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4. Der Umgang mit dem Material: Auswertung und Darstellung

1.5 Der Hof und das Schaffen

Schon beim Blick auf die Bilder, die ich bei Anna Kleis aufgenommen habe, kann man vermuten, dass der Hof und die landwirtschaftliche Arbeit eine nicht unbedeutende Rolle für diesen „Fall“ spielen. Auf einem der Bilder neben dem Fernseher (Bild 4, S. 4) ist der verstorbene Ehemann zu sehen, wie er während einer die Feldarbeit unterbrechenden Vesperpause, im Schweiße seines Angesichts, seinen Kuchen isst. Auch sind die Blumen auf der Theke, die Anna Kleis regelmäßig erneuert, Produkt des Hofes. Und schließlich befinden sich die den verstorbenen Männern gewidmeten Orte in der Küche, nicht etwa im Wohn- oder Schlafzimmer. Die Küche ist das Zentrum des Hauses, nicht nur der Ort an dem man sich meistens aufhält, auch der, an dem ein Gutteil der Arbeit stattfindet.

Auch im Gespräch sind der Hof und die Arbeit, oder wie Anna Kleis sagt: das

„Schaffen“, zentrale Themen. Diese Themen werden von Frau Kleis selbst immer wieder eingebracht. Wenn sie vom Hof und vom Schaffen erzählt, dann nur selten, weil sie auf eine Frage antwortet. Es scheint, als sei Anna Kleis daran gelegen, von persönlichen, emotionalen Themen hin zum Hof, zur landwirtschaftlichen Arbeit, zum „Praktischen“ zu gelangen. Auch flicht sie immer wieder den Hof und die Arbeit betreffende Details, die für den Erzählstrang, in dem sie auftauchen, nicht unbedingt nötig wären, in ihre Schilderungen ein. Wenn sie etwa vom Arbeitsunfall ihres Mannes berichtet, dann erwähnt sie auch, dass man sehr früh einen Schlepper (also einen Traktor) hatte: „...wir haben einen von den ersten gehabt hier...“ (3/18)

An solchen Äußerungen wird ein gewisser Stolz über das Erreichte, die früheren Ausmaße der Landwirtschaft deutlich. Frau Kleis erzählt gerne wie es früher war, vor dem Tod der beiden Männer: „…wir haben ja reichlich, wir haben ja (lang) haben wir also Frucht gepflanzt und Kartoffeln und Mais und all das nicht? ...“ (9/ 21-22). Und bei meinem zweiten Besuch – zur Erinnerung: ich hatte ein Objektiv vergessen – besteht Anna

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Kleis darauf, mir ein Schwarzweissfoto zu zeigen, auf dem der Hof vor dem Umbau Ende der 70er Jahre zu sehen ist.

Der Hof erscheint immer wieder als Quelle von Stolz und Selbstachtung, ebenso das

„Schaffen“. Und natürlich hängt beides zusammen: Der Hof ist der Grund für das „Schaffen“

und das gemeinsame „Schaffen“ ist die Grundlage des Erhalts des Hofes. Das Bild einer arbeitsamen, praktischen, Hof und (reduzierte) Landwirtschaft erhaltenden Frau, findet im Interview immer wieder Bestätigung, etwa in Äußerungen wie: „…wissen sie mir sind ja halt immer so ( ) eigentlich, wir müssen ja schaffen, und wenn da dann mal fort musst musst dich (weißt?) umziehen und und=und=und…“ (8/ 11-13).

Vor dieser Äußerung erzählt Anna Kleis, dass sie über den Sommer keine Blumen zu den Gräbern der beiden Männer bringe. Die Blumen würden in der Hitze zu schnell verwelken. Obwohl Anna Kleis also zuvor ihr eigenes Handeln schilderte, wechselt sie in der anschließenden Äußerung zum „wir“: wir müssen ja schaffen. Diese Stelle ist typisch für das Gespräch mit Anna Kleis. Zum einen wird hier die Abneigung deutlich, sich selbst zu thematisieren, von sich selbst als losgelöst aus dem verwandtschaftlichen Zusammenhang zu sprechen. Lieber spricht sie von sich als Teil einer Gruppe. Und zum anderen charakterisiert Frau Kleis nicht nur sich selbst sondern auch andere, im speziellen die Verwandtschaft, über das Schaffen. Ihre Enkelin etwa habe in der Realschule eine Durchschnittsnote von 1,7 gehabt, „...das Kind ist gescheit... des hätte auch können aufs Gymnasium.“ (8/5-6). Doch die junge Frau entschied sich anders und wurde Altenpflegerin.

Zu ihrer Mutter habe sie gesagt: „...ich will lieber etwas schaffen...“ (8/8). Frau Kleis schließt mit den Worten: „...so ists bei uns hm oje.“ (8/9)

Dass es „bei uns“ so ist und wohl schon länger so war, dieser Eindruck ergibt sich zwangsläufig, wenn man das Interview liest. Auch der Ehemann war jemand, dessen Leben vom Schaffen und „Müssen“ geprägt war. Die Geburt des gemeinsamen Sohnes etwa,

„...war für mein Mann eine Freude dass er auch mal eine Freude hat und nicht immer noch muss.“ (12/13-14). Ähnlich wie der Mann schien auch der Sohn jemand zu sein, der

„immer noch musste.“ Er arbeitete als Pfleger in einer Einrichtung für psychisch Kranke und nebenher noch in der Landwirtschaft: „...am Tag hat er daheim geschafft nachts in (Ortsname) ... wo wo endet das?“ (11/35-36)

Es endete im Selbstmord, Frau Kleis bringt diesen mit der hohen Arbeitsbelastung in Verbindung: Der Sohn kommt von der Nachtschicht und arbeitet anschließend auf dem Hof weiter: „„…aber er hat gewusst, er kann das nicht alles schaffen…und ich glaub es ist einfach zuviel geworden…“ (5/ 13-14). Nach dem Unfall, kurz vor dem Tod des Vaters verspricht ihm der Sohn, den Hof auszubauen, und das obwohl der Vater den Ausbau gar nicht für nötig hält. Und trotz seiner immer auffälligeren schlechten psychischen Verfassung

118 nimmt der Sohn keine Hilfe an „…da hat er gesagt: ja was sagen denn die wenn ich zum Nervenarzt geh (und muss) und schaff in der Nervenklinik nicht?...“ (5/ 7-18)

Die aufgeführten Interviewpassagen sollten verdeutlichen, dass das Schaffen212 auch für Anna Kleis eine durchaus zwiespältige Stellung hat. Einerseits ist das Schaffen als Lebenseinstellung und Kernelement der Lebensführung die Grundlage für den Erhalt und das Erblühen des Hofes und Frau Kleis ist ja auch stolz auf ihre Leistungen, auf ihren Fleiß und darauf, dass sie alles in Ordnung hält, alles „besorgt“. Andererseits aber steht das Schaffen in Verbindung mit dem Tod der beiden Männer. Der Ehemann starb beim Schaffen, der Sohn brachte sich – so Anna Kleis – um, weil er nicht alles schaffen konnte. Und auch die Enkelin sieht Anna Kleis auf einem Weg, der nicht nur Anlass zur Freude gibt. Trotz guter Noten will die Enkelin „etwas schaffen“ und fängt in der Einrichtung an, in der auch der Vater bis zu seinem Freitod arbeitete: „…und jetzt wird sie wie der Papa, jetzt wird sie Krankenschwester…“ (7/ 26).

Das „...so ists bei uns hm oje.“ (8/9), das den Endpunkt der Schilderung des beruflichen Weges der Enkelin darstellt, verdeutlicht die Sorge Anna Kleis`. Die Äußerung enthält ein Moment der Resignation, der Hilflosigkeit. Obwohl man ahnt, dass der Weg nicht der beste ist, vielleicht gar in den Abgrund führt, geht man ihn seit Generationen. Man kann nicht anders, der Arbeitseifer wird als Wesensmerkmal beschrieben, als etwas, dass der Familie innewohnt: “...mir sind ja halt immer so ( ) eigentlich, wir müssen ja schaffen.“

Das „Schaffen“, der Hof und die Landwirtschaft erscheinen als Lebensinhalt und Schicksal, als Aufgabe und Quelle des Unglücks, als Stolz und zu tragende Last. Dass insbesondere das gemeinsame Leben auf dem Hof manchmal eine kaum zu tragende Last war, erzählt Frau Kleis, trotz ihrer offensichtlichen Abneigung, sich zu beklagen, mehrmals: „...wir sind so viele Leute gewesen in dem Haus aber mein Mann hat zu mir gehalten aber da hab ich manchmal auch Tage gehabt ((3sec)) ich wäre gern auf und fort, glauben sie mir das?...“ (12/ 3-5). Dass das (gemeinsame) Schaffen, der Hof und die Landwirtschaft solch zentrale Themen des Interviews darstellen, ist, wie gesagt, umso bemerkenswerter als nicht nach diesen Themen gefragt wurde. Frau Kleis zeigt in dieser Richtung ein starkes Mitteilungsbedürfnis. Es ist zu vermuten, dass für sie das Interview auch die Möglichkeit zum

212 Der Ausdruck „Schaffen“ ist – obwohl oft synonym verwandt – nicht gleichzusetzen mit „Arbeiten“.

Vielmehr weist das „Schaffen“ schon in Richtung einer Lebenseinstellung. In Teilen Süddeutschlands wird mit

„Schaffer“ ein Mensch bezeichnet, dessen Leben von Aktivität, von Arbeit, Fleiß aber auch von Ruhelosigkeit, Selbstaufopferung oder gar Selbstzerstörung durch Arbeit und Vernachlässigung anderer Lebensbereiche geprägt ist. Das „Schaffen“ und der „Schaffer“ haben eine etwas zwiespältige Stellung. Je nach Standpunkt kann man den Schaffer bewundern, man kann ihn aber auch bemitleiden.

Von „Schaffern“ berichtet auch Gertrud Frey, eine meiner anderen Interviewpartnerinnen (Bildband S. 36 – 42).

Sie spricht im negativen Sinne von ihrem Mann sowie ihrer und seiner Verwandtschaft als „Schaffern“: Diese schaffen nur, haben keinen Sinn fürs Schöne, brauchen all das nicht, was Frau Frey braucht.

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Wiederauflebenlassen besserer Zeiten ist, Zeiten, in denen der Hof in voller Blüte stand und noch alle zusammen ins Feld gingen.

Ich möchte versuchen, anhand einer bereits aufgeführten, kleinen aber aussagekräftigen Äußerung die Zentralität aber auch Zwiespältigkeit dieser Themen für Frau Kleis noch etwas deutlicher zu machen. Die Stelle lautet: „…ja es muss alles besorgt sein.“ (8/ 22). In dieser Äußerung, die als Endpunkt einer Schilderung der Pflege und Erneuerung der Blumen auf der Theke dient, ballt sich vieles zusammen: Der durch das „muss“ ausgedrückte Zwang ebenso wie eine im betonten „ja“ sowie in der Stellung der Äußerung als Schlusspunkt oder Resümee des Gesagten aufscheinende Wertung. Der Satz ist in seiner Formulierung definitiv, er unterscheidet sich maßgeblich von einem Satz der Art „Ich versuch halt, alles möglichst gut zu besorgen“, er stellt eine Regel dar, Widerspruch oder die Frage, warum denn alles besorgt sein müsse, wäre unsinnig. Dass alles besorgt sein muss, dass man sich nicht mit der Schilderung eigener Befindlichkeiten aufhält und stattdessen das Augenmerk aufs Praktische, auf das Immer-weiter (auch nach heftigen Schicksalsschlägen) richtet, dieses Ideal prägt das Verhalten Frau Kleis im Interview. Auf die Schilderung des Selbstmordes des Sohnes folgt die Behandlung der Beerdigungsumstände und die Frage an den Interviewer, ob er sich vorstellen könne, wie auf so einem Hof die Männer fehlen. Der Schmerz wird nicht in eigenen Worten geäußert sondern in ein Sprichwort gekleidet: „...ha lieber Gott... du sollst uns geben nach dieser Welt ein bessres Leben (5/28-29).

Man könnte nun annehmen, dass in dieser durchgängig starken Gewichtung des Praktischen, dessen was besorgt sein muss, des immer-weiter, eine gewisse Gefühlskälte zum Ausdruck kommt. Dem ist, betrachtet man das gesamte Interview, nicht so. Vielmehr erscheint Frau Kleis als ein Mensch der erstens nicht jammern will und der zweitens die eigene Person, etwaige Bedürfnisse, Befindlichkeiten oder Sentimentalitäten nicht in den Vordergrund rückt. Ideale wie „Selbstverwirklichung“, „Aufmerksamkeit für die eigenen Bedürfnisse“ oder „Individualismus“ sind nicht Sache und nicht Thema von Anna Kleis, werden gar von ihr verurteilt.

Diese Haltung wird auch deutlich, betrachtet man die Religiösen Ecken, die sich Anna Kleis eingerichtet hat. Die Zusammenstellungen drücken nicht Individualität im Sinne von Besonderheit oder Originalität aus, sie bleiben beim Hergebrachten, wirken protestantisch karg, schlicht und ordentlich, ermöglichen die herkömmlichen Handlungen gegenüber den Verstorbenen, die man zumeist mit dem Grab assoziiert. Die Engel, dieses kleine katholische Einsprengsel, scheinen Anna Kleis fast peinlich zu sein als ich sie darauf anspreche.

120 1.6 Genügsamkeit

Gegen Mitte unseres Gesprächs sagt Frau Kleis etwas, das zunächst unscheinbar erscheint, jedoch für einen bestimmten Aspekt ihres Verhältnisses zu sich und der Welt ein gutes Beispiel darstellt:

Sie habe „...jetzt erst gestern wieder mit einer Frau geschwätzt...“ (6/ 18-19) die sie lange nicht mehr gesehen hatte. Sie sei extra, so Anna Kleis, zu ihr „runter ins Dorf“

gefahren. Diese 86jährige Frau, die Schwester eines Nachbarn, habe sie schon lange nicht mehr gesehen und es habe ihr „...jetzt gerade gut getan dass ich die Frieda wieder einmal gesehen hab... an einem schönen Tag da sterben sie als einmal dann kommt man noch schnell auf den Friedhof...“ (6/24-26).

Diese Stelle ist eine von nur zwei Stellen, an denen Anna Kleis deutlich davon spricht dass ihr etwas gut tut bzw. gut tat. Die andere findet sich etwas später im Gespräch. Frau Kleis erzählt, was sie bei ihrer den Männern gewidmeten Religiösen Ecke tut. Unter anderem zündet sie die Kerzen an: „...ja also Kerzle zünd ich gern an... ich sag (auch) (ich weiss)

ich hab manchmal den ganzen Sonntag wenn ich daheim bin hab ich (da das) Kerzle ( ) das hab ich gern... und ich mein als, wenn irgendwo ein Licht ist dann ist Wärme und

weiss nicht (lacht)... das bin halt ich, jemand anderes denkt wieder anders und... na ja.

(9/1-5)

Beide Stellen verbindet nicht nur die Tatsache dass sie die einzigen sind, in denen Anna Kleis von etwas erzählt was ihr „gut tut“ bzw. was sie gerne macht, beide Stellen haben auch einen ähnlichen Aufbau und diesem Aufbau scheint zu Grund zu liegen, dass „sich etwas Gutes tun“ für Anna Kleis kein akzeptables Ziel ist, eher etwas fast peinliches. So kann die Schilderung dessen, was ihr gut tat bzw. was sie gerne macht auch nicht für sich stehen gelassen werden. Im ersten Beispiel folgt eine Art Begründung: Die alte Frau könnte ja sterben und dann kommt man nur noch zur Beerdigung. Die Tatsache, dass das Gespräch Frau Kleis gut tat, wird nicht als Selbstzweck stehen gelassen. Das Treffen mit der 86jährigen wird damit begründet, dass diese ja schon in einem Alter sei, wo der Tod wahrscheinlicher werde.

Im zweiten Beispiel ist das gute Gefühl, das Frau Kleis beim Anzünden der Kerzen empfindet, zwar Selbstzweck: „das hab ich gerne“. Doch dann lacht Frau Kleis, wirkt fast verlegen und „entschuldigt“ sich damit, dass sie eben so sei. Wenn jemand so ist, dann kann er nichts dafür, auch nicht für die Sentimentalität des Kerzen-Anzündens. Dass man etwas für sich tut, etwas das man mag, das man genießt, das scheint Frau Kleis fast als etwas

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Minderwertiges, etwas Peinliches zu betrachten, sie sieht darin keinen großen Wert, eher eine Schwäche.213

Andere Äußerungen Anna Kleis` stützen diese Einschätzung. In der zweiten Hälfte des Gespräches schildert sie die gemeinsame landwirtschaftliche Arbeit, erzählt vom Pflügen am Hang mithilfe von Schlepper und Seilwinde. Ihr Mann sei unten am Pflug gewesen, sie selbst habe den Schlepper bedient. Dabei sei sie durch die Vibrationen des Motors und die Abgase – „das Zittern und der der Dampf vom Auspuff“ (9/33) – mit der Zeit immer müder geworden. Sie habe dann ihren Mann gefragt, ob man nicht tauschen könne. Auf die Schilderung folgt, an mich gerichtet: „...nicht dass ich hab etwas wollen sagen nur um das wieder ein wenig Umstellung (ist)...“ (9/ 32-33).

Das „nichts sagen“ ist zu verstehen als „sich nicht beschweren“. Frau Kleis zeigt sich im Gespräch als eine Person, die die Beschwernisse, die das Leben für sie bereit hält, annimmt, erträgt und meistert, ohne lange mit ihrem Schicksal zu hadern. Man kann annehmen, dass das Leid für Anna Kleis nicht nur zu tragende Last ist. Frau Kleis ist auch stolz darauf, dass sie ihr Leid trägt ohne sich groß zu beschweren. Das tapfere Ertragen ist ein Ideal.

Gegen Ende des Interviews findet sich eine Besonderheit: Anna Kleis, die sonst sehr gefasst erzählt, wird fast wütend. Es geht um das Thema „Kirchenaustritt“ und darum, dass sich manche nach dem Tod des Partners jemand neues suchen. Beides verurteilt Anna Kleis: „...manche in meinem Alter haben kein Mann mehr dann haben sie wieder ein Freund aber des ist nichts... ich hab lange einen Mann gehabt und wir sind gut gewesen und haben miteinander geschafft“ (9/12-15). Und etwas später zum Thema Kirchenaustritt: „...des tät mir im Schlaf nicht einfallen dass ich so was will machen, warum machen da die Leute? denen wo des machen denen geht’s zu gut, die sollten auch mal müssen.“ (12/16-18)

Die Aussage, dass es den Leuten „zu gut“ gehe, taucht mehrmals auf. So kommt Anna Kleis beispielsweise vom Thema Kirchenaustritt zum Thema Scheidung: „...hä? Warum lassen sich so viel ein Jahr so und soviel heiraten und lassen sich heut wieder scheiden?“ (12/4-5). Auch denen, die sich scheiden ließen, gehe es zu gut.

Die drei genannten Themen sind diejenigen, bei denen Frau Kleis’ Äußerungen ärgerlich und verurteilend wirken. Der Grund dafür scheint mir, dass alle drei Handlungen – der Kirchenaustritt, die Scheidung, das Sich-Einlassen mit einem neuen Mann – das Individuum und dessen Bedürfnisse als Ausgangspunkt haben und damit den Idealen „Sich nicht beschweren“ , „Sich nicht wichtig nehmen“ und „Das Schicksal tapfer ertragen“

widersprechen. Sie stehen für eine Lebensauffassung, die dem Selbstbild Anna Kleis entgegen steht. Wer sich scheiden lässt, anstatt sein Schicksal zu ertragen, wer sich einen

213 Der Gegensatz zu dieser Einstellung findet sich z.B. bei Silke Maurer, bei der die Aufforderung „Tu dir gut“

(und in kleinerer Schriftgröße: „mit ätherischen Ölen) an der Wand hängt (Bild 5, S.128).

122 neuen Mann sucht, anstatt das Leben als Witwe auf sich zu nehmen, wer sich und seine Unzufriedenheit so wichtig nimmt, dass er aus der Kirche austritt214, der handelt individualistisch, gegen die Gemeinschaft und gegen das Althergebrachte. Mit dem „Denen geht’s zu gut“, das als Begründung für das verurteilte Verhalten genannt wird, knüpft Anna Kleis die Verbindung zum eigenen Leben. Dass sie ein hartes Leben hatte und hat und dass sie dieses Leben mit seinen Schicksalsschlägen meistert ohne sich groß zu beklagen, ohne auf ihre Bedürfnisse, ihr eigenes Gefühlsleben allzu großen Wert zu legen, daraus schöpft Anna Kleis Selbstachtung.