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Einflussfaktor Frequenz

Im Dokument Morphologisch komplexe Wörter (Seite 106-118)

2.4 Die Realisierung komplexer Wörter: Einflussfaktoren und Phonetikund Phonetik

2.4.3 Einflussfaktor Frequenz

Einflüsse von Frequenz auf sprachliche Realisierungen und auf sprachliche Re-duktionen im Besonderen haben in den letzten 20 Jahren eine enorme Aufmerk-samkeit erfahren. Diese ist kaum zu verstehen, wenn man nicht die theoreti-sche Relevanz bedenkt, die mit dem Faktor der Frequenz verknüpft ist. Ebenso wie bei lautlicher Variation und phonetischem Detail (siehe 2.1), gilt auch für die Frequenz, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr häufig in einem argumentativen Rahmen stattfindet, in dem bestehende „traditionelle“, d.h. struk-turalistisch oder generativ geprägte Modelle des sprachlichen Wissens überprüft und in Frage gestellt werden (vgl. u.a. Bush 2001; Bybee 2001; 2002; Guy 2014).

Ausschlaggebend für die bedeutende Rolle, die der Frequenz in der Auseinander-setzung mit den Modellen zukommt, ist zum einen, dass sie erfahrungsbasiert ist und zum anderen, dass sie wortspezifisch (oder gar sequenzspezifisch) ist.

Die erste Eigenschaft rückt sie ganz grundsätzlich in das Blickfeld gebrauchs-basierter Ansätze, die davon ausgehen, dass die sprachliche Kompetenz (auch) auf sprachlichen Erfahrungen basiert (vgl. etwa Bybee 2001; Bybee & Hopper 2001; Pierrehumbert 2001). Zeigt sich, dass die Produktion, Perzeption oder Re-präsentation von sprachlichen Einheiten systematisch von der Frequenz beein-flusst ist, so ist dies ein Hinweis auf die Bedeutsamkeit sprachlicher Erfahrung für die sprachliche Kompetenz. Die zweite Eigenschaft ist relevant für spezifischere Annahmen vieler ‚abstraktionistischer‘ Modelle, die phonologische Prozesse als Regeln beschreiben, die generell anwendbar sein sollten, und / oder die von einer Trennung in einen lexikalischen und einen postlexikalischen Bereich ausgehen (siehe Abschnitt 2.1). In diesem Zusammenhang sind vor allem auch diachrone Arbeiten zurlexical diffusioneinschlägig, die zeigen, dass sich sprachliche Neue-rungen sukzessive im Lexikon ausbreiten können, wobei hochfrequente Wörter von reduzierendem Lautwandel in der Regel früher betroffen sind als weniger

20Siehe dazu aber Plag u. a. (2015), die bei verschiedenen homophonens-Suffixen im Englischen einen systematischen Einfluss der morphologischen Funktion auf die Dauer des /s/ feststellen.

frequente Wörter. Durchkreuzt wird dabei auch die angenommene Zuordnung von lexikalischen mit lautlich kategorischen Veränderungen auf der einen Seite und postlexikalischen mit graduellen Veränderungen auf der anderen Seite (vgl.

Bybee 2002; Phillips 2006, siehe auch Abschnitt 2.1). Dass sogar die Frequenz von wortübergreifenden Sequenzen einen systematischen Einfluss auf deren Realisie-rung haben kann, wie beispielsweise schon Bybee & Scheibman (1999) oder Bush (2001) zeigen, macht ebenfalls deutlich, dass eine strikte Trennung zwischen Le-xikon und postlexikalischem Bereich mit nur je einer abstrakten Repräsentation für die beteiligten Wörter nicht zutreffend sein kann.

Wurde „Frequenz“ bisher nicht weiter spezifiziert, soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass sich in der Forschung verschiedene häufigkeitsbasier-te Maße als einflussreich auf die lautliche Reduktion erwiesen haben. Zu die-sen zählt zunächst die Tokenfrequenz, die die kontextfreie Vorkommenshäufig-keit und damit ErwartbarVorkommenshäufig-keit (‚predictability‘) einer Wortform oder eines Lem-mas angibt. Weiterhin ist die kontextgebundene Erwartbarkeit zu nennen, die über vorwärts- oder rückwärtsgerichtete Übergangswahrscheinlichkeiten, über Bigram-/Trigramhäufigkeiten oder auch übermutual information-Maße berech-net werden kann. Etliche Studien belegen einen reduzierenden Effekt verschiede-ner frequenzbasierter Maße, der in erster Linie für kategorische oder graduelle Segmenttilgungen und Dauerreduktionen aufgezeigt wird (vgl. Bell u. a. 2009;

Bürki u. a. 2010; Bush 2001; Bybee 2001; 2002; Jurafsky u. a. 2001; Raymond u. a.

2006).

Einige Arbeiten haben sich auch mit Frequenzeinflüssen auf die Realisierung komplexer Wörter (überwiegend im Niederländischen) beschäftigt (vgl. Hani-que & Ernestus 2012; HaniHani-que u. a. 2010; 2013; Kuperman u. a. 2006; Pluymaekers u. a. 2005b,a; Schäfer 2014b,a; Schuppler u. a. 2012). Diese entstammen überwie-gend der Forschergruppe um Mirjam Ernestus und stehen wie schon die unter 2.4.2 besprochenenen Arbeiten zum Einfluss der morphologischen Struktur in psycholinguistischem Forschungskontext (Ausnahmen sind Schäfer 2014b,a und Zimmerer u. a. 2011; 2014). Das primäre Forschungsinteresse ist daher auf die Implikationen der Reduktionserscheinungen für die psycholinguistische Model-lierung des sprachlichen Wissens und der Sprachproduktion und -perzeption ge-richtet. Generell ist zu beobachten, dass insbesondere in den neueren Arbeiten der Frequenzeinfluss oftmals nicht mehr im Vordergrund des Interesses steht, sondern lediglich in der Erhebung der Daten und der Auswertung kontrolliert wird, so etwa auch bei den oben schon beschriebenen Studien von Pluymaekers u. a. (2010) zur Dauervariation in niederländischen Bildungen mit -lijksowie Zim-merer u. a. (2011) und ZimZim-merer u. a. (2014) zur /t/-Tilgung im Deutschen.

Zuvor zeigen beispielsweise Keune u. a. (2005: 200-207) in einer Studie zu hoch-frequenten, semantisch intransparenten Wörtern mit -lijk(z.B.dadelijk‚sofort‘, uiteindelijk ‚endlich‘), dass neben regionalen Einflüssen, Gender- und Bildungs-einflüssen auch die Position im Satz und die kontextgebundene Erwartbarkeit auf die Reduktion des Wortes einwirken. Die Wörter wurden stärker reduziert, wenn sie nicht satzfinal auftraten und aufgrund des vorangehenden Wortes erwartbar waren. Keune u. a. (2005) bringen die ausgeprägte Reduktion dieser Wörter, die bis zu einsilbigen Realisierungen von eigentlich dreisilbigen Wörtern reichen kann, mit einem Verlust der morphologischen Komplexität und einer Annähe-rung an einfache „most common words“ (Keune u. a. 2005: 210) in Zusammen-hang:

The overall pattern in our data suggests that reduced high-frequency forms in -lijk, such as monosyllabic [tyk] (for natuurlijk ‘of course’), [mok] (for mogelijk, ‘possible’) and [ɛik] (foreigenlijk, ‘actually’) are becoming more similar to the most common words, not only in that they are markers of register and of socio-geographic origin, as observed above, but also in their loss of morphological structure, as witnessed by their lack of semantic com-positionality and the erosion (Heine and Kuteva 2005) of their phonological form. (Keune u. a. 2005: 2010)

Diese Feststellung zur besonderen Gruppe der höchstfrequenten und nicht transparenten Wörter rückt die Ergebnisse in die Nähe der auch aus generati-ver Perspektive von Raffelsiefen (2005) konstatiertenHigh Frequency Fusion, die im Verlust des pWortstatus einer der Bestandteile resultieren kann (siehe die Ab-schnitte 2.3.3 und 2.3.6). Für das Deutsche stellen auch Niebuhr & Kohler (2011) extreme Reduktionsformen für das höchstfrequente Worteigentlichfest. Keinen Aufschluss gibt die Studie von Keune u. a. (2005) allerdings zu frequenzbedingten Reduktionsprozessen in weniger extremen Häufigkeitsbereichen und in transpa-renten Bildungen im Vergleich zu nicht-transpatranspa-renten Bildungen.

Auch Pluymaekers u. a. (2005a) widmen sich der Gruppe von höchst- bis hoch-frequenten, nicht-transparenten Wörtern (eigenlijk,‚eigentlich‘;natuurlijk, ‚na-türlich‘; waarschijnlijk, ‚wahrscheinlich‘; moeilijk, ‚schwierig‘; duidelijk, ‚deut-lich, klar‘;namelijk,‚nämlich‘; und makkelijk, ‚leicht‘; Pluymaekers u. a. 2005a:

148) und zeigen anhand der Dauern von Stamm und Suffix sowie der Anzahl der realisierten Elemente, dass die vorherige Erwähnung des Wortes (‚Wieder-holung‘) sowie die kontextuelle Erwartbarkeit bezogen auf das vorangehende und das nachfolgende Wort (jeweils gemessen an der „mutual information“) ei-nen signifikanten Einfluss auf die Reduktion ausüben. Interessant ist dabei, dass

Wortstamm und Suffix unterschiedlich auf die Faktoren reagieren. Die Wiederho-lung erwies sich lediglich für die Dauer des Suffixes als einflussreich. Die Effekte der kontextuellen Erwartbarkeit sind in ein komplexes Zusammenspiel verschie-dener Faktoren eingebettet. Zum einen zeigt sich, dass Dauern und Segmenttil-gungen unterschiedlich auf die kontextuelle Erwartbarkeit reagieren. Während die Dauern im Stamm und im Suffix nur bei den höchstfrequenten Wörtern bzw.

den „discourse markers“ (Pluymaekers u. a. 2005a: 157)natuurlijk,eigenlijkund namelijk) mit steigender Erwartbarkeit reduziert werden – wobei der Stamm auf die Erwartbarkeit mit dem vorhergehenden, der Suffix auf die Erwartbarkeit mit dem nachfolgenden Wort reagiert – sind die Segmenttilgungen bei allen Wörtern (im Stamm und im Suffix) durch die Erwartbarkeit beeinflusst, unabhängig von ihrer Frequenz oder (angenommener) Diskursfunktion. Es zeigt sich außerdem, dass die Segmenttilgungen nur durch die Erwartbarkeit im Zusammenhang mit dem nachfolgenden Kontext beeinflusst werden.

Die Ergebnisse zeigen somit, dass sowohl die Konstituente des komplexen Wortes (Stamm oder Suffix) als auch Eigenschaften des gesamten Wortes (die Tokenfrequenz) und des Wortes im Kontext (kontextuelle Erwartbarkeit) vorher-sagbar auf die realisierte Reduktion im Wort einwirken. Im Zusammenhang mit der psycholinguistischen Modellierung des sprachlichen Produktionsprozesses ziehen Pluymaekers u. a. (2005a) daraus den Schluss, dass es weder möglich sei, die artikulatorische Planung an die Einheit des Morphems zu binden noch an die Einheit des komplexen Wortes. Dies bindet zurück an die bereits unter 2.4.2 the-matisierte Frage, welche Einheiten die grundlegenden Einheiten des Lexikons und bei der Sprachverarbeitung seien. Der Schritt, den die Autoren nun ange-sichts des komplexen Zusammenspiels verschiedenartiger Information bei der Bildung von konkreten lautlichen Realisierungen vollziehen, ist der, dass sie den Einheitengedanken als relevante Planungsinstanz gänzlich aufgeben und statt dessen eine radikaleonline-Prozessierung vorschlagen:

As an alternative, we propose that articulatory planning is continuous and not unit-based. To ensure a relatively constant information density, articu-latory effort is adjusted throughout the production of the utterance. Parts of the speech stream that carry little information are realized with less arti-culatory effort than more informative parts. (Pluymaekers u. a. 2005a: 157) Vor diesem Hintergrund sind auch die unter 2.3.1 dargelegten Ergebnisse von Pluymaekers u. a. (2010) zu betrachten, die den Einfluss von phonologischen Wort-grenzen mit dem Einfluss der Informativität von Lauten im morphologischen Paradigma kontrastiert haben. Dort erwies sich die punktuell in einem

konkre-ten Laut des Lautstroms lokalisierte morphologische Informativität als guter Prä-diktor für die Dauerrealisierung, während die phonologische Wortstruktur kei-ne signifikante Vorhersagekraft für die Dauer hatte. Es könnte somit geschlos-sen werden, dass auch die Einheit phonologisches Wort keinen Einfluss auf die akustisch-phonetische Realisierung des Wortes hat.

Eine andere Modellierung, die das phonologische Wort ganz grundlegend ein-bezieht und mit häufigkeitsbasierten Einflüssen vereint, schlagen Aylett & Turk (2004) und Turk (2010) vor. Dieser Vorschlag soll zum Abschluss dieses Abschnit-tes vorgestellt werden, wodurch auch der Bogen zurück zum Einfluss des phono-logischen Wortes auf die phonetische Realisierung von Wörtern oder größeren Einheiten geschlagen wird. Aylett & Turk (2004) und Turk (2010) fassen ihren Vorschlag unter der Bezeichnung Smooth Signal Redundancy Hypothesis.

Wie auch Pluymaekers u. a. (2005a,b; 2010) und viele andere in der Folge von Lindbloms „H&H-Theorie“ (1990) nehmen Aylett & Turk (2004) und Turk (2010) eine funktionale Betrachtungsweise auf sprachliche Reduktionen ein und gehen davon aus, dass sprachliche Reduktionen durch sprecher- und hörerseitige An-forderungen reguliert werden. Akustische Redundanz (Salienz) steht dabei in ei-nem Ausgleichsverhältnis mit sprachlicher Redundanz, die über Faktoren wie die grundsätzliche oder kontextuelle Erwartbarkeit, aber auch über semantische, pragmatische und andere Faktoren bestimmt wird. Je höher die sprachliche Red-undanz ist, desto geringer wird die akustische Salienz sein (vgl. Turk 2010: 228-229). Das Besondere an dem Vorschlag ist nun, dass diese Annahme in ein an der prosodischen Phonologie orientiertes Modell integriert wird. Zur Veranschauli-chung des Modells dient die Abbildung aus Turk (2010: 229), die sie selbst als eine Darstellung des Verhältnisses vonsmooth signal redundancy mit „a more tradi-tional view of the relationship of prosodic structure with the rest of grammar“

(Turk 2010: 229) bezeichnet:

Das Modell veranschaulicht, dass die ‚robuste Kommunikation‘ übersmooth signal redundancy auf die prosodische Struktur einwirkt. Diese wird weiterhin durch Lexikon, Syntax, Semantik und andere Faktoren, die mit der sprachlichen Redundanz in Zusammenhang stehen, bestimmt. Die Kalkulation der sprachli-chen Redundanz basiert dabei auf dem erfahrungsbasierten Wissen der Spreche-rin oder des Sprechers und nähert sich optimalerweise der des Hörers / der Hö-rerin an (Turk 2010: 230). Die auf diese Weise modulierte prosodische Struktur wirkt dann auf die phonetische Realisierung ein. Dies bedeutet folglich, dass die sprachliche Redundanz die akustische Realisierung nicht unmittelbar beeinflusst, sondern über die prosodische Struktur vermittelt wird; die sprachliche Redun-danz wird also über die prosodische Struktur implementiert. Während Aylett &

Lexicon

Abbildung 2.3: Smooth Signal Redundancy in einem Grammatikmodell nach Turk (2010: 229)

Turk (2004) zeigen, dass die graduelle Modulierung der Prominenzstruktur von Äußerungen mit der sprachlichen Redundanz (u.a. operationalisiert durch Token-frequenz, silbenbezogene Trigram-Wahrscheinlichkeit und ‚givenness‘; Aylett &

Turk 2004: 40) in Zusammenhang steht, fokussiert Turk (2010) explizit auf die graduelle Hervorhebung von Wortgrenzen:

I claim that the acoustic redundancy, or relative salience, of lexical words can be manipulated by signaling their boundaries. […] Prosodic constitu-ency is proposed to implement the complementary relationship between language redundancy and word boundary salience. (Turk 2010: 231) Zur Unterstützung dieser Annahme zieht Turk (2010: 234-239) Studien aus der phonetisch orientierten prosodischen Phonologie heran, die die Relevanz des Wortes als wichtiger Einheit belegen, indem sie etwa die Hervorhebung von Wortgrenzen unter Akzent oder die Konstanthaltung von Dauern in Wörtern un-terschiedlicher Silbenzahlen aufzeigen. Zentral ist dabei auch, dass die Markie-rung der Grenzen als graduelle Stärkung zu sehen ist und nicht als kategorische Einfügung oder Tilgung (vgl. Turk 2010: 243).

Hinskens u. a. (2014) thematisieren dieses Modell in ihrer Darstellung zu hybri-den Modellen zwar nicht, aufgrund der angestrebten Integration von gebrauchs-basierten Faktoren mit prosodischer Struktur lässt es sich jedoch in diesen Zu-sammenhang einbetten. Eine zentrale Herausforderung besteht sicher noch dar-in, die wesentlichen Faktoren zu bestimmen, die auf die sprachliche Redundanz einwirken (vgl. Turk 2010: 255). Eine andere Herausforderung liegt darin, empiri-sche Analysen durchzuführen, die dazu geeignet sind, das Modell zu prüfen und aufzuzeigen, dass die akustische Realisierung tatsächlich über die prosodische Struktur und nicht über die morphologische oder andere Strukturen bestimmt ist. Wie insbesondere in Kapitel 6 dieser Arbeit gezeigt wird, spricht ein Teil der durchgeführten Analysen tatsächlich für eine Modellierung im Sinne derSmooth Signal Redundancy Hypothesis.

Geminatenreduktion

3.1 Einführung

Der erste Abschnitt des empirischen Teils ist den experimentellen Studien ge-widmet, die auf der Basis kontrollierter Daten einige der in Abschnitt 2.3 ein-geführten Diagnostika für das phonologische Wort in den Blick nehmen.1Dies sind die Produktion von Geminaten über eine (wortinterne) phonologische Wort-grenze hinweg und die Glottalverschlussepenthese und / oder Glottalisierung am Beginn eines phonologischen Worts. Die Daten wurden im Rahmen des DFG-Projekts „Grenzmarkierung in deutschen Komposita“ (Au 72/18-1) erhoben. Die Produktionsstudien setzen sich zum Ziel, Aufschluss über die tatsächliche Rea-lisierung der phonologischen Wortgrenzen zu erhalten, wobei die Möglichkei-ten der Kontrolle, die man im Rahmen einer Produktionsstudie auf die zu er-hebenden Daten ausüben kann, für eine akustisch-phonetische Untersuchung von großem Vorteil sind. Nicht nur können eventuelle koartikulatorische Ein-flüsse durch angrenzende Laute mittels sorgfältiger Auswahl der Zielwörter ein-gedämmt werden, sondern auch andere potenzielle Einflussfaktoren wie Positi-on in der IntPositi-onatiPositi-onsphrase, Akzentuierung, Geschlecht und regiPositi-onale Herkunft können im Vorhinein reguliert werden. In den vorliegenden Studien betrifft das neben den soeben erwähnten Faktoren natürlich auch die Gebrauchsfrequenz (Tokenfrequenz) der Zielwörter, die die beiden Extrempole niederfrequent und sehr hochfrequent abdeckt.

Die akustisch-phonetische Produktionsstudie setzt sich zum Ziel, die Realisie-rung der GlottalisieRealisie-rung und der Geminatenreduktion an der pWortgrenze syste-matisch zu erheben und zu beschreiben. Beide Phänomene können als

Grenzsi-1Dieses Kapitel weist Überschneidungen auf mit Bergmann (2014): Reduction and deletion of glottal stops and geminates at pword-boundaries in German – Effects of word frequency and accentuation. In Caro Reina, J., Szczepaniak, R. (eds.),Syllable and word languages.(linguae et litterae series), 251-278. Berlin: de Gruyter. Das Kapitel basiert auf gänzlich überarbeiteten statistischen Analysen des gleichen Datenmaterials, wodurch mehr Einflussfaktoren berück-sichtigt werden konnten.

gnal des phonologischen Wortes betrachtet werden. Der Fokus liegt auf der Ana-lyse von pWortgrenzen innerhalb morphologisch komplexer Wörter, nämlich in Nominalkomposita und Partikelverben. Wie in 2.3 ausführlich beschrieben wur-de, gelten diese auch als prosodisch komplex. Komposita wieZahnarztoder Par-tikelverben wieeinnehmen setzen sich also aus zwei phonologischen Wörtern zusammen, die in einer rekursiven Struktur gemeinsam wiederum ein phono-logisches Wort bilden. Es ist bis heute unklar, in welcher Weise die wortinter-nen pWortgrenzen durch Grenzsignale wie Glottalverschluss (in (Zahn)ω(ʔarzt)ω oder ausbleibende Geminatenreduktion (in (ein)ω(nehmen)ω) markiert werden und inwiefern sie hierbei auch systematisch von Einflussfaktoren wie der Fre-quenz oder der prosodischen Struktur beeinflusst werden. An diesem Desiderat setzt die vorliegende Studie an.

Wie in Abschnitt 2.3.5 zur Geminatenreduktion beschrieben wurde, wird davon ausgegangen, dass bei aufeinandertreffenden gleichartigen Segmenten an der Morphemgrenze letztendlich die pWortstruktur reguliert, ob beide Segmen-te erhalSegmen-ten bleiben, oder ob es zu einer Degeminierung kommt. Innerhalb eines phonologischen Wortes ist die Degeminierung obligatorisch (z. B.du (lies+st)ω als [li:st]), während sie über eine pWortgrenze hinweg lediglich fakultativ statt-finden kann; die Derivation(Schrift)ω(tum)ωwürde also als [ˈʃrɪft.tu:m] realisiert werden, nicht als [ˈʃrɪf.tu:m] (vgl. Wiese 2000: 69, 229-232). Wiese (2000) selbst gesteht hier allerdings viel Raum für Variation zu, die er in erster Linie durch den morphologischen Status (Präfix vs. Erstglied im Kompositum) und durch die Länge des Erstglieds, aber auch durch Reanalyse und die Sprechgeschwindigkeit bedingt sieht (vgl. Wiese 2000: 231). Systematische Variation bei der Realisierung über die phonologische Wortgrenze hinweg ist auch aus gebrauchsbasierter Per-spektive zu erwarten. Insbesondere frequenzbezogene Maße wie die Tokenfre-quenz können einen reduzierenden Einfluss auf die Markierung der wortinter-nen Grenze ausüben (vgl. Turk 2010). Zu beachten ist, dass die Degeminierung dabei nicht notwendigerweise als ein kategorischer Prozess verstanden werden muss, bei dem es zur Tilgung eines Segments kommt, sondern eine gradiente Reduktion darstellen kann, die die Substanz der Lautsequenz kontinuierlich ver-mindert.

Zur Degeminierung im Deutschen liegen meines Wissens so gut wie keine em-pirischen Studien vor.2Abgesehen von Delattre (1971b,a), dessen Ergebnisse aus methodischen Gründen schwer einzuschätzen sind (siehe dazu auch Greisbach

2Greisbach (2001) thematisiert zwar die „Nasalgemination“. Er bezieht sich in seiner Studie je-doch auf Nasale, deren Aufeinandertreffen aus der Schwa-Tilgung resultiert, wie beispielswei-se in ‚beispielswei-seinen‘ [zaenn̩] oder ‚ihnen‘ [ʔi:nn̩].

2001), liefert einzig Kohler (2001) eine empirische Bestandsaufnahme der Gemi-natenreduktion auf der Basis des Kiel Korpus der gelesenen Sprache und des Kiel Korpus der Spontansprache. Die Geminatenreduktion wird dabei kategorisch be-handelt und als Reduktion zu einem Einzellaut gefasst, wobei Stimmhaftigkeits-unterschiede zwischen den beiden Segmenten keine Rolle spielen (vgl. Kohler 2001: 62). Kohler fasst folgende Tendenzen für das Auftreten der Geminatenre-duktion zusammen. Die ReGeminatenre-duktion ist häufiger,

• wenn die Geminate Teil eines Konsonantenclusters ist, als wenn sie direkt auf einen Vokal folgt;

• wenn das zweite Wort ein Funktionswort ist, als wenn es ein Inhaltswort ist;

• wenn die Geminate in einem Kompositum vorkommt, als wenn sie zwi-schen zwei Inhaltswörtern auftritt;

• wenn die umgebenden Silben keinen Wortakzent tragen, als wenn eine von beiden oder beide Silben einen Wortakzent tragen.

Einen Unterschied zwischen den Sprechstilen Lesesprache und Spontanspra-che stellt Kohler nicht fest (vgl. Kohler 2001: 63, 92-93).

Von besonderem Interesse für die vorliegende Studie ist die drittgenannte Be-obachtung von Kohler, die Komposita gegenüber aufeinander folgenden Lexe-men ein höheres AufkomLexe-men an Geminatenreduktionen attestiert. Kohler führt dies auf eine stärkere Kohäsion („cohesion factor“,Kohler 2001: 63) innerhalb von Komposita zurück. Diese Annahme wird in der vorliegenden Arbeit dadurch überprüft, dass Geminaten in Komposita und Partikelverben systematisch mit solchen in aufeinanderfolgenden Lexemen kontrastiert werden. Auch den übri-gen Ergebnissen Kohlers wird dadurch Rechnung getraübri-gen, dass alle angespro-chenen Faktoren durch das Testdesign kontrolliert werden, wie in 3.2 ausgeführt wird. Der Fokus der vorliegenden Analyse liegt allerdings nicht auf der kategori-schen Geminatenreduktion, sondern auf einer graduellen Vereinfachung, die als Dauerreduktion operationalisiert wird.

Die Forschungsliteratur zur Glottalisierung bzw. zum Glottalverschluss im Deutschen ist wesentlich umfangreicher als die zur Degeminierung. Zunächst ist einzuräumen, dass als eigentliche Anwendungsdomäne der Glottalverschluss-epenthese nicht das phonologische Wort betrachtet wird, sondern der Fuß (vgl.

Wiese 2000: 58-61). Dies zeigt sich in Wörtern wie(Ru[ʔ]ine)ωoder(The[ʔ]ater)ω, die ein einfaches, aber mehrfüßiges pWort konstituieren, dessen schwerer Fuß

mit einem Vokal beginnt. Der leere Onset der wortakzenttragenden Silbe wird durch Glottalverschlussepenthese gefüllt. Das Auftreten des Glottalverschlusses gilt deshalb als vorhersagbar und somit nicht distinktiv. Zugleich beschreibt Wie-se ihn als optional, da Wie-sein Fehlen nicht zu phonologisch nicht wohlgeformten Wörtern führe (vgl. Wiese 2000: 58). Auch wenn das Auftreten des Glottalver-schlusses theoretisch auf die Fußstruktur zurückzuführen ist, so kann er doch auch als initiales Grenzsignal auf pWortebene betrachtet werden, da in den mei-sten Fällen der nativen Wörter des Deutschen aufgrund der trochäischen Wort-struktur Fuß- und pWortgrenzen zusammenfallen. Insbesondere für eine Produk-tionsstudie wie die vorliegende ist es unproblematisch, die Koinzidenz von Fuß-und pWortgrenze zu kontrollieren.

Darüber hinaus betonen andere Autoren stärker den Bezug des Glottalver-schlusses zur Morphem- oder Wortstruktur. Er wird dann als wortinitiales oder

Darüber hinaus betonen andere Autoren stärker den Bezug des Glottalver-schlusses zur Morphem- oder Wortstruktur. Er wird dann als wortinitiales oder

Im Dokument Morphologisch komplexe Wörter (Seite 106-118)