen, dass der Verlust des pWortstatus erst beginnt, wenn der Affixstatus be-reits erreicht ist. Die Affixoide müssten also lautlich (noch) den Lexemen entspre-chen. Darauf weisen auch die Annahmen von Vögeding (1981); Stein (2008) und Elsen (2009) hin. Empirische Studien hierzu existieren jedoch kaum (eine Aus-nahme bildet Auer 2002). Darüber hinaus ist von Interesse, mit welchen Faktoren die lautliche Reduktion letztendlich zusammenhängt. Wie gesehen wurde, wird in den zitierten morphologischen Arbeiten teilweise eine direkte Kopplung von morphologischem Status und lautlicher Struktur vorgenommen. Aus der phono-logisch bzw. prosodisch orientierten Richtung wie etwa bei Giegerich (1985) wird hingegen vermittelt über das phonologische Wort die semantische Transparenz mit der Reduktion in Zusammenhang gebracht. Als weitere relevante Faktoren für das Auftreten der lautlichen Reduktion kommen hier vor allem die Eigen-schaften in Frage, die das Affix vom Lexem unterscheiden, und die das Affixoid als Übergangsstadium schließlich in die Nähe der Affixe rücken. Dies sind vor allem die semantische Entkonkretisierung und die Reihenbildung. Auch hierzu existieren bisher keine systematischen Studien zum Deutschen. An diesen For-schungslücken setzen deshalb die Studien zur Spontansprache an, deren Ziele im folgenden Abschnitt dargelegt werden.

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