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TEIL 1: DIE 1860ER BIS 1950ER JAHRE: DIE UNTERSTÜTZUNG VON BEDÜRFTIGEN

5. Ausdifferenzierungen und Umstrukturierungen im Zuge der neuen

5.1. Konstitution der Gemeindefürsorgekommissionen und Aufbau

Auf Gemeindeebene galt es zunächst, die Gemeindefürsorgekommissionen zu bestellen und die lau-fenden «Fürsorgefälle» von den Heimat- an die Wohnsitzgemeinden zu übertragen. Dieser Wechsel wurde von den Vorstehern der Kommissionen im Nachgang als relativ problemlos bewertet. Inner-halb eines Inner-halben Jahres nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes wurden 53 «alte Fälle» von den Heimat- auf die Wohnsitzgemeinden übertragen.2 Westmeyer koordinierte die dafür notwendigen Sitzungen und bereitete diese auch vor. Die Fürsorgekommissionen bestanden aus zwei oder vier Mitgliedern und wurden 1967 erstmals für drei Jahre gewählt.3

In den Fürsorgekommissionen waren sowohl Männer als auch Frauen aus unterschiedlichen Berufsgruppen, wie ein Bürgerheimverwalter, ein Lehrer, ein Kaufmann oder eine Hausfrau, ver-treten. Bei den Frauen wurde, anders als bei den Männern, durch die Verwendung der Anrede Frau oder Fräulein zusätzlich deren Zivilstand aufgeführt.4 Mit Ausnahme von Planken und Schellenberg waren 1967 in allen Fürsorgekommissionen jeweils eine bis zwei Frauen vertreten, wofür im Ge-setz (Art. 7) eine entsprechende Bestimmung angebracht worden war, die dies, trotz fehlender po-litischer Mündigkeit, ermöglichte. Nach den ersten Erneuerungswahlen fehlte 1970 eine Frauen-vertretung allein noch in Schellenberg.5

Die wirtschaftliche Fürsorge, welche durch die Fürsorgekommissionen wahrgenommen wurde, beinhaltete eine breite Palette von Unterstützungsleistungen, die das SHG wie folgt um-schrieb:

«Die wirtschaftliche Fürsorge bemüht sich insbesondere darum, dass

a) bedürftige Kinder und Jugendliche eine gute Pflege, eine Erziehung in christlichem Sinne und eine ihren Fähigkeiten entsprechende existenzsichernde berufliche Ausbildung erhalten;

b) Obdachlose und mangelhaft Untergebrachte angemessene Unterkunft finden;

c) bedürftigen erwerbsfähigen Arbeitslosen geeignete Arbeit vermittelt wird;

d) bedürftige Kranke, Verunfallte und Wöchnerinnen die nötige Pflege und ärztliche Behandlung erhalten;

e) Bedürftigen rechtzeitig die nötige zahnärztliche Behandlung zuteil wird;

f) körperlich oder geistig Behinderte soweit möglich die Ausbildung oder Umschulung erhalten, die sie befähigt, sich sozial und wirtschaftlich einzugliedern oder wiedereinzugliedern;

1 LI LA RF 318/091: Genossenschaft für sozial-psychiatrische Betreuung, Gründung: Organisation der Fürsorge im Fürstentum Liechtenstein. Information anlässlich der Vorsteherkonferenz vom 05.09.1973, S. 1.

2 LI LA RF 300/091: Fürsorgeamt (1968) Bericht. Wirtschaftliche Fürsorge im Fürstentum Liechtenstein 1967, S. 1.

3 LI LA RF 298/091: Schreiben Westmeyers an den Regierungschef G. Batliner vom 20.03.1967.

4 LI LA RF 304/091: Fürsorgeamt (1973), Schreiben des Liechtensteinischen Fürsorgeamtes an den Regierungsrat Andreas Vogt vom 24.03.1970, und ebd., Schreiben des Liechtensteinischen Jugend- und Fürsorgeamtes an die Gemeindevorstehungen der 11 Liechtensteinischen Gemeinden vom 27.01.1973.

5 LI LA RF 304/091: Schreiben des Liechtensteinischen Fürsorgeamtes an den Regierungsrat Andreas Vogt vom 24.03.1970.

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g) Alkoholgefährdeten und Alkoholkranken frühzeitig Fürsorge und Behandlung durch Fachleute (Fürsorger, Ärzte) oder in Heilstätten zuteil wird;

h) unverheiratete Mütter die Möglichkeit finden, pflichtgemäss selber für ihr Kind zu sorgen;

i) Bedürftige mit unheilbaren Charaktermängeln, die sich oder andere gefährden, ihrem Zustand entsprechend betreut, beschäftigt oder versorgt werden;

k) dauernd arbeitsunfähige Bedürftige angemessene Familien- oder Anstaltspflege erhalten.»6

Ferner: Die wirtschaftliche Fürsorge trägt die Kosten einer schicklichen Bestattung verstorbener bedürftiger Personen.»7

Zu den Aufgaben der Fürsorgekommissionen gehörte auch die Bewährungshilfe, das heisst die Be-stellung von Bewährungshelfern, die Erteilung von Weisungen im Rahmen des Mahnverfahrens und die «Verhängung von Gasthaus- und Alkoholverboten.»8 Die Bewährungshilfe in Kombination mit einer bedingten Entlassung, auch bei administrativen Internierungen, war ein mächtiges Werk-zeug zur Einforderung konformer Lebensweisen, denn sie konnte jederzeit aufgehoben werden, falls eine Person «versagt» hatte.9 Dabei sollten die Fürsorgekommissionen sich an der «Förderung des Wohlergehens» der bedürftigen Personen orientieren, in unterstützender Weise und auf das Ziel einer eigenständigen Lebensweise hinarbeitend.10 Zur Verhandlung entsprechender Anträge fanden im ersten Jahr ihres Bestehens 1967 in den elf Gemeinden insgesamt 25 Sitzungen der Für-sorgekommissionen statt, bei denen insgesamt 100 Anträge auf wirtschaftliche Fürsorge positiv beantwortet wurden, und die mehrheitlich in der «Altershilfe» sowie der «Erwachsenen- und Fa-milienhilfe» eingeordnet wurden11:

6 SHG 1965, Art. 12.

7 Ebd., Art. 13.

8 LI LA RF 318/091: Genossenschaft für sozial-psychiatrische Betreuung, Gründung: Organisation der Fürsorge im Fürstentum Liechtenstein. Information anlässlich der Vorsteherkonferenz vom 05.09.1973, S. 2. Die entspre-chende Verordnung trat 1973 in Kraft. Verordnung über das Gasthaus- und Alkoholverbot 1973. Diese wurde mit dem neuen Fürsorgegesetz 1984 aufgehoben. LTP, Sitzung vom 20.03.1983, S. 69. Die dortige Diskussion verweist gleichzeitig darauf, dass die Frage nach dem künftigen Umgang mit Alkohol- und Drogenmissbrauch noch nicht beantwortet war. Ebd., S. 70–71.

9 SHG 1965, Art. 51. Vgl. auch Häsler Kristmann, 2019.

10 LI LA V 186/1: Fürsorgekommission – Gesetzliche Bestimmungen, Aufgaben, Protokolle 1965-1969. Orientierung über die Fürsorgekommissionen der Gemeinden, 05.04.1967, S. 1. Nipp, 2014, S. 44.

11 Rechenschaftsbericht 1967, S. 107.

Diagramm 3: Anträge auf wirtschaftliche Fürsorge mit positivem Entscheid (1967)

Anmerkung: Ein Jahr später wurde für das Jahr 1967 von 182 «Betreuungsfällen» bei der wirtschaftlichen Unterstüt-zung gesprochen. Wo die Linie zu bereits bestehenden Betreuungsverhältnissen zu ziehen ist, wird aus den Quellen nicht ersichtlich.

Quelle: Rechenschaftsbericht 1967, S. 107.

Die erbrachten finanziellen Leistungen und Sachleistungen sollten den Unterstützten laut Gesetz ein «menschenwürdiges Dasein» ermöglichen.12 Dafür wurden nach Inkrafttreten des SHG von der Regierung Richtsätze für die Bemessung von Fürsorgeleistungen festgelegt, die sich auf individuelle Bedürfnisse anpassen liessen und unterschiedliche Ansätze, abhängig von der Familien- und Wohn-situation, beinhalteten. Hinzu kamen Beiträge an Taschengeld und weitere Zusätze wie Kleidung, Heizung, Gesundheitskosten oder Sozialversicherungen. Für Personen in Heimen und Anstalten oder an privaten Pflegeplätzen bestanden keine Richtsätze. Die Kosten für die Unterbringung in Einrichtungen orientierten sich an den von diesen verlangten Betreuungstaxen und entsprechen-den vertraglichen Vereinbarungen.13 Die wirtschaftliche Fürsorge und weitere Sachleistungen soll-ten, laut der entsprechenden Weisung von 1967, nicht nur ein Existenzminimum garantieren, dass das Überleben sicherte, sondern ein «soziales Existenzminimum» und damit in «Relation zum all-gemeinen Lebensstandard» stehen.14

Auch innerhalb des Jugend- und Fürsorgeamtes stand das erste Jahr im Zeichen des Aufbaus, sowohl in organisatorischer als auch in infrastruktureller Hinsicht. 1967 zog das Amt von Vaduz nach Schaan, wo es neu im Postgebäude untergebracht wurde. Grund für den Umzug war ein grös-serer Platzbedarf aufgrund der steigenden Zahl der Mitarbeitenden, zu denen neu auch Prakti-kant*innen gehörten.15 Der Amtsleiter war in den folgenden Jahren darum bemüht,

liechtensteini-12 LI LA RF 318/091: Genossenschaft für sozial-psychiatrische Betreuung, Gründung: Organisation der Fürsorge im Fürstentum Liechtenstein. Information anlässlich der Vorsteherkonferenz vom 05.09.1973, S. 2.

13 LI LA RF 310/091: Weisung betreffend Richtsätze für die Bemessung von Unterstützungen vom 16.04.1967. Diese wurden bereits nach drei Jahren der Teuerung angeglichen. LI LA RF 304/091: Schema zur Berechnung des Exis-tenzminimums vom 09.11.1970.

14 LI LA RF 310/091: Weisung betreffend Richtsätze für die Bemessung von Unterstützungen vom 16.04.1967, Art. 1.

15 LI LA V 141/396: Organisation Fürsorgeamt, Ressortantrag vom 29.11.1966.

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sches Personal einzustellen, was mitunter dazu führte, dass zeitlich begrenzte Anstellungsverhält-nisse für Ausländer*innen vereinbart wurden.16 Personalmangel und die damit verbundene Suche nach geeigneten Mitarbeitenden finden in der schriftlichen Überlieferung mehrfach ihren Nieder-schlag, und führten unter anderem dazu, dass, in Ermangelung von Alternativen, Mitarbeitende auch nach Erreichen des Pensionsalters tätig blieben.17 Unter diesen Vorzeichen förderte der Amts-leiter die fachliche Ausbildung, insbesondere von Liechtensteiner*innen, auch durch die Über-nahme von Weiterbildungskosten.18 Die angestossenen organisatorischen und infrastrukturellen Veränderungen beinhalteten auch eine Systematisierung der Verwaltungsabläufe, worunter die re-gelmässige und ausführliche Berichterstattung zuhanden der Regierung zu zählen ist sowie eine systematische Aktenführung.19 Unter diesen Vorzeichen standen die darauffolgenden Jahre im Zei-chen der Professionalisierung und Ausdifferenzierung des Angebots im Sozialwesen, bei denen das angestrebte Subsidiaritätsprinzip einzuhalten versucht wurde, was, wie etwa bei der Neuorganisa-tion der Altershilfe, an seine Grenzen stossen sollte und vom Amtsleiter, gerade mit Blick auf die Kleinheit des Landes, bereits früh zur Diskussion gestellt wurde.20