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Einflussfaktor morphologische Struktur

Im Dokument Morphologisch komplexe Wörter (Seite 102-106)

2.4 Die Realisierung komplexer Wörter: Einflussfaktoren und Phonetikund Phonetik

2.4.2 Einflussfaktor morphologische Struktur

Den Einfluss der morphologischen Struktur auf wortinterne lautliche Reduktio-nen thematisieren Hanique & Ernestus (2012). Die Grundlage ihrer Erörterung bildet ein Literaturüberblick zu Studien, die sich mit verschiedenen Aspekten der

„morphologischen Struktur“ auseinandergesetzt haben. Die prosodische Struktur als Einflussfaktor für die lautliche Realisierung spielt hier entsprechend keine Rolle. Das vorrangige Erkenntnisinteresse der Auseinandersetzung mit dem Zu-sammenhang von morphologischer Struktur und lautlicher Reduktion in Hani-que & Ernestus (2012) und den von ihnen zitierten Studien ist psycholinguisti-scher Natur, wobei die Struktur des Lexikons und die Frage, ob Morpheme oder komplexe Wörter die basale Einheit im Lexikon darstellen, zentral ist. Als wichti-ge Aspekte der morphologischen Struktur werden vor diesem Hintergrund zum einen der morphologische Status von lautlichen Einheiten behandelt, was sich auf die Frage bezieht, ob die Einheit Morphemstatus hat oder lediglich Bestand-teil eines Morphems ist. Zum anderen steht die Dekomponierbarkeit morpho-logisch komplexer Wörter im Fokus des Interesses, somit ganz unmittelbar die Frage, ob ein morphologisch komplexes Wort aus seinen einzelnen Bestandteilen zusammenzusetzen ist oder ob es als ganzheitliches Wort produziert und verar-beitet wird.

Auch wenn in der vorliegenden Arbeit insbesondere der Faktor des morpho-logischen Status kaum eine Rolle spielt, da nur nicht-morphemische Einheiten untersucht werden, sollen die Diskussion nach Hanique & Ernestus (2012) und einige Ergebnisse zusätzlicher Studien kurz thematisiert werden, um das Bild von möglichen Einflussfaktoren auf die lautliche Realisierung in morphologisch komplexen Wörtern zu erweitern. Zunächst sei an dieser Stelle bereits vorweg-genommen, dass Hanique & Ernestus (2012) bezüglich des Einflusses der mor-phologischen Struktur auf die lautliche Reduktion zu einem negativen Ergebnis kommen: „[…] we have, so far, found no convincing evidence that morphological structure plays a role in the reduced pronunciation of morphologically complex words […]“ (Hanique & Ernestus 2012: 158).

Den Aspekt des morphologischen Status adressieren Hanique & Ernestus (2012) zunächst unter Bezugnahme auf Losiewicz (1992). Diese Studie wird auch von Bybee (2001) herangezogen, um einen Einfluss von Frequenz auf die lautli-che Reduktion zu untermauern. Gegenstand der Studie ist die Dauer von /t/ oder /d/ im Englischen, wobei morphemisches mit nicht-morphemischem /t, d/ kon-trastiert wird, etwa in tacked gegenübertact. Gemäß Losiewicz (1992) werden die morphemischen Laute länger produziert als die nicht-morphemischen Lau-te, so dass der Schluss nahe liegt, dass der morphologische Status einen Einfluss

auf die Dauerrealisierung ausübt. Wie Hanique & Ernestus (2012) verdeutlichen, lässt sich die unterschiedliche Realisierung jedoch nicht ohne weiteres auf den morphologischen Status zurückführen, da die getesteten Wortpaare auch in ihrer Vorkommensfrequenz variieren. In der Mehrzahl der Wortpaare weist dabei das monomorphemische Wort eine deutlich höhere Frequenz auf als das multimor-phemische Wort, so dass die Dauerrealisierung ebenso den Frequenzunterschie-den zuzuschreiben sein könnte – was sich auch bereits in der Verwendung der Ergebnisse als Argument für Frequenzeffekte bei Bybee (2001) zeigt. In ähnlicher Weise stellen sie auch für weitere Studien zur /t/-Tilgung im Niederländischen heraus, dass diese aufgrund von Konfundierung mit anderen Einflussfaktoren entweder ‚offen für alternative Interpretationen‘ (Hanique & Ernestus 2012: 154) seien oder keinen Einfluss der morphologischen Struktur aufzeigten (vgl. Hani-que & Ernestus 2012: 152-154).19

Im Gegensatz zu dieser negativen Einschätzung des Einflusses des morpho-logischen Status‘ zeigen Zimmerer u. a. (2014), dass der morphologische Status von /t/ durchaus relevant sein kann, wenn auch nicht uneingeschränkt. Ihre Er-gebnisse beruhen anders als bei den in Hanique & Ernestus (2012) diskutierten Ergebnissen nicht auf spontansprachlichen Daten, sondern auf einer experimen-tellen Produktionsstudie, bei der die Sprecherinnen und Sprecher eine sogenann-teverb paradigm production taskausführen (vgl. dazu auch “Reduction in natural speech” 2009). Untersuchungsgegenstand ist die /t/-Tilgung in flektierten Verb-formen des Deutschen, wobei die Formen der 2. Ps. Sg. auf -stmit jenen der 3. Ps.

Sg. auf -t kontrastiert werden. Während /t/ in der 3. Ps. Sg. also morphemisch ist, gilt dies für /t/ in der 2. Ps. Sg. nicht. Sollte der morphologische Status des Lauts eine Rolle spielen, ist entsprechend zu erwarten, dass /t/ in den 3. Ps. Sg.-Formen seltener getilgt wird. Die Analyse eines Subkorpus der erhobenen Da-ten lässt dies zumindest nicht gänzlich ausschließen. Das Subkorpus setzt sich aus homophonen Verbformen zusammen, die auf Stämme mit auslautendem /s/

zurückgehen, wie etwa im Verb hausen, wo 2. und 3. Ps. Sg. in du / er haust zusammenfallen. Hinzu kommen die Formen des Verbshauen, bei dem folglich du haustmiter hautkontrastiert (weitere Wortpaare sindruhen : rußen,fliehen : fließenund andere, vgl. Zimmerer u. a. 2014: 74). Die statistische Auswertung des Aufkommens der /t/-Tilgung, bei der andere potenzielle Einflussfaktoren wie die relative Frequenz und der phonologische Kontext kontrolliert werden, zeigt nun, dass signifikante Unterschiede zwischen der 2. Ps. Sg. und der 3. Ps. Sg auftreten – allerdings nicht bedingungslos. Signifikante Unterschiede zwischen den

Flexi-19Bei den besprochenen Arbeiten handelt es sich um Schuppler u. a. (2012) und Hanique u. a.

(2013).

onsformen treten nur dann zu Tage, wenn der Verbstamm nicht auf /s/ auslautet, also in Wortpaaren wiedu haust:er haut. Handelt es sich um die homophonen Formen mit auf /s/ auslautendem Stamm (hausen;du haust :er haust), so kann sich der Effekt des morphologischen Status nicht durchsetzen. Weiterhin übt der folgende phonologische Kontext einen signifikanten Einfluss auf das Tilgungs-vorkommen aus, der unabhängig von der morphologischen Struktur des Wortes ist; alle Elemente sind signifikant mehr Tilgungen unterworfen, wenn der Folge-laut ein /s/ ist, als wenn es sich dabei nicht um ein /s/ handelt.

Zimmerer u. a. (2014: 73) ziehen aus diesen Ergebnissen den Schluss, dass für die /t/-Tilgung letztendlich phonologische Kontextfaktoren einflussreicher sind als der untersuchte morphologische Faktor: „[…] phonological factors promo-ting /t/-deletion (those encouraging for cluster simplification) appear to overri-de possible morphological effects, so that morphology alone was not found to be a strong predictor of /t/-deletions in German.“ Trotz dieses skeptischen Fazits, das unter anderem auf dem offensichtlichen Ausbleiben des Einflusses in den homophonen Wortformen beruht, kann immerhin festgehalten werden, dass die Tilgung in nicht-homophonen Wortformen auf den morphologischen Status zu reagieren scheint. Es ist hier jedoch zu bedenken, dass diese sich auch in der Clu-sterkomplexität unterscheiden. Während das /t/ in der 2. Ps.Sg-Endung -st Teil des Kodaclusters ist, bildet das /t/ in der 3. Ps.Sg.-Form das einzige Kodaelement.

Auch hier kann somit die Clustervereinfachung als zentraler Einflussfaktor nicht ausgeschlossen werden.

Außer dem morphologischen Status der sprachlichen Einheiten besprechen Hanique & Ernestus (2012) die Dekomponierbarkeit des komplexen Wortes als möglichen Einflussfaktor auf sprachliche Reduktionserscheinungen. Einschlägig für die Diskussion dieses Aspekts ist die Studie von Hay (2003) zur /t/-Tilgung im neuseeländischen Englisch. Ausgangspunkt der Studie war die Annahme, dass in englischen Adverben auf -lysolche stammauslautenden /t/ häufiger getilgt wer-den, die sich in Wörtern mit geringerer Dekomponierbarkeit befinden. Besonders innovativ war dabei die Operationalisierung der Dekomponierbarkeit als relati-ve Frequenz des komplexen Wortes zum Stamm. Ist die Vorkommenshäufigkeit des komplexen Wortes höher als die des Stamms, so spricht dies grob gesprochen dafür, dass das komplexe Wort nicht dekomponiert wird, während bei höherer Häufigkeit des Stamms gegenüber dem komplexen Wort eher von einer Dekom-position auszugehen ist. Theoretisch steht die Studie damit vor dem Hintergrund der Frage, ob das mentale Lexikon morphem- oder wortbasiert ist bzw. – bei der Annahme eines gemäßigten wortbasierten Lexikons – vor der Frage, welche

Fak-toren im sogenanntenrace-model (oder auch ‚Pferderennenmodell‘ (Wälchli &

Ender 2013: 107)) einen direkten Zugriff auf das komplexe Wort befördern oder behindern.

Zu den von Hay in einer Produktionsstudie analysierten Wörtern gehören swiftly (‚schnell‘) undsoftly (‚weich‘), die mit dem seltenen daftly(‚blöd‘) und dem Kontrollwort briefly (‚kurz‘) verglichen wurden (vgl. Hay 2003: 123-132).

Während sich swiftly und softly hinsichtlich der in CELEX erhobenen Token-frequenz kaum unterscheiden, istsoftlydadurch gekennzeichnet, dass die Wort-formen des Stamms soft wesentlich häufiger vorkommen als softly. Bei swiftly ist demgegenüber die Häufigkeit des komplexen Wortes leicht höher als die der Wortformen des Stamms swift. Es ergibt sich somit die Erwartung, dassswiftly weniger dekomponierbar ist alssoftly,und dass entsprechend das /t/ inswiftly häufiger getilgt wird als insoftly,da es gewissermaßen in einem morpheminter-nen Konsonantencluster auftritt. Insgesamt wurden fünf solcher Wortgruppen getestet, wobei die stammauslautenden /t/ in verschiedenen Clustern (/nt/, /ft/, /kt/, /st/) vorkamen, die innerhalb der Gruppe jeweils konstant gehalten wurden.

Die vier Wörter jeder Gruppe wurden dann basierend auf der Dauer des /t/ (in-klusive aller Phasen) in eine Rangfolge gebracht. Die Ergebnisse bestätigen die Hypothese, indem sie zunächst zeigen, dass die beiden hauptsächlich interessie-renden Wörter hinsichtlich der ‚/t/-haltigkeit‘ (‚/t/-ness‘) mittlere Positionen zwi-schen dem Kontrollwort ohne /t/ und dem sehr seltenen Wort einnehmen. Auch ihre Rangfolge zueinander ist dabei erwartungsgemäß mit geringerem Ausmaß an /t/ in den weniger dekomponierbaren Wörtern (vgl. Hay 2003: 132-137).

Wie Hanique & Ernestus (2012) in ihrer Diskussion des Faktors der relativen Frequenz / Dekomponierbarkeit erörtern, führen vor allem methodische Proble-me in der Studie von Hay (2003) – das sind die geringe Datenbasis, die Aus-wertung der Rangfolge der Dauern statt der absoluten Dauern und die Art der Berechnung der relativen Frequenz – dazu, dass die Ergebnisse mit Vorsicht be-trachtet werden sollten. Darüber hinaus zeigten Studien zum Niederländischen auf größerer Datenbasis, dass sich der Effekt der relativen Frequenz als Opera-tionalisierung von Dekomponierbarkeit nicht reproduzieren ließ (vgl. Hanique &

Ernestus 2012: 155-158). Auch die besprochene Studie von Zimmerer u. a. (2014) zur /t/-Tilgung im Deutschen, die von Hanique & Ernestus (2012) noch nicht berücksichtigt werden konnte, weist keinen signifikanten Einfluss der relativen Frequenz auf die /t/-Tilgung auf.

Wie eingangs erwähnt, spricht der jetzige Stand der Forschung somit nicht dafür, dass die morphologische Binnenstruktur von komplexen Wörtern einen

unmittelbaren Einfluss auf die akustisch-phonetische Realisierung hat.20Weder morphologischer Status noch Dekomponierbarkeit erwiesen sich bisher als sta-bile Einflussfaktoren auf die lautliche Reduktion. Wie die Darstellung unter 2.4.1 gezeigt hat, ist der Einfluss der phonologischen Wortstruktur allerdings eben-falls noch äußerst unklar. So konnte sich die phonologische Wortstruktur in der Studie von Pluymaekers u. a. (2010) beispielsweise nicht gegen den Einfluss der Informativität im morphologischen Paradigma durchsetzen.

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