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4. Der Umgang mit dem Material: Auswertung und Darstellung

3.5 Ich hab viel Gutes gemacht

Es sind zwei Personen, die im Gespräch eine besonders wichtige Rolle spielen und unter deren Verhalten Frau Frey besonders leidet oder litt: Der verständnis- und rücksichtslose Ehemann und die streng katholische Mutter, die den Kindern wenig Zuneigung entgegenbrachte, dafür aber den Kirchgang überwachte und mit Katastrophen drohte.

Die Einstellung Frau Freys zur Mutter hat sich nach dem Tod der Mutter gebessert, darauf ging ich bereits ein. Der Verhältnis zum Ehemann jedoch ist – folgt man den Schilderungen Gertrud Feys – nach wie vor schlecht. Die Ehe sei lieblos, der Mann denke nur ans „Schaffen“, habe keinen Sinn fürs Schöne, bringe ihr keine Anerkennung entgegen.

Trotzdem denkt Frau Frey nicht mehr an Trennung, will nicht mehr fort gehen, betont mehrmals, mit ihrer Situation zufrieden zu sein. Früher, gerade zu Beginn ihrer Ehe habe sie hingegen oft daran gedacht, den Mann zu verlassen. Aufgrund der unglücklichen Situation habe sie auch keine weiteren Kinder gewollt: „...so wies do lauft... des isch nid gut für Kinder...“ (11/13-14)

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Fragt man danach, warum es Frau Frey heute besser geht, warum sie sich heute als

„zufrieden“ beschreibt, so lassen sich folgende Punkte herausarbeiten:

• Die häusliche Situation ist eine andere. Die Tochter lebt mit Familie (der Mann, der allerdings meist beruflich unterwegs ist, sowie der zwölfjährige Enkel) im Anbau. In der Tochter hat Frau Frey eine Ansprechpartnerin, von der sie sich verstanden fühlt, die in Ansätzen auch ihren Glauben an die Engel teilt: „...die glaubt schon, ich kann ihr auch ich kann ihr auch schon vermittle und sag- und sag schon wenn mir geholfe worde isch... sonscht tät sie mir kein Engelkarte schreibe und und noch Gedicht rein dazu ne?“ (11/18-21)

Auch hat sie mit der Tochter – so lassen sich einige Passagen verstehen – eine Verbündete im Konflikt mit dem Ehemann. Dazu später.

• Durch die Kuren und Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken sei sie, so Gertrud Frey, mit Menschen in Berührung gekommen, die sie verstanden, die sie respektierten und ihr Selbstvertrauen gaben. Auch sei ihr Horizont erweitert worden. Sie, die nie aus dem Dorf rauskam, habe Kunst und Kultur kennen und schätzen gelernt. In den Werken von Künstlern habe sie auch erkannt, dass es Menschen gäbe, die so empfinden wie sie. Deshalb sei sie nicht „falsch“ so Gertrud Frey.

• Gertrud Frey erwähnt, dass man für sie die richtigen Medikamente zur Behandlung ihrer Depression gefunden habe. Es wird nicht deutlich, ob sie nach wie vor Medikamente nimmt bzw. ihre Depression noch behandelt wird. Dafür, dass sie ihre Krankheit nicht als vergangen betrachtet, sprechen aber Aussagen wie: „...ich bin immer ziemlich gleich oben druff halt (I: mhm) und des is halt auch äh ä von der Krankheit her...“ (1/33-34)

• Sie habe, so Frau Frey, mit dem Sticken ein sehr schönes Hobby gefunden. Das Sticken ist nicht nur Freizeitbeschäftigung, Frau Frey verschenkt und verkauft ihre Arbeiten auch. So erntet Frau Frey Lob und Anerkennung für ihre Arbeiten. Auf den Bildern, die ich aufgenommen habe, finden sich zahlreiche Stickereien. Auch bekam ich von Frau Frey Karten mit Stickereien geschenkt und zum Ende des Gesprächs arrangierte Frau Frey ihre Stickereien auf dem Wohnzimmertisch, so dass ich sie fotografieren konnte. (Bild 8, S. 42)

Frau Frey hat die Engel für sich entdeckt. Bei ihnen findet sie Unterstützung, sie kann sie um Hilfe bitten. Und auch die verstorbene Mutter helfe ihr. Diese habe eingesehen, dass sie nicht alles richtig gemacht habe.

Zunächst scheint nur der letzte Punkt einen religiösen Aspekt zu haben. Doch auch die verbesserte Gesamtsituation – einfach die Tatsache dass es ihr heute besser geht – wird

176 unter Transzendenzbezug betrachtet. Es scheint, als reiche das bloße Konstatieren der veränderten Lebensumstände nicht, Frau Frey sucht nach einem tieferen Grund. So antwortet sie auf meine Frage, warum sich heute alles so zum Besseren entwickelt habe, ob dies Zufall sei oder ob doch etwas dahinter stecke: „...ich- ich hab viel gutes gemacht, und bin wirklich zum zu em bin zu keinem Mensch bös und bin zu keinem Mensch erhabe oder .hh selbst einer wo e weng m äh tu ich noch mit ihm schwätze...“ (14/27-29). Frau Frey berichtet von einem Mann, der – so lässt sich die Stelle lesen – geistig behindert oder jedenfalls ein Außenseiter im Dorf ist. Auch mit diesem rede sie, das tue ihm gut „...und wenn er jetzt da durchlauft lacht er ganz arg ne?... und ich hab immer gsagt: des schlimmste- also d- des is für mich des schlimmste, wenn ein Nebemensch unter mir liege muss... des is schlimmste was ich mir vorstell eigentlich... gröscht Sünd.“ (14/47-40)

Der Versicherung, dass sie sich bemühe, ein guter Mensch zu sein, Nächstenliebe zu praktizieren, folgt die Versicherung, dass sie nichts Böses tue. Sie habe, so Frey, in ihren Kuren auch Männer kennen gelernt, auch mit Männern getanzt. Aber: „ich hab nix böses gemacht...ich hab kei Ehe kaputt gemacht, ich hab nix böses gemacht.“ (14/40-42). Die Unterscheidung von Gut und Böse und die Versicherung Gertrud Freys dass sie nicht böse sei, taucht im Interview immer wieder auf. Hinzu kommt der Begriff der Sünde, der darauf hinweist dass die Gut/Böse-Unterscheidung anhand der christlichen Gebote gedacht wird.

Nun ist das Verhältnis Gertrud Freys zu christlicher Religion und Kirche aber ein recht verzwicktes. Mehrmals klagt sie über die streng katholische Erziehung durch ihre Mutter und ihre Großmutter mütterlicherseits. Beide wären „furchtbar“ religiös gewesen, hätten nur von den bösen Engeln erzählt. Wenn kein regelmäßiger Kirchgang stattfand wurde mit Katastrophen gedroht. Schönheit und Genuss waren verpönt, Arbeit und Demut wurden groß geschrieben.

All dies verurteilt Gertrud Frey mit Bestimmtheit. Daher kann es verwundern, dass meine Gesprächspartnerin nach wie vor zur Kirche geht, sich am christlichen Glauben orientiert und diesen wohl auch an den Enkel weiter gibt: „...war erscht gestern abend drin, hab mirs ((2sec)) Aschekreuz geholt... es war Aschermittwoch gwesen gell?...

hab zwar nix verbroche in der Fasent aber (lacht)... trotzdem gholt, hab der der Enkel noch mitgnomme...“ ( 4/46-49).

Gegen Mitte des Interviews merke ich an, dass man, wenn man so streng katholisch erzogen wurde und immer nur von den bösen Engeln gehört habe, doch auch sagen könne:

„...jetzt is Schluss jetzt entfern ich mich ganz von dem und hab mit=mit de Kirche nix mehr am Hut oder mit der Religion.“ (10/9-10). Darauf Frau Frey: „Mh des hab i- des hab i nid könne, des war dann doch zu stark.“ (10/11).

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Gertrud Frey sagt, dass sie den Bruch mit der Kirche nicht vollziehen konnte, nicht aber, dass sie den Bruch nicht vollziehen wollte. Die Äußerung spricht dafür, dass die negative Sicht auf die Kirche – diese scheint im Interview immer wieder auf – durchaus den Bruch mit der Kirche ins Denkbare rückte. Sie habe ja auch, so Gertrud Frey, nach dem Tod der Mutter die Kirche „geschwänzt“. Die Wahl des Wortes „geschwänzt“ weist allerdings auf ein gewisses Unrechtsbewusstsein hin. Wer schwänzt, der müsste eigentlich dort sein, der kann eigentlich nicht frei entscheiden, ob er geht oder nicht geht.

Leider versäumte ich, danach zu fragen, was nun genau dieses „das“ war, das dann doch zu stark war (siehe Zitat). Betrachtet man das gesamte Gespräch so scheint es eine Mischung zu sein aus Angst vor den Katastrophen, die von der Mutter angedroht wurden, der Verpflichtung gegenüber der Mutter und deren Werten, sowie etwas, das man als

„schlechtes Gewissen“ oder gar als „Über-Ich“ bezeichnen könnte. Der Ausdruck eines guten, eines gottgefälligen Lebens, findet sich der Mutter zufolge nicht zuletzt im Kirchgang und Frau Frey hat diese Einstellung von Kindheit an eingeimpft bekommen. Es fällt ihr schwer, sich davon zu befreien. Was aber gelingt ist eine schrittweise Umdeutung, man könnte auch sagen: Eine Verlagerung der Schwerpunkte. So ist die Unterscheidung von gut und böse bzw. die Idee vom gottgefälligen Leben weiterhin für das Denken Gertrud Freys relevant. Aber sie versucht, davon auszugehen, dass anderes gut und böse ist, dass anderes Gott gefällt. Der Kirchgang ist zwar nach wie vor wichtig, wichtiger ist aber die Nächstenliebe, dass man seine Mitmenschen gut behandelt. Im Denken der Mutter schien es – glaubt man den Äußerungen Gertrud Freys – umgekehrt zu sein.

Auch die Engel, von denen die Mutter immer erzählte, werden nicht einfach fallen gelassen. Aber sie werden umgedeutet, sie sind nicht mehr die Bösen, Strafenden und diejenigen, die für ihren Hochmut bestraft werden.255 Sie sind die Guten, Helfenden, diejenigen, an die man sich mit seinen Sorgen und Problemen wenden kann. Solche Umdeutungen bedürfen der Absicherung. Im Falle des Kirchgangs bot sich für Frau Frey das Ausprobieren an: Sie schwänzte die Kirche und wartete. Würde etwas Schlimmes passieren? Es passierte nichts und folglich ist die strikte Einhaltung des Kirchganges nicht unbedingt nötig.256 Auch spricht die Tatsache, dass es Frau Frey heute wieder gut geht – sie betont dies immer wieder – dafür, dass es irgendwann belohnt wird, wenn man so gut zu seinen Mitmenschen ist, wie es Getrud Frey eigener Aussage nach ist.

Die Überlegungen Gertrud Freys zu den Engeln können folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Engel haben mir schon geholfen wenn ich sie um Hilfe bat.

Also können die Engel ja nicht nur böse sein. Und wenn ich böse wäre, hätten sie mir ja nicht

255 Gertrud Frey zufolge drohte ihre Mutter damit, dass es einem wie den hochmütigen Engeln gehe wenn man selbst hochmütig sei. Man werde in die Hölle gestoßen. Sie habe dann immer überlegt was sie dürfe und was sie nicht dürfe, so Gertrud Frey, immer gedacht: „ah jetzt bin ich wieder e wenig hochmütig.“ (7/15-16)

256 Trotz dieses Beweises kann natürlich das schlechte Gewissen plagen.

178 geholfen. Also bin ich gut. Für Frau Frey wird die religiöse Einstellung der Mutter und damit zusammenhängend deren Verhalten und deren Argumentation (nicht in die Kirche gehen, das führt zu Katastrophen) durch die Erfahrung widerlegt. Ihr eigenes Denken, ihre eigenen Vorstellungen hingegen werden durch die Erfahrung bestätigt. Es geht ihr heute gut, also muss Gott, müssen die Engel zufrieden mit ihr sein. Die Mutter lag falsch, der Kirchgang ist nichts das Wichtigste.