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„Mit dem höheren Wesen [...] treiben die Atheisten ihren Spott und treten einen „Beweis von seinem Dasein“ nach dem andern in den Staub, ohne zu merken, dass sie selbst aus Bedürfnis eines höheren Wesens das alte nur vernichten, um für ein neues Platz zu gewinnen. Ist etwa nicht „der Mensch“ ein höheres Wesen als ein einzelner Mensch, und werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die sich aus seinem Begriff ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieses Begriffs verehrt und – heilig gehalten werden müssen?“96

Ich habe dieses Zitat von 1844 an den Anfang dieses Abschnittes gestellt, weil sich an ihm einige Gedanken zum „Heiligen“ entwickeln lassen. Zum einen zeugt ja das Verspotten oder

„in den Staub treten“ davon, dass jemandem bzw. einer Gruppe wie den erwähnten Atheisten etwas eben nicht heilig ist. Was heilig ist, das soll heil, also unversehrt bleiben.

Derjenige, dem etwas heilig ist, der wird es nicht beschmutzen und verspotten. Und er wird vermutlich etwas dagegen haben, dass andere es in den Staub treten.

Auch weist das Zitat darauf hin, dass das Heilige nicht als etwas gedacht werden muss, dass zwangsläufig mit Religion, Kirche oder einer bestimmten religiösen Erfahrungsqualität zusammenhängt. Zwar haben die Religionen eine Vielzahl von Heiligkeiten (Orte, Gebäude, Gegenstände, Zeiten, Handlungen, transzendente Wesen, Personen, Tiere, Schriften, Annahmen...) hervorgebracht, doch hilft schon der Blick auf die alltägliche Verwendung des Wortes „heilig“ gegen die Annahme, dass das Heilige sich nur in der Sphäre der Religion entdecken läßt oder dass das Heilige zwangsläufig etwas mit irgendwelchen höheren Mächten zu tun hat.

Man kann ganz profane Äußerungen als Anlass nehmen, das Heilige vom Religiösen wegzurücken: So ist es nicht erstaunlich, wenn jemand sagt, ihm sei sein Feierabend heilig.

Man weiß, was er meint. Oder jemand sagt, ihm sei die Privatsphäre seiner Wohnung, die Familie oder z.B. die Natur heilig.97 Und die von der Liebe ihres Mannes zum Automobil genervte Gattin bezeichnet den Wagen mit ironischem Unterton als „sein Heiligtum“ oder

„sein Ein und Alles“.

96 Stirner, Max (eigentlich Johann Caspar Schmidt): Der Einzige und sein Eigentum, S. 38

97 Ich habe versuchsweise 15 Leute aus meinem weiteren Bekanntenkreis gefragt, was ihnen heilig sei. Häufige Antworten: „Meine Freunde“, „Meine Familie“, „Das Leben“ und „Die Natur“. Ein Bekannter meinte, ihm sei sein Fahrrad heilig. Schließlich mache er alles mit dem Fahrrad, ohne wäre er „aufgeschmissen“.

44 Wenn jemandem etwas heilig ist, so wird nicht nur er selbst diesem Heiligen mit Respekt, vielleicht gar Ehrfurcht begegnen. Wie erwähnt wird er auch versuchen, sein Heiliges „heil“ zu halten, es vor Spott, Beschädigung, Infragestellung oder Vernichtung zu schützen. Dies kann man als ein Erkennungsmerkmal des Heiligen betrachten. Wer den heiligen Feierabend stört, der muss mit Widerstand rechnen, ebenso derjenige der die Familie angreift oder derjenige, der sich über das Auto lustig macht, es vielleicht gar beschmutzt oder beschädigt. Das Heilige kann man also daran erkennen, dass es als schützenswert betrachtet und behandelt wird. Der gläubige Christ wird seinen Glauben ebenso heilig halten wie der aufgeklärte Atheist die „Wahrheiten, Rechte und Ideen“, die sich aus seinem Menschenbild ergeben. Was heilig ist, das ist oft auch tabu. Aber warum wird etwas geschützt?

Man kann davon ausgehen, dass diejenigen, die etwas schützen, die es mit Verboten und Verhaltensregeln umgeben, dies aus der Erfahrung einer besonderen Verbundenheit zu diesem „Etwas“ tun. Auch deshalb wird der Angriff auf etwas Heiliges meist als Angriff auf denjenigen erlebt, dem dieses „Etwas“ heilig ist. Wer eine Flagge in den Schmutz tritt, der stellt sich gegen den Patrioten. Wer den Koran verspottet, der muss und kann damit rechnen, dass sich derjenige persönlich getroffen fühlt, dem der Koran heilig ist.

Beispiele für diese Verbundenheit von Menschen und dem Heiligen lassen sich auch in der ethnologischen Literatur finden, die sich mit „Totemismus“ oder „Fetischismus“ befasst:

Ein Gegenstand der Erfahrung, meist ein Tier oder eine Pflanze, wird für eine Gruppe zum Heiligtum, zum geschützten und verehrten Objekt, um das sich die Gruppe schart, mit dem sie sich zu anderen Gruppen als auch intern abgrenzt und in dem sie sich in ihrer Lebensweise bzw. ihrem Selbstverständnis spiegelt.98 Ähnliches lässt sich – um zum Beispiel zurückzukehren – zum Auto sagen, dass von einer Person als Heiligtum behandelt wird. Das Auto99 ist in diesem Falle nicht nur bloßer Gebrauchsgegenstand sondern bedeutsam für das Selbstbild dessen, der es heilig hält. Es kann als Symbol der eigenen gesellschaftlichen Stellung dienen, als Ausweis von Geschmackssicherheit, Überlegenheit, Originalität oder auch Zugehörigkeit, als Zeichen dafür, dass man es „geschafft“ hat oder als

98 Phänomene, die dem Totemismus ähneln oder die man unter „Totemismus“ fassen kann, existieren nicht nur in Stammesgesellschaften. Auch heute sind Pflanzen oder Tiere als Gruppenzeichen keine Seltenheit. Man denke an Sportvereine oder militärische Einheiten, die sich nach Tieren benennen, an die Sonnenblumen der Grünen, an die deutsche Eiche oder den Bundesadler, den „Löwe von Juda“ der Rastafaris, das Lamm Gottes, ebenso auch an nach Pflanzen oder Tieren benannte Kindergartengruppen usw.

Zumeist dienen die gewählten Tiere und Pflanzen nicht nur der Abgrenzung und Kenntlichmachung der Gruppe sondern haben erkennbar Identifikationspotential: Die Standfestigkeit der Eiche, der Stolz des Löwen, die Friedfertigkeit des Lamms...

99 Noch viele andere technische Gegenstände taugen als Beispiel: Das Smartphone, der Computer oder die Kamera. Verfolgt man die teils erbittert geführten Internetdiskussionen z.B. um die Frage, ob nun Nikon oder Canon, Apple oder Samsung, Nintendo oder Sony besser ist, so liegt die Annahme nahe, dass es eben nicht nur um die Produkte geht. Vielmehr definieren sich Menschen (auch) über Marken und Gegenstände. Greift man diese Marken und Gegenstände an, dann fühlen sich diese Menschen angegriffen und reagieren mitunter aggressiv.

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Stütze des eigenen Anspruchs, es zu schaffen. Das „Heilige“, ob nun das Auto, das Totemtier, die Heilige Schrift oder das Ideal der persönlichen Freiheit, hat identitätsstiftende Funktion, es stabilisiert und symbolisiert das Selbstbild, wird oft gar als Teil des Selbst erfahren. Dies gilt sogar für den Feierabend, der jemandem heilig ist. Wer eine klare Grenze zur Arbeit zieht, indem er den Feierabend für heilig erklärt, der versichert sich damit seiner Selbstbestimmtheit. Das „sich richten“ nach den Anforderungen der Arbeit ist nur temporär, danach ist man wieder sein eigener Herr.

Das Heilige hat also identitätsstiftende Funktion. Weiter kann man annehmen, dass das Heilige auch deswegen heil gehalten wird, weil es als heilsstiftend betrachtet wird, weil es Glück verspricht. Offensichtlich ist dies der Fall bei den diversen Heiligkeiten, die die Religionen hervorgebracht haben. Der gläubige Moslem, der die Kaaba umrundet, kann sich davon ein besseres Leben erhoffen. Wer Gott ehrt, der glaubt vielleicht, nach seinem Tod dafür entlohnt zu werden. Wer die Natur als etwas betrachtet, das man schützen muss und dem mit Achtung zu begegnen ist, der wird das Glück tendenziell beim Leben im Einklang mit der Natur suchen. Und wer Glück und Lebenssinn in der Selbstverwirklichung sucht, der wird die Idee der Selbstverwirklichung gegen Zweifler verteidigen und jede Einschränkung der Arbeit am Selbst zurückweisen. Vielleicht sind Dinge umso heiliger, je wichtiger sie für das eigene Lebensglück sind und umso größer man die eigene Abhängigkeit von diesen Dingen empfindet.

Eine letzte Annäherung: Man kann vermuten, dass das Heilige mit einer bestimmten Qualität der Erfahrung zusammenhängt. Derjenige, dem etwas heilig ist, der begegnet diesem „Etwas“ nicht kühl und teilnahmslos. Das Heilige erzeugt Gefühle, in seiner körperlichen oder nur gedanklichen Nähe fühlt man sich berührt, vielleicht empfindet man gar so etwas wie einen heiligen Schauder, Ehrfurcht, Ergriffenheit oder ein Gefühl des Einsseins mit dem Heiligen. Rudolf Otto hat also nicht ganz unrecht, wenn er behauptet, dass das Heilige ein Moment der Ehrfurcht enthalte.100 Ich selbst bin aber der Ansicht, dass es zum einen keiner solch starken Formulierungen bedarf. Man muss nicht erzittern in der Gegenwart des Heiligen. Es bedarf nicht dieser Mischung aus Furcht und Anziehung, die Otto beschreibt, und die er als Bedingung dafür betrachtet, vom „Heiligen“ zu sprechen.

Außerdem kann man Ehrfurcht bzw. einfach starke Gefühle auch angesichts eines Naturerlebnisses, eines Konzertes, einer gelungenen politischen Inszenierung, bei der Betrachtung eines Kunstwerkes oder gar angesichts der Schönheit und Perfektion eines technischen Gegenstandes empfinden. Natürlich muss etwas, das emotional anspricht, das Gefühle von Ehrfurcht erzeugt, deshalb noch nicht heilig sein. Ich vermute aber, dass man das, was jemandem heilig ist, auch daran erkennen kann, dass es ihn emotional anspricht, dass es Gefühle erzeugt, dass es ihn nicht „kalt“ lässt.

100 Otto: Das Heilige

46 Ich möchte kurz die Vermutungen über das Heilige zusammenfassen:

1. Das Heilige erkennt man daran, dass es „heil“ gehalten wird, also unversehrt. Das Heilige wird gewöhnlich nicht lächerlich gemacht, nicht in Frage gestellt oder relativiert. Gegen Spötter und andere Angreifer wird das Heilige verteidigt, insofern der Angriff als relevant betrachtet wird.

2. Das Heilige ist konstitutiv für das Selbstbild derer, die es heilig halten. Wer ein Heiligtum angreift, der greift immer auch den an, dem dieses Heiligtum eben heilig ist.

Falls Gruppen etwas heilig halten, so ist dieses Heilige wichtig für das Selbstverständnis der Gruppe, teils auch für die interne und externe Selbstpräsentation der Gruppe. Man kann das Heilige als eine Art „Basis“ des Selbstverständnisses betrachten, etwas das eben nicht in Frage gestellt wird, das nicht zur Diskussion steht.

3. Wenn jemandem etwas heilig ist, dann oft auch deshalb, weil mit diesem Heiligen Vorstellungen des Glücks bzw. des „richtigen“ und erfüllten Lebens verbunden sind.

Damit einher kann der Glaube gehen, vom Heiligen abhängig zu sein. Auch deshalb schützt und achtet man es.

4. Dem Heiligen begegnet derjenige, für den es heilig ist, nicht kühl. Er ist emotional verbunden mit dem Heiligen, fühlt sich ihm verpflichtet. Dem Heiligen wird je nachdem mit Liebe, Ehrfurcht oder auch Unterordnung begegnet.

Ich habe nicht versucht, den Begriff „heilig“ zu definieren. Statt um Abgrenzung ging es mir in diesem Abschnitt um eine Öffnung des Begriffes, um die Herausarbeitung einiger

„Ansatzpunkte“ für den Umgang mit diesem uneindeutigen Begriff. Dazu war es nötig, deutlich zu machen, dass man „heilig“ nicht als religiösen Begriff verstehen muss. Hilfreich erscheint mir in diesem Zusammenhang der Blick auf die alltägliche Verwendung.

Heilig im skizzierten Sinne kann nun vieles sein. Was meine Interviewpartner als heilig behandeln und bezeichnen und welche Gefühle und Erwartungen sie mit dem Heiligen verbinden, das muss die Arbeit am Material zeigen.

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