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1. Einleitung

1.4. Anspruch und Aufbau der Studie

Von den Sozialversicherungen schied die Fürsorge auch der Umstand, dass sie keine ausschliesslich staatliche Angelegenheit war. Fürsorge war stets von staatlichen und privaten – darunter gerade auch kirchlichen – Akteuren getragen, in unterschiedlichen Konstellationen des Neben- und des Miteinanders. Die Darstellung trägt diesem Umstand Rechnung. Allerdings liegt aus zwei Gründen ein deutlicher Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Staat als Gewährleister von Fürsorge. Zum einen richtet das Erkenntnisinteresse an den Institutionen des Fürsorgewesens den Blick entspre-chend aus, da der Staat die mit Abstand wichtigste Instanz bei der Definition der «rules of the game»

war. Zum anderen geben die Quellenbestände, die im Rahmen des Forschungsprojekts bisher be-arbeitet und dieser Darstellung zugrunde gelegt werden konnten, den Fokus weitgehend vor. Die Bestände des Liechtensteinischen Landesarchivs schliessen zwar Perspektiven auf private Akteure der Fürsorge keineswegs aus. Ohne in privaten und Gemeindearchiven Unterlagen gesichtet und ausgewertet zu haben, ist der Anspruch einer systematischen Behandlung privater Träger indessen

34 Sachße/Tennstedt, 1980, S. 14.

35 Sachße und Tennstedt haben in Bezug auf dieses Einkommen ausschliesslich von Lohnarbeit gesprochen. Ebd. Das ist auf den allgemeinen Deutungsrahmen der bürgerlichen Formen politischer Herrschaft und wirtschaftlicher Produktion zurückzuführen, in dem die Entwicklung der Armenfürsorge von ihnen analysiert worden ist. Dieser Fokus greift aber mit Blick auf ländliche Regionen zu kurz.

36 Zum rechtsgeschichtlichen Aspekt des Themas der Sozialversicherungen in Liechtenstein lässt sich auf die ein-schlägige Arbeit von Hilmar Hoch verweisen, 1990.

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nicht angemessen einzulösen. Mit Blick auf die Staatszentriertheit dieser Studie erscheint eine wei-tere begriffliche Klarstellung angebracht. Im Folgenden werden unter «Staat» sowohl die Landes- als auch die Gemeindeebene der politischen Ordnung verstanden. Dies geschieht des Umstandes ungeachtet, dass im liechtensteinischen Kontext historisch und teilweise bis in die Gegenwart viel-fach vom Staat die Rede gewesen ist, um ausschliesslich die nationale Ebene zu bezeichnen, nicht selten gerade im Gegensatz zur Gemeindeebene. Wo Akteure und Akteurinnen auf Gemeindeebene in einer amtlichen oder behördlichen Funktion auftraten, werden sie als staatliche Akteurinnen und Akteure behandelt, von den Ortsvorstehern über die Mitglieder der Gemeinderäte bis zu den Ar-menpflegern.

Was die institutionellen und organisatorischen Entwicklungen im Fürsorgewesen für die Ak-teure und Akteurinnen bedeuteten, die die Institutionen und Organisationen schufen und in diesem Rahmen fürsorgerisch tätig waren, aber auch für die Menschen, die Unterstützung erhielten oder auch nicht, und schliesslich auch für diejenigen Teile der Gesellschaft, die der Fürsorge nicht be-durften, aber staatliche Leistungen in anderen Bereich in Anspruch nahmen und die Fürsorge unter Umständen mitfinanzierten, steht mit im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses des Forschungspro-jekts. In der vorliegenden Arbeit soll und kann dieses Forschungsinteresse indes noch keinen Nie-derschlag finden. Zur Darstellung gebracht werden sollen an dieser Stelle zunächst einmal die in-stitutionellen und organisatorischen Aspekte der Entwicklung des Fürsorgewesens, noch ohne sys-tematisch nach strukturellen Ursachen und gesellschaftlichen Einbettungen, nach Motivlagen der beteiligten Akteure und Akteurinnen, nach der fürsorgerischen Praxis oder nach den Auswirkun-gen für die bedürftiAuswirkun-gen und armen Menschen am Rande der Gesellschaft fraAuswirkun-gen zu können. Für eine derartige umfassende, multiperspektivische Betrachtung müssen noch ungleich mehr Quellen un-terschiedlicher Art und Provenienz ausgewertet und teilweise auch erst noch produziert werden.

Die Studie dokumentiert die erste Phase eines längeren Forschungsprozesses. Sie präsentiert erste, ebenso grundlegende wie ausschnitthafte Ergebnisse dieser Arbeit. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der analytische Zugriff auf das Thema im Sinn der zentralen Erkenntnisinteressen des Projekts an einer «Gesamtschau» auf die Geschichte der Fürsorge in ihren nationalen und transna-tionalen Rahmungen sowie an der Bedeutung fürsorgerischer Politik und Praxis für die involvier-ten Menschen kann erst in einem nächsinvolvier-ten Schritt erfolgen. Der hier gewählte Ansatz ist in erster Linie ein phänomenologischer. Das heisst, er zielt auf die Schaffung einer Grundlage für die weitere geschichtswissenschaftliche Analyse durch die möglichst vorbehaltlose Betrachtung des intentio-nalen Gegenstandes fürsorgerischer Institutionen und Organisationen. Entsprechend ist die Be-schreibung die vorherrschende Form dieser Darstellung, auf deren Basis die historischen Entwick-lungen der Fürsorge dann weiter erfassbar gemacht werden sollen.

Was im Folgenden präsentiert wird, ist keineswegs alles vollkommen neu. Es sind gerade die institutionellen und organisatorischen Aspekte gewesen, auf welche bisherige Veröffentlichungen zu ausgewählten Teilen der Geschichte des liechtensteinischen Fürsorgewesens geblickt haben. Da-bei ist aber vieles wenig beachtet geblieben. Einiges ist gar nicht zur Kenntnis genommen worden.

Vor allem aber hat bisher eine Darstellung gefehlt, welche die Ereignisse, die die institutionelle und organisatorische Entwicklung des Fürsorgewesens ausgemacht haben, systematisch und nicht nur punktuell erfasst.37 Die Einordnung dieser Ereignisse in ihren Kontinuitäten und Wandlungen über einen längeren Zeitraum erlaubt es, bisher an der Oberfläche behandelte Themen einer vertieften Betrachtung und ihre bisherigen Darstellungen einer Überprüfung zu unterziehen.

Der Aufbau der Studie ist ein chronologischer. Dabei ist der Text zunächst in zwei Teile auf-geteilt. Der erste, von Stephan Scheuzger verfasste Teil widmet sich der Zeit von den 1860er Jahren bis in die 1950er Jahre. Er ist wiederum in zwei Hauptkapitel untergliedert, von denen sich Kapitel 2 mit den ersten rund fünfzig Jahren der Entwicklung befasst. Dabei wird der Fokus zunächst auf die 1860er Jahre gerichtet als Jahrzehnt, in dem sich die fürsorgepolitischen Entwicklungen in

37 Eine sehr knappe Zusammenschau, in der ausgewählte wesentliche Stationen der Geschichte der Fürsorge in Liechtenstein aufgezählt werden, bietet im Format des Lexikon-Beitrags Frick, 2011d.

Liechtenstein in einer bemerkenswerten Weise verdichteten (Kap. 2.1). Die Entwicklungen von den 1870er Jahren bis in die 1910er Jahre werden danach einerseits mit Blick auf das Anstaltswesen – das heisst im Wesentlichen auf die Armenhäuser als das organisatorische Rückgrat der Fürsorge-politik in diesen Jahrzehnten – beschrieben (Kap. 2.2). Andererseits werden die institutionellen Kontinuitäten und Veränderungen in diesem Zeitraum betrachtet (Kap. 2.3). Kapitel 3 nimmt sich danach der Periode von den 1910er Jahren, ausgehend vom allgemeinen Bruchereignis des Ersten Weltkriegs, bis in die 1950er Jahre an. Dieser zeitliche Abschnitt wird in drei noch einmal chrono-logisch geordneten Unterkapiteln behandelt: die Zeit vom Ersten Weltkrieg bis Ende der 1920er Jahre (Kap. 3.1), die Jahre vom Ausbruch der Weltwirtschaftskrise bis Ende der 1930er Jahre (Kap.

3.2) und schliesslich die Jahre vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bis in die unmittelbare Nach-kriegszeit (Kap. 3.3).

Der zweite, von Loretta Seglias verfasste Teil deckt die Entwicklungen von den 1960er Jah-ren bis in die 1980er Jahre ab. Er ist in drei Kapitel gegliedert, wovon sich das erste den Ereignissen der 1960er Jahre widmet, mit einem Blick auf das zunehmende Engagement nichtstaatlicher Orga-nisationen in der im internationalen Vergleich schwach ausgebauten freiwilligen Fürsorge (Kap.

4.1). Gleichzeitig wurden im Rahmen eines raschen Ausbaus sozialstaatlicher Sicherung die Bestre-bungen, das Armenwesen zu revidieren, auf politischer Ebene erneut aufgenommen (Kap. 4.2) und führten im Zuge eines noch nie da gewesenen wirtschaftlichen Aufschwungs und sich manifestie-render neuer Ansprüche an sozialstaatliche Instrumente zum liechtensteinischen Sozialhilfegesetz von 1965 (Kap. 4.3). Gegenstand des zweiten Kapitels sind die im Anschluss an die neue Gesetzge-bung erfolgten organisatorischen Anpassungen auf Gemeindeebene (Kap. 5.1) und auf Landes-ebene (Kap. 5.2). Eine damit verbundene Ausdifferenzierung zeigte sich unter anderem in Fragen der Altersfürsorge und damit in der seit langem geforderten Reorganisation der Bürgerheime (Kap.

5.3). Der Auf- und Ausbau der staatlichen Sozialhilfe blieb dabei nicht von Herausforderungen ver-schont, welche die Zeit bis Ende der 1970er Jahre prägen sollten (Kap. 5.4) Das dritte Kapitel nimmt die Revisionsbestrebungen seit Mitte der 1970er Jahre auf, die im Zuge der Ratifizierung der Euro-päischen Menschenrechtskonvention auf zunehmende internationale Verflechtungen und Verän-derungen hinsichtlich der Wahrung von Grundrechten auch im Sozialwesen verweisen (Kap. 6.1).

Zudem prägten veränderte wirtschaftliche, aber auch gesellschaftliche Voraussetzungen die politi-sche Diskussion (Kap. 6.2), die auch auf organisatoripoliti-scher Ebene in eine – nach Möglichkeit im Land angebotene – koordinierte «psychosoziale Grundversorgung» (Kap. 6.3) mündete und die sich in gewisser Weise als Konsolidierung der Ende der 1960er Jahre angestossenen Entwicklungen lesen lässt.

Dass die Darstellung in der vorliegenden Studie in den 1980er Jahren endet – und nicht wie der Untersuchungszeitraum des Forschungsprojekts in den 2010er Jahren –, ist auch durch den Stand der laufenden Arbeiten und, verbunden damit, den bisher möglichen Quellenzugang bedingt.

Für die vertiefte historische Rekonstruktion der Entwicklungen bis in die jüngste Zeitgeschichte ist die Konsultation von Sach- und Personenakten unerlässlich, die einer Sperrfrist unterliegen. Für Bewilligungen, Regierungs- und Verwaltungsakten einzusehen, die im Liechtensteinischen Lan-desarchiv aufbewahrt werden und die jünger als 30 Jahre (Sachakten) beziehungsweise 80 Jahre (Personenakten) sind, ist die Landesregierung zuständig. Zur soliden Begründung eines Antrags auf Aufhebung der Sperrfrist für bestimmte Quellenbestände ist detaillierte Kenntnis der Quellen-lage und der relevanten Bezüge notwendig. Auch werden im Rahmen des Projekts aus forschungs-pragmatischen Gründen nur wenige Anträge, dafür aber für eine grössere Zahl von Dokumenten gestellt. Damit konnte Archivmaterial, das den Sperrfristen unterliegt, in der vorliegenden Studie noch nicht berücksichtigt werden.

Eine Besonderheit der Aktenaufbewahrung im Liechtensteinischen Landesarchiv hat eben-falls Einfluss auf die Behandlung des Gegenstandes vor allem im zweiten Teil der Studie gehabt. Die Regierungsprotokolle unterliegen, auch wo es sich um Sachakten handelt, einer Sperrfrist von 80 Jahren, da Sachakten und Personenakten im Fall dieser Protokolle in gebundener Form zusammen

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archiviert worden und physisch nicht voneinander zu trennen sind. Teilweise gilt dies auch für Ver-waltungsakten, wenn in einzelnen Dossiers Sach- und Personenakten zusammen abgelegt worden sind. Aushandlungsprozesse innerhalb der Regierung scheinen deshalb nur indirekt, etwa in Be-richten gegenüber dem Landtag oder bei in Auftrag gegebenen Gutachten, auf. Generell ist es für die Zeit ab den 1950er Jahren bisher ungleich schwieriger gewesen, Unterlagen hinzuzuziehen, die organisatorische Entwicklungen und Folgen davon anhand von konkreten Ereignissen von Fürsor-gefällen besser verständlich machen.

Mit der hier vorgelegten Publikation wird das Ziel verfolgt – dies sei noch einmal unterstri-chen –, die mit dem limitierten zeitliunterstri-chen Aufwand der ersten Phase eines inhaltlich ungleich brei-ter angelegten Forschungsprojekts rekonstruierten ereignisgeschichtlichen Grundlagen hinsicht-lich der Entwicklungen der «rules of the game» und der von diesen insbesondere gesetzhinsicht-lichen Nor-men angeleiteten Organisationen des Fürsorgewesens zur Darstellung zu bringen. Es ist, wie ge-sagt, bewusst darauf verzichtet worden, an dieser Stelle auf die fürsorgerische Praxis einzugehen wie auch auf andere Voraussetzungen, die dieser zugrunde lagen. Dem daraus resultierenden und der gestellten Aufgabe – aus der Sicht der Verfasserin und des Verfassers – angemessenen deskrip-tiven Charakter dieser Schrift entsprechend, erfolgen Analysen und Deutungen der präsentierten Ereignisse und Prozesse vor dem Hintergrund allgemeiner Forschungsstände erst höchstens punk-tuell. Dasselbe gilt für die Einordnung der dargestellten normativen und organisatorischen Aspekte der liechtensteinischen Fürsorgegeschichte in die breiteren politischen, wirtschaftlichen und ge-sellschaftlichen Entwicklungen des Landes. Da die allgemeine Geschichte Liechtensteins mit Blick auf die Art und den Umfang des Textes bewusst nur knapp und am Rande in die Darstellung einge-flochten wird, ist die Chronologie im Anhang (Kap. 9) zweigeteilt. Zum einen listet sie die in insti-tutioneller und organisatorischer Hinsicht wesentlichen Ereignisse der Entwicklung des Fürsorge-wesens in Liechtenstein auf. Zum anderen macht sie Angaben zu ausgewählten Ereignissen in der Geschichte des Landes – und zu einigen wenigen Ereignissen jenseits dessen Grenzen –, die für die betrachteten Aspekte von Belang waren.

TEIL 1

DIE 1860ER BIS 1950ER JAHRE:

DIE UNTERSTÜTZUNG VON BEDÜRFTIGEN IN EINER LÄNDLICHEN, ARMEN GESELLSCHAFT

Stephan Scheuzger

2. DIE 1860ER BIS 1910ER JAHRE 2.1. Die 1860er Jahre

Am 1. März 1865 erging von der liechtensteinischen Regierung per Dekret die Aufforderung an die Pfarrer der Gemeinden als Vorstände der lokalen Armenkommissionen, innerhalb einer Woche

«zuverlässig» zu vier Fragen Stellung zu nehmen: Über wie viel Kapital die Armenstiftungen der Gemeinden verfügten; wie die Ortsarmen zurzeit versorgt wurden; wie gross die Zahl derjenigen war, die von der Gemeinde unterstützt wurden; und welcher Betrag durchschnittlich im Jahr für die ärztliche Behandlung von Armen aus dem Gemeindevermögen bezahlt werden musste.1 Aus allen Gemeinden gingen binnen zweier Wochen Antworten ein.2 Diese wiesen ebenso Unterschiede wie Gemeinsamkeiten der kommunal organisierten Armenwesen aus. Während die Gemeinden Ruggell und Schaan angaben, das Kapital ihrer Armenstiftungen belaufe sich auf 3’290 beziehungs-weise 1’165 österreichische Gulden, wiesen Triesen 738 und Vaduz 694, Balzers noch 216 und Planken 60 Gulden aus. Gamprin, Schellenberg, Eschen und Triesenberg gaben an, über gar keine Armenstiftung zu verfügen. Aus Mauren wurde über den Aufbau eines Armenfonds berichtet. Am meisten direkt aus Gemeindemitteln unterstützte Arme machte Triesen geltend mit zehn Personen.

Der Bericht aus der Gemeinde Planken sprach von gerade einer unterstützten Ortsarmen – die jen-seits der Grenze im Kanton Graubünden lebte. Dass diese Zahlen in keiner Art und Weise das kom-munale Armenwesen quantifizierten und schon gar nicht die Armut in den Gemeinden widerspie-gelten, machten alle Schreiben nicht nur zwischen den Zeilen deutlich. So wies Pfarrer Simon Balzer für Triesen darauf hin, dass «viele andere» nicht in die ausgewiesene Zahl eingerechnet seien, etwa all jene, «welche alle Quartale Spendbrode erhalten». Die Nachbargemeinde Triesenberg gab die Zahl von zwei unterstützten Personen an. Pfarrer Johann Baptist Büchel unterstrich aber gleichzei-tig, dass die Armen in der «mit Schulden überladen[en]» Gemeinde im Wesentlichen auf sich selbst gestellt waren und nur in den seltensten Fällen mit einer Unterstützung rechnen konnten. Er be-richtete auch, arme Leute zu kennen, die selbst in tiefer Not geäussert hätten, lieber Hungers zu sterben, als sich an die Gemeinde zu wenden. Bei den von der Gemeinde Unterstützten handle es sich in der Regel um arme Hintersassen, die arbeitsunfähig geworden und «aus der Fremde» nach Hause geschickt worden seien.3 Die Gemeindekasse bezahle für sie Nahrung und Kleider, verköstigt würden sie «von Haus zu Haus».

Detaillierter beschrieb der Bericht aus Mauren die Versorgung der Armen und auch, was die Verköstigung «von Haus zu Haus» bedeutete. «So lange die Armen des Gehens fähig sind, sind sie auf sich selbst angewiesen, […], sie mögen ihre Subsistenz suchen, wo und wie sie können oder

1 LI LA RE 1865/214: Dekret an die Localarmenkommission, an alle Pfarrgemeinden, Vaduz, 1. März 1865.

2 Von einem Antwortschreiben ist nur mehr ein Fragment erhalten. Es ist darauf zu schliessen, dass es sich um das-jenige aus der Gemeinde Ruggell handelt. LI LA RE 1867/261: An die hohe fürstl. Regierung. Die übrigen Schreiben, aus denen hier im Folgenden zitiert wird, sind: LI LA RE 1865/269: Balthasar von Castelberg: An die Hochlöbliche Fürstliche Regierung, Schaan, 4. März 1865 [zu Schaan]; LI LA RE 1865/279: Rudolph Schädler: Hochlöbliche Re-gierung, Bendern, 4. März 1865 [zu Gamprin]; LI LA RE 1865/280: Rudolph Schädler: Hochlöbliche ReRe-gierung, Bendern, 6. März 1865 [zu Schellenberg]; LI LA RE 1867/261: A. Gmelch: H. Regierung des Fürstenthums Liech-tenstein, Balzers, 8. März 1865 [zu Balzers]; LI LA RE 1867/261: [Mitteilung der Gemeinde Mauren über das Fehlen eines Armenhauses oder Armenfonds in der Gemeinde und Aufzählung der Bestimmungen der Armenfürsorge], Mauren, 8. März 1865; LI LA RE 1865/261: A. Frick: [An die Fürstliche Regierung], Eschen, 9. März 1865 [zu Eschen]; LI LA RE 1865/268: Johann Baptist Büchel: Hohe fürstliche Regierung, Triesenberg, 9. März 1865 [zu Triesenberg]; LI LA RE 1865/266: Simon Balzer: Bericht, Triesen, 10. März 1865 [zu Triesen]; LI LA RE 1865/296:

Balthasar von Castelberg: Fürstliche Regierung, Schaan, 14. März 1865 [zu Planken, welches Teil der Pfarrei Schaan war]; LI LA RE 1865/284: Johann Florin DeCurtins: An die Regierung des Fürstenthums Liechtenstein, Vaduz, 14. März 1865 [zu Vaduz]. DeCurtins gab an, als Pfarrer, der sein Amt gerade neu angetreten hatte, noch keine Auskunft geben zu können, aber den Gemeinderat um die Angaben angefragt zu haben und diese seinem Schreiben beizulegen. Dieses Dokument findet sich im Archiv nicht beim Brief. Allerdings ist unter einer ganz anderen Signa-tur eine undatierte, nicht unterzeichnete und mit keiner Ortsangabe versehene Auflistung abgelegt, bei der es sich um diese Informationen handeln könnte: LI LA RE 1866/1068.

3 Als «Hintersassen» definierte das diesbezüglich geltende Gemeindegesetz «alle jene Staatsbürger, welche in der Gemeinde ihres Wohnortes das Gemeindebürgerrecht nicht besitzen, wenn sie auch Gemeindebürger einer ande-ren Gemeinde des Fürstenthume seyn sollten.» Gemeindegesetz, 1842, § 48.

Stephan Scheuzger

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wollen. Gewöhnlich geschieht’s durch den Bettel. […] Andere sind angewiesen, als unentgeltliche Kostgänger die Runde durch die ganze Gemeinde zu machen, wo sie auf ihrer Wanderschaft alle Tage an einem anderen Tische erscheinen.» «Kinder und öfters auch ältere Personen» mussten in-des nicht nur mit Essen, sondern auch mit einem Dach über dem Kopf versorgt werden, da sie die Nächte nicht im Freien oder in Ställen verbringen konnten. Diese «werden, wie eine andere Waare auf dem Kirchenplatze öffentlich versteigert. Der Mindestfordernde bekommt sie.» Diese «Vergan-tung» von Armen, das «Armenlizitieren» zur Minimierung der Kosten, die die Gemeinde an die ver-sorgenden Haushalte zu entrichten hatte, war in den 1860er Jahren vielerorts in Liechtenstein noch gang und gäbe.4 In Ruggell fanden Arme indes auch im Schulhaus der Gemeinde Quartier. Eine an-dere Form der öffentlichen Unterstützung, von der ebenfalls aus Ruggell ausdrücklich berichtet wurde, bestand in der Zuweisung von Land zur Bewirtschaftung – die Allmende war in Liechten-stein im Zuge einer Agrarreform in der ersten Hälfte des Jahrhunderts weitgehend privatisiert wor-den. Wie in Schaan dürften auch in anderen Gemeinden «von Zeit zu Zeit» kleinere finanzielle Un-terstützungsbeiträge an die Armen abgegeben worden sein. Eine ständige Unterstützung erhielten in Balzers namentlich Personen, die an einer Krankheit oder an einer körperlichen Beeinträchti-gung litten, wie zwei an Epilepsie Erkrankte und ein Mann, der in einem «Taubstummeninstitute»

in München untergebracht war.

Bestandsaufnahme

Die von der Regierung veranlasste Bestandsaufnahme dokumentierte einen sehr tiefen Ausbaugrad des Armenwesens. Das war für eine noch fast ausschliesslich ländlich geprägte Gesellschaft im eu-ropäischen Vergleich indessen keineswegs aussergewöhnlich.5 Das noch äusserst rudimentäre An-gebot von Unterstützungsleistungen durch die Gemeinde kann in einem kausalen Zusammenhang mit dem zweiten zentralen Befund der Umfrage gesehen werden: der geringen Zahl von Unterstütz-ten. Auch deren sehr tiefer Anteil an der gesamten Einwohnerzahl bildete mit Blick auf andere rurale Regionen West- und Mitteleuropas keine Besonderheit.6 Wenn in Triesen Mitte der 1860er Jahre zehn Arme durch die Gemeinde unterstützt wurden, so entsprach dies etwas mehr als einem Prozent der Bevölkerung.7 In Planken machte die eine unterstützte Person gerade einmal 0,7 Pro-zent der Gemeindebevölkerung aus.8 Diese Anteile lagen indessen noch einmal unter denen, die für eine Auswahl von Landgemeinden in Deutschland, Frankreich und Luxemburg für die Mitte des 19.

Jahrhunderts errechnet worden sind.9 Auch wenn die in den Schreiben der Pfarrer gemachten An-gaben nicht das ganze Ausmass der Unterstützung Bedürftiger durch die Gemeinden wiedergege-ben hawiedergege-ben dürften, so waren die entsprechenden Zahlen in jedem Fall sehr tief. Als ein wesentlicher verantwortlicher Faktor dafür lässt sich, wiederum mit Blick auf andere Regionen in Europa, das geringe kommunale Unterstützungsangebot annehmen.10 Die Bedeutung des Armenwesens in den Gemeinden war im 19. Jahrhundert von dessen finanzieller Ausstattung abhängig, nicht von der Bedarfslage.

Wenn Johann Baptist Büchel darauf hinwies, dass selbst stark Not leidende Gemeindeange-hörige die Aussage gemacht hätten, lieber zu verhungern als öffentliche Unterstützung in Anspruch

Wenn Johann Baptist Büchel darauf hinwies, dass selbst stark Not leidende Gemeindeange-hörige die Aussage gemacht hätten, lieber zu verhungern als öffentliche Unterstützung in Anspruch