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4. Der Umgang mit dem Material: Auswertung und Darstellung

1.4 Die fehlenden Männer

Vom Tod der beiden Männer wusste ich schon vor meinem Treffen mit Anna Kleis. Auch war mir gesagt worden, dass Anna Kleis’ Religiöse Ecken den beiden Verstorbenen gewidmet sind. Ich konnte also vermuten, dass sich ein großer Teil des Gesprächs mit den verstorbenen Männern befassen würde und so ist es dann auch.

Der Anfang des Gesprächs besteht zum Großteil aus dem Bericht vom tödlichen Arbeitsunfall des Mannes und dem Selbstmord des Sohnes etwa ein Jahr später. Der Hergang des Unfalles wird sehr ausführlich, inklusive Ortsangaben und auf die Stunde

112 genauer Zeitangaben, geschildert. Zunächst zeichnet Anna Kleis ein detailliertes Bild der gemeinsamen Feldarbeit, sie schildert die genauen Tätigkeiten der einzelnen Personen: Der Sohn mähte, sie selbst lud das Grünfutter auf und der Ehemann fuhr den Traktor. „...jetzt denken sie des war ja der Sommer war so trocken und am Morgen früh hats ja den Tau... nicht? aufm Gras und ists nass.“ (3/35-36). An einem Abhang geriet der Traktor ins Rutschen: „...die Räder sind rückwärts gelaufen... weil’s nass war ist das hat das angefangen rutschen, und ist mit meinem Mann und dem Wagen über den Weg durch und dann geht’s so ins Loch runter <R. verdeutlicht mit der Hand einen steilen Abhang> und da runter ist er mindestens zwanzig Meter und immer schneller.“ (4/2-6) Als eines der Vorderräder in eine Vertiefung geriet, stoppte der Traktor abrupt und der Mann wurde aus dem Sitz geschleudert. Nach dem Unfall war er bei Bewusstsein, schien äußerlich nur leicht verletzt „...aber den hats so von dem Sitz da oben runtergesetzt aufs Gesäß...

und hat ihm da alles gebrochen das ganze Steißbein und alles war ((3sec)) und er ist innerlich verblutet (R. weint)“ (4/20-22)

Diese Stelle ist im Gespräch die einzige, an der Frau Kleis emotional deutlich

„mitgenommen“ wirkt. Doch Sie fasst sich schnell und schildert das weitere Geschehen nach dem Unfall. So sei auch ein Polizist an den Unfallort gekommen, zu dem der Ehemann ein eher schlechtes Verhältnis gehabt habe. Beide saßen im Gemeinderat, „...und da hats manchmal so Meinungsverschiedenheiten gegeben.“ (4/27-28). Als der Ehemann, der ja nach dem Unfall noch bei Bewusstsein war, sah, „...dass der auch über ihm steht, da hat er gesagt: ja hat jetzt der Herr Meier auch müssen kommen?“ (4/29-30).

Nach dem Tode des Mannes – er wurde ins Krankenhaus gebracht, dort verstarb er – half der Polizist bei den Formalitäten, erledigte alles „beim Rathaus“ und brachte Anna Kleis damit in eine etwas schwierige Lage. Einerseits müsste sie den Polizisten aus Loyalität zu ihrem Mann ablehnen, andererseits hat er ihr sehr geholfen und sie ist ihm zu Dank verpflichtet. Mit der Frage : „…und dann bin ich ihm doch (sicher) dankbar gewesen, glauben sie doch oder?...“ (4/ 35-36) bezieht mich Frau Kleis in das Problem mit ein, holt sich von mir die Bestätigung der Richtigkeit ihrer Einstellung. Auch die Äußerung: „...„…er war recht und hat über mein Mann sicher auch nichts Schlechtes gedacht…“ (5/1-2) bezieht sich auf das problematische Verhältnis zwischen ihr und den beiden Personen, denen sie verpflichtet ist. Wenn der Polizist nichts schlechtes über den Mann dachte, so waren die Probleme gewissermaßen nur „äußerlich“, nicht in einer tieferen Abneigung begründet Mit dieser Versicherung mir als Interviewer sowie auch sich selbst gegenüber gelingt erstens die Legitimierung ihrer Dankbarkeit, zweitens zu einem gewissen Grade das

„Kitten“ des Verhältnisses zwischen Ehemann und Polizist. Auch wenn die beiden sich nicht mochten, Probleme miteinander hatten, so verneint Anna Kleis doch eine grundlegende Verachtung, die sich im „schlecht denken“ über jemanden zeigt. Man könnte sage, dass Frau

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Kleis hier eine Aufgabe übernimmt, die einer Bäuerin zukommt: Das Zusammenhalten des sozialen Gefüges.

Den Selbstmord des Sohnes schildert Anne Kleis nachdem sie vom Tod des Ehemannes berichtet hat. Er wird weniger ausführlich erzählt. Beide Schilderungen weisen einige Ähnlichkeiten auf, jedoch auch deutliche Unterschiede. Wie zuvor bei der Schilderung des tödlichen Unfalls wird das Ereignis zeitlich eingeordnet. Nach Nennung des Todeszeitpunktes: „…und im neunundneunzig im November hat er dann sich’s…“ (5/ 8, Satz nicht vollendet) beschreibt Frau Kleis die Gründe, die ihrer Ansicht nach zum Selbstmord führten. Sie führt diesen darauf zurück, dass ihr Sohn sich mit seiner Arbeit übernahm: „…aber er hat gewusst, er kann das nicht alles schaffen...und ich glaub es ist einfach zuviel geworden…“ (5/ 13-14). Die eigentlichen Umstände des Todes werden, anders als beim Ehemann, nicht beschrieben. Erwähnt wird nur, dass der Sohn „…dem Vater nachgegangen…“ (5/ 20) sei. Darauf folgt, auffällig ähnlich wie im Falle des Ehemannes, ein Übergang zu den praktischen Problemen, die mit dem Tod zusammenhängen. Von den eigenen Empfindungen nach dem Selbstmord des Sohnes spricht Frau Kleis nicht, wiederum zeigt sich die das Gespräch durchziehende Scheu bzw.

Abneigung, das eigene Gefühlsleben zum Thema zu machen. Stattdessen schildert Frau Kleis Bestattung und Grabgestaltung. Neben dem Doppelgrab, in dem schon der Ehemann lag und in dem später auch Frau Kleis beerdigt werden will, sei noch ein Grab frei geworden.

Der Sohn liegt nun in diesem Grab, Frau Kleis ließ es mit einer Marmorplatte mit dem Doppelgrab verbinden. Die Familie bleibt also zusammen, auch nach dem Tod. So wie die beiden Männer auf der Theke und an der Küchenwand zusammen stehen, so sind sie auch nebeneinander beerdigt. Und auch Frau Kleis wird irgendwann bei ihren Männern liegen.

Jetzt hat sie die zu früh Gestorbenen zumindest mit den Bildern in ihrer Nähe, die sie nach dem Selbstmord des Sohnes in der Küche – ihrem Haupt-Aufenthaltsort – aufgestellt und aufgehängt hat.211 Auf die Frage, ob man sich „...vielleicht doch irgendwie in Gesellschaft...“ fühlt, „...wenn man die Bilder da hinten hat...“ (10/ 28-29), antwortet Frau Kleis dann auch mit einem bestimmten „natürlich...natürlich, nicht? ja wenn ich da sitz seh ich dort hin, seh dieses Bild und ((3sec)) wenn man dann so allein ist, dann denkt man halt wieder an die Sachen...warum ist man allein?...“ (10/ 30-32). Der Anblick der Bilder löst also durchaus zwiespältige Empfindungen aus, Frau Kleis bestätigt, dass diese Gesellschaft leisten, doch sie sind auch Anlass, das Geschehene und die eigene Situation zu durchdenken, sie rufen den Verlust ins Bewusstsein. Frau Kleis erwähnt, dass sie oft auch alleine in der Küche sitze und dass die Gegenstände an diesem Ort aufgestellt worden

211 Die Küche ist gewissermaßen das Zentrum des Hauses: „...des [also die Küche O.S.] ist halt unser

Wohnzimmer...“ (10/ 7). Jedoch ist sie nicht – das könnte der Begriff „Wohnzimmer“ nahe legen – arbeitsfreier Raum. Die Küche scheint auch das Zentrum der Arbeit zu sein, bei beiden Besuchen traf ich Frau Kleis in der Küche beschäftigt an.

114 seien, „-weil wir einfach da am meisten sind...“ (10/ 1). Die Bilder der beiden Männer sind so im Raum angeordnet, dass es kaum eine Möglichkeit gibt, sie nicht zumindest aus dem Augenwinkel heraus im Blick zu haben. Vom Küchentisch ist die Zusammenstellung auf der Theke gut sichtbar. Befindet man sich hinter der Theke, so kann man die Bilder an der Wand neben dem Fernseher sehen.

Vergleicht man die Bilder, die ich bei Frau Kleis aufgenommen habe, mit den anderen Bildern im Fotoband, so wirken diese vergleichsweise „ordentlich“– zum einen durch die Symmetrie im Aufbau, die die beiden Männer gleichberechtigte Positionen einnehmen lässt (Bild 2, S. 3), zum anderen durch die eher geringe Zahl an verschiedenen Dingen. Auch betont Anna Kleis dass sie die Dinge sauber halte, etwa den auf einem Bauernhof kaum zu vermeidenden „Fliegendreck“ entferne, und regelmäßig die Blumen erneuere.

Man denkt bei diesen Tätigkeiten an die Grabpflege. Auch andere Tätigkeiten Anna Kleis lassen an das denken, was man gemeinhin auf dem Friedhof tut. Sie zündet für ihre beiden Männer die Kerzen auf der Theke an, sie verweilt und schweigt vor der Zusammenstellung, denkt an die Verstorbenen und „...am Abend bevor ich ins Bett geh,...dann steh ich noch ein wenig da hin und bete...“ (8/ 27-28). All dies sind Tätigkeiten, die auch am Grab verrichtet werden. Anna Kleis aber hat sich in ihrer Küche einen Ort geschaffen, der dies alles in den eigenen vier Wänden ermöglicht.

Die Gründe hierfür sind durchaus auch praktischer Art: „...wenns’s heiss ist dann sind die Blumen [auf dem Friedhof, O.S.] wüst, ...und da, wenn sie mir nicht gefallen dann kann ich (das Wüste rauszupfen), kann ihnen frisches Wasser geben...ich hab jetzt gestern morgen wieder frische Blumen hingestellt...“ (8/ 16-20). Über den Sommer bringe sie keine Blumen auf den Friedhof, so Anna Kleis, dies mache zu viele Umstände:

„...und wenn da dann mal fort musst musst dich (weißt?) umziehen und und=und=und...“ (8/ 12-13)

Dass man zum Gang auf den Friedhof aus den Arbeitsklamotten raus muss, das erwähnt Frau Kleis noch an anderer Stelle. Der Hof bzw. seine Erfordernisse prägen auch das Gedenken an die Toten und sind mit ein Grund für die Zusammenstellung auf der Theke.

Die Gegenwart der beiden Männer in der Küche, dem Zentrum des Hauses und der gemeinsamen Arbeit, ermöglicht ein Handeln gegenüber den Toten dass nicht im Widerspruch zu den Erfordernissen des Hofes und zur daran angepassten Lebensweise Anna Kleis’ steht. Man muss nicht für längere Zeit das „Schaffen“ unterbrechen, nicht den Hof verlassen, nicht die Kleidung wechseln.

Betrachtet man die einzelnen Dinge, die um die Bilder der beiden Männer herum postiert wurden, so fällt auf, dass persönliche Gegenstände der Toten fehlen. Dieses Fehlen wäre

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bei Gräbern erwartbar, wobei man vermuten kann, dass es auch hier Veränderungen gibt.

Innerhalb einer Wohnung überrascht es aber. Ich besuchte noch andere Menschen, die Angehörige verloren hatten und die Verstorbene in ihr Wohnumfeld miteinbezogen. Bei diesen anderen waren es stets auch persönliche Gegenstände, die für die Toten standen.

Bei Anna Kleis hingegen scheinen es nur die Bilder der Verstorbenen zu sein. Zwar ist diese Beobachtung mit Vorsicht zu interpretieren, schließlich bekam ich lediglich die Küche zu sehen, trotzdem möchte ich einige Gedanken dazu äußern.

Eine mögliche Erklärung für das Fehlen persönlicher Gegenstände wäre, dass die beiden Verstorbenen keine oder nur wenige Gegenstände besaßen, die so fest mit der Person verbunden waren, dass sie nun die Toten symbolisieren könnten bzw. das „In Ehren halten“ dieser Gegenstände nun ein Dienst an den Toten sein könnte. Dieses „In Ehren halten“ findet sich bei einer anderen Frau, die ich besuchte: bei Silke Bäumler. Diese verlor ihren Sohn bei einem Unfall und bewahrt nun einige Spielsachen, Bastelarbeiten sowie mehrere Milchzähne des Jungen auf – alles persönliche Dinge, die einen Ehrenplatz in der Wohnung haben (im Bildband: S. 122-124). Doch die Menschen, die Anna Kleis verlor, waren keine Kinder. Sie waren Männer, für die – so kann man annehmen – die Arbeit bzw.

der Erhalt des Hofes ein Hauptanliegen war und die ein rationales, zweckgebundenes Verhältnis zur Welt der Dinge pflegten. Möglicherweise fehlen Gegenstände, zu denen persönliche Verhältnisse bestanden, vielleicht gab es bei den Männern keine solchen

„Sentimentalitäten“.

Ein anderer Gedanke, aufbauend auf bereits ausgeführten Überlegungen: Der Platz ermöglicht nicht nur ein den Erfordernissen des Hofes angepasstes Totengedenken, er reintegriert die beiden verloren gegangenen Männer in die Hofgemeinschaft. Frau Kleis umgibt sich mit ihnen, sie orientiert sich bei ihren Handlungen an ihnen, sie holt sie ins Zentrum des Hauses und der Arbeit und umgibt sie mit den Produkten des Hofes, den Blumen. Indem die Männer nicht durch persönliche Gegenstände individualisiert werden, sondern vielmehr Teile eines symmetrischen Ensembles sind, treten sie auch nicht aus der Gemeinschaft heraus. Sie werden nicht als individuelle, unterschiedliche und voneinander

„abgesonderte“ Personen inszeniert, sondern als Teil der Gemeinschaft. Sie müssen sich einen Besonderen Ort teilen, in dem sie noch dazu gleichberechtigte Positionen einnehmen.

Dazu passt, worauf ich bereits hinwies: Die Männer sind auch zusammen beerdigt, die Gräber sind verbunden und auch für die Mutter und Ehefrau ist ein Platz vorgesehen. Frau Kleis konnte das Auseinanderbrechen der Familie und Hofgemeinschaft nicht verhindern, sie konnte weder den Arbeitsunfall noch den Selbstmord des Sohnes vorhersehen und natürlich wurden die Toten vom Hof weggebracht, auf den Friedhof. Sie kann aber zumindest symbolisch die Gemeinschaft zusammenhalten, indem sie den Männern ihren gemeinsamen Platz im Zentrum des Hofes und der Arbeit gibt. Das Zusammenstehen der Familie, dieser

116 für Anna Kleis hohe Wert, findet seinen gegenständlichen Ausdruck auf der Theke und an der Küchenwand.

Auch die Engelfigur, die sich in der Mitte der Anordnung auf der Theke befindet (Bild 1, S. 2), passt ins eben skizzierte Bild. Eigentlich sind es zwei Engel und jeder der Engel befindet sich in der symmetrischen Anordnung auf der Seite eines Verstorbenen. Aber die Engel sind untrennbar in einer Figur vereint, sie sind zwei und eins zugleich. Ebenso bei den Verstorbenen: Sie sind zwei und bilden doch eine Einheit. Man könnte die Figur auch als Hinweis auf die Annahme oder Hoffnung nehmen, dass Ehemann und Sohn nun im Himmel wieder zusammen sind. Die Formulierung Anna Kleis’, dass der Sohn mit seinem Selbstmord dem Mann „nachgegangen“ sei, legt diese Deutung nahe.