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4. Der Umgang mit dem Material: Auswertung und Darstellung

3.1 Kontaktaufnahme und Besuch

Der Kontakt zu Gertrud Frey kommt über Umwege zustande: Eine Frau aus meiner Verwandtschaft erzählt einer Arbeitskollegin von meinem Projekt. Diese Arbeitskollegin berichtet von einer Frau aus ihrem Bekanntenkreis, die solche Ecken bei sich zuhause habe.

Einige Tage später fragt mich wiederum meine Verwandte, ob sie ihre Kollegin bitten soll, Kontakt mit dieser Frau herzustellen. Ich bitte darum und bekomme wenig später die Telefonnummer von Gertrud Frey. Sie sei, so wird mir gesagt, über mein Vorhaben informiert und einverstanden, sich mit mir zu treffen. Ich rufe an und wir vereinbaren einen Termin am frühen Nachmittag, um 14 Uhr. Da habe sie Zeit, so Gertrud Frey, da sei der Mann noch bei der Arbeit.

Der Besuch bei Frau Frey führt mich in eine dörfliche, fast ländliche Gegend. Das Haus steht in einem Wohngebiet am Dorfrand, ist von Wiesen und großen Grundstücken mit Ein- oder Zweifamilienhäusern umgeben, in der Nähe fließt ein Bach. Hier hat man das Gefühl, dass die Leute einem fremden Auto nachschauen und sich überlegen, wer das sein könnte.

Das Haus, in dem Gertrud Frey lebt, ist kein altes aber auch kein ganz neues Gebäude, es ist weder sehr groß noch klein. Eines der typischen Einfamilienhäuer, wie man sie in ländlicher Gegend findet, mit gepflegtem Garten und kleiner Treppe zur Haustür. Als ich die Stufen hochsteige, fallen mir einige Engelsfiguren auf, die an der Tür angebracht sind.

Gertrud Frey öffnet mir, begrüßt mich freundlich und bittet mich herein. Sie trägt unauffällige Alltagskleidung und spricht Dialekt. Sie macht auf mich den Eindruck einer Frau, die zu der Region und zu dem Haus, in dem sie lebt, passt. Es folgt eine kurze Unterhaltung über meine Arbeit und darüber, wie wir uns „gefunden“ haben. Als ihre Bekannte sie gefragt habe, ob sie mitmache, da habe sie sofort gesagt: „Klar, das mach ich.“ Hätte sie ein paar Jahre früher jemand so etwas gefragt, dann hätte sie gedacht: „Was will der von mir?“

Polaroids nehme ich bei Gertrud Frey nicht auf, auch zeigt sie mir nicht die Wohnung.

Als ich sie frage, wo die ihr wichtigen Orte sind, antwortet sie, dass diese sich alle im Wohnzimmer befinden. Wir könnten uns zum Gespräch an den Wohnzimmertisch setzen, hätten dann alles im Blick. Unser Gespräch findet denn auch am Wohnzimmertisch statt. Wir sitzen auf der Couchgarnitur, die das Zimmer dominiert (Bild 1, S. 37). Das Interview verläuft ungestört und in freundlicher Atmosphäre.

Nach dem Gespräch, das etwas über eine Stunde dauert, holt meine Gastgeberin einige Stickereien und Bastelarbeiten, die sie mir zeigen möchte. Im Interview hatte sie erwähnt dass Sticken ihr Hobby sei, dass ihr diese Tätigkeit viel bedeute und dass sie ihre Stickereien auch verkaufe. Ich sehe mir die professionell wirkenden Arbeiten an und Frau Frey möchte, dass ich sie später fotografiere. Sie ist sichtlich stolz auf ihre Arbeiten. Ob sie

166 mit ihrer Präsentation auch ein Verkaufsinteresse verbindet, darüber bin ich mir jetzt noch unsicher.

Anschließend hole ich die Fotoausrüstung aus dem Wagen und das Bildermachen beginnt. Ich fange im Wohnzimmer an, fotografiere Religiöse Ecken und die auf dem Wohnzimmertisch ausgebreiteten Handarbeiten. Anschließend zeigt mir meine Gastgeberin noch einige andere Räume im Erdgeschoss des Hauses. Im Gespräch kamen doch noch Orte bzw. Dinge außerhalb des Wohnzimmers zur Sprache, die meiner Gesprächspartnerin wichtig waren, es befindet sich doch nicht alles Relevante im Wohnzimmer. Das obere Stockwerk, in dem sich unter anderem das Schlafzimmer befindet, betrete ich nicht.

Während des Fotografierens begleitet mich Gertrud Frey und wir unterhalten uns. Ich erzähle von meiner Arbeit, sie vom Hausbau und der Wohnungseinrichtung. Neue Aspekte zum im Interview Thematisierten kommen nicht dazu. Kurz schaut die 44jährige Tochter herein. Sie wohnt mit Mann und Sohn im Anbau. Wir werden vorgestellt aber die Tochter muss gleich weiter.

Nachdem ich alle mir relevant erscheinenden Orte fotografiert habe und wir uns verabschieden, frage ich noch, ob Gertrud Frey die Bilder anonymisiert haben möchte. Sie verneint, gerne könne ich ihr aber die Bilder zuschicken. Dies tue ich dann einige Zeit später auch und erhalte kurz darauf eine Dankeskarte mit Stickerei.

3.2 Zur Person

Gertrud Frey ist 63 Jahre alt, sagt aber mehrmals, dass sie sich jünger fühle. Sie wurde in der Gegend geboren, in der sie auch jetzt noch lebt. Ihre Vater war Etuimachermeister, stellte zusammen mit ihrer Mutter in Heimarbeit Etuis her. Wie viele Geschwister Gertrud Frey noch hat, wird im Gespräch nicht ganz deutlich. Zumindest eine Schwester hat sie noch.

Von ihren Eltern sei sie, so Gertrud Frey, „streng katholisch“ erzogen worden. Auch heute ist sie noch Mitglied der katholischen Kirche und besucht die Gottesdienste, allerdings nicht mehr so regelmäßig wie in ihrer Kindheit und Jugend.

Frau Frey machte nach dem Abschluss der Volksschule („das ging damals 8 Jahre“) eine Ausbildung zur Industriekauffrau und arbeitete in ihrem Beruf bis zum Alter von 30.

Dann zwangen, so erzählt sie es im Interview, Depressionen und zunehmende Überforderung zum Aufhören. Seitdem ist sie Hausfrau.

Als Gertrud Frey Mitte der 60er heiratete, war sie auch für damalige Verhältnisse recht jung, gerade 19. Eine Schwangerschaft zwang zur Ehe. Ein Kind unverheiratet zu bekommen, das sei damals, so Gertrud Frey, „eine Schande“ gewesen. Am liebsten hätten

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sie einen „gesteinigt“. Gleich nach der Hochzeit wurde dann mit dem Bau des Hauses begonnen, in dem ich Frau Frey besuche.

Der Ehemann ist Werkzeugmachermeister und stammt aus derselben Gegend wir seine Frau. Auch seine Familie – Frau Frey berichtet von mehreren Brüdern und Schwestern und bezeichnet die Verwandtschaft ihres Mannes im Interview u. a. als „Clan“ und als „Mafia“

– lebt in der Gegend. Zusammen haben Herr und Frau Frey eine Tochter (44), die mit ihrem Ehemann und dem elfjährigen Sohn nicht direkt im selben Haus aber im Anbau lebt, also

„fast“ unter einem Dach mit den Eltern. Die Tochter arbeitet als Rechtsanwaltsgehilfin, der Mann ist berufsbedingt selten da. So kümmert sich Gertrud Frey häufig um ihren Enkel.

Einen wichtigen Teil des Interviews macht die Krankengeschichte Gertrud Freys aus. Sie litt unter anderem an einer Krebserkrankung und an wiederkehrenden Depressionen. Wegen diesen war sie insgesamt drei mal in stationärer Behandlung. Das Interview ist über lange Strecken die Erzählung der „Leidensgeschichte“ meiner Interviewpartnerin und dieser Leidensgeschichte werde ich ein eigenes Kapitel widmen. Heute, das betont Gertrud Frey immer wieder, gehe es ihr gut, sei sie mit ihrer „Situation“ zufrieden.

3.3 Erste Beobachtungen

Das Haus, in dem Gertrud Frey zusammen mit ihrem Mann lebt, wirkt zunächst recht

„normal“. Es fügt sich unauffällig in die dörfliche Umgebung ein, die Außenfarbe ist weit verbreitet, Garten und Auffahrt sind gepflegt. Der äußere Eindruck bestätigt sich im Inneren des Hauses. Die Einrichtung ist gut bürgerlich, wirkt etwas „altmodisch“. Es dominieren gedeckte Farben, die Schrankwand findet sich ebenso wie die raumfüllende, braune Couchgarnitur und die drei Frauen bei der Feldarbeit249 (Bild 2, S. 37). Alles wirkt sauber und aufgeräumt, zahlreiche Dekorations-Objekte zeugen davon, dass jemand Zeit, Geld und Energie in die Einrichtung der Wohnung investiert.

Auffällig sind die zahlreichen Engel, die sich im Haus finden. In keinem der Räume, die mir Gertrud Frey zeigt, fehlen Engelsdarstellungen, ob nun auf Bildern oder als Holzfiguren.

Auch an der Haustüre finden sich Engel, ebenso im Garten. Und neben der Musikanlage steht eine Schallplatte namens „Konzert der Engel“ (ebenfalls Bild 2). Da ich keinen Plattenspieler entdecken konnte, dient sie vermutlich nur der Zierde. Zwar finden sich auch einige andere religiöse Figuren, doch die Engel dominieren. Allein auf den Bildern, die ich bei Frau Frey aufgenommen habe, lassen sich rund 40 Engel entdecken, mehr als bei allen

249 Jean-François Millet, Die Ährenleserinnen, 1857

168 meinen anderen Gastgebern. Ich konnte schon beim Blick in die Wohnung vermuten dass die Engel für Frau Frey eine gewisse Bedeutung haben und so war es dann auch.

Ein auffallender Aspekt des Interviews ist die „Leidensgeschichte“ meiner Interviewpartnerin.

Die Erzählungen von Krankheit und Schicksalsschlägen, Trauer und Depression, dörflicher und familiärer Enge nehmen viel Raum ein. Frau Frey hat ein enormes Mitteilungsbedürfnis und insgesamt ist mein Redeanteil als Interviewer eher klein. Was die Emotionen angeht, so ist das Interview sehr kontrastreich. Stellenweise wirkt meine Gesprächspartnerin traurig, klagend, fast den Tränen nahe. Andererseits wurde bei dem Gespräch vergleichsweise viel gelacht. Frau Frey berichtet nicht nüchtern, sie wirkt emotional involviert. Oft bricht sie Sätze ab, stockt, sucht nach Worten.

Was ebenfalls auffällt: Gertrud Frey berichtet – so erscheint es mir zumindest – sehr

„offen“. Dies betrifft nicht nur ihre depressive Erkrankung – sie erzählt u a. von Selbstmordgedanken – sondern auch die als unglücklich geschilderte Ehe. Besonders erstaunte mich eine Erzählung, die von einem Schlüssel handelt, den ihr Mann vor ihr versteckte und den sie – so ihre Erklärung – mit Hilfe der Engel fand. Wenn ich die Erzählung richtig deute, dann verrät Frau Frey mir, also einem Fremden, damit ein Geheimnis, das der Ehemann nicht wissen soll.

Auch will Frau Frey nicht, dass ich die bei ihr aufgenommenen Bilder anonymisiere, also z.B. auf den Bildern zu sehende Gesichter unkenntlich mache. Und auch daran, dass ihr Name geändert wird, scheint ihr nicht viel zu liegen. Frau Frey zeigt etwas dass man vorläufig als eine „Ich verstecke mich nicht länger“-Haltung bezeichnen kann. Dies passt zur Lebensgeschichte meiner Interviewpartnerin, die sie als Geschichte des Leids und der Unterdrückung erzählt. Sie sei aber, so Gertrud Frey, aus all dem gestärkt, mit frischem Lebensmut und gewachsenem Selbstvertrauen hervorgegangen.