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Konsequenzen aus dem dialogischen Bewegungsverständnis

Im Dokument Schulsport im Winter (Seite 162-168)

Um die wintersportliche Handlungskompetenz zu erweitern und Heranwachsende möglichst langfristig zum Sporttreiben im Winter zu bewegen, sollten schulische Wintersportveranstaltungen nicht nur das sportmotorische Können erweitern, sondern den Schülern auch die persönliche Bedeutung wintersportlicher Aktivitä-ten erschließen. Diese Bedeutung entsteht in der individuellen Auseinanderset-zung eines Menschen mit einer Bewegungssituation, sie ist somit Ausdruck eines persönlich-situativen Bewegungsdialogs (vgl. 2.1). Folglich lassen sich Bewegungsbedeutungen nicht einfach auf methodischem Wege übermitteln. Es gilt die Schüler zu individuellen Bewegungsdialogen mit der winterlichen Umwelt zu animieren und in ihrem Bewegen zu begleiten, um das Begreifen von Bewegungsbedeutungen zu unterstützen.

Für das Begreifen von Bewegungsbedeutungen wurden nach GORDIJN mit der direkten, der indirekten und der erfinderischen Überschreitung drei Möglichkeiten des Bewegungsdialogs mit der Welt idealtypisch unterschieden:

Formen des

Anwenden Nachahmen Experimentieren Improvisieren

Lösungs- möglichkei-ten

viele Lösungen eine vorgegebene

„richtige“ Lösung

(modifiziert und erweitert nach einer Abb. von ROSENBERG 1997, 201)

a) Zur direkten Überschreitung:

Will Schulsport im Winter Erfahrungen im Sinne der „direkten Überschreitung“

vermitteln, dann sind „offene Lernsituationen“ (TAMBOER 1997b, 242) herzu-stellen, die von den Schülern problemlos ohne vorherigen Lernprozess bewäl-tigt werden können. Entscheidend für das Gelingen einer direkten Überschrei-tung ist, dass die winterliche Umwelt unmittelbar zum Sich-Bewegen auffor-dert. Die Winterlandschaft (Schneefläche, Eisfläche etc.) oder das Bewe-gungsarrangement (Schanze, Schlitterbahn etc.) muss leicht zu deuten sein, um den Kindern und Jugendlichen die Gelegenheit zu geben, ohne explizite Bewegungsanweisungen allein auf der Grundlage des „Wissens“ ihres Leibes spontan und unmittelbar auf die ihnen begegnende winterliche Umwelt einzu-gehen, sie zu „befragen“ und zu „beantworten“. Folglich hat sich das Arrange-ment an den bereits vorhandenen winterlichen Bewegungserfahrungen der Schüler zu orientieren, um deren Anwendung zu ermöglichen.

Im schulischen Geschehen ist allerdings damit zu rechnen, dass die Schüler über unterschiedliche Vorerfahrungen verfügen und für einige schon die Gren-ze zur erlernten Überschreitung erreicht wird. Das Arrangement sollte daher verschiedenen Anspruchsniveaus gerecht werden. Einige Beispiele: Statt einer Schanze für alle Schüler könnten mehrere Schanzen unterschiedlicher Größe zur Verfügung stehen. Eine weitere Möglichkeit wäre, verschiedene Gleitgeräte zum Überfahren der Schanze bereit zu stellen, etwa Snowboard, Ski, Bigfoot, Schlitten, Minibob und Porutscher. Bei einer „freien“ Abfahrt sollte das Gelän-de jeGelän-dem Schüler reizvolle GelänGelän-deformen bieten.

In der direkten Überschreitung werden persönliche Bedeutungen zum wieder-holten Male erfahren. Die Schüler erhalten Gelegenheit, ihre Freude am Sich-Bewegen und ihr Bewegungserleben auszukosten. „Denn hier besteht die Chance zu spontanem Bewegen, ohne mit der Frage einer ‘richtigen’ Bewe-gungsausführung konfrontiert zu werden“ (ROSENBERG 1997, 202).

b) Zur erlernten Überschreitung:

Sofern Schulsport auf eine „erlernte“ Überschreitung abzielt, d.h. auf die Lö-sung eines Bewegungsproblems im Verlauf eines Übungsprozesses, dann gilt es dem Schüler ein geeignetes „Bild“ von dem zu vermitteln, was von ihm nach einiger Übung erwartet wird. TAMBOER (1979, 18) erläutert GORDIJNs me-thodischen Ansatz: Ein solches „Bild“ könne sich entweder auf eine (ideale)

Bewegungsform beziehen – GORDIJN spricht dann von „Nachahmung der Form“ (zit. nach TAMBOER 1979, 18) – oder aber auf eine Bewegungsabsicht.

Bei einer „Nachahmung der Form“ wird zwar die Auseinandersetzung mit ei-nem festen Bewegungsmuster und dem auf einen (physikalischen) Körper re-duzierten, eigenen Leib gefördert, nicht aber ein Bewegungsdialog mit der Welt der motorischen Bedeutungen. Dementsprechend lehne GORDIJN – so TAMBOER – die Vorgabe bestimmter Bewegungsmuster und ebenso auf den Körper bezogene Anweisungen ab („Nimm eine Schrittstellung ein!“, „Halte die Hände wie ich!“ usw.). Stattdessen fordere er, den Lernenden zur „Nachah-mung der Absicht“ (zit. nach TAMBOER 1979, 18) anzuregen, indem ihm als

„Bild“ eine pauschale Bewegungsabsicht, z.B. „auf der Schlitterbahn gleiten“, vorgegeben wird. Weitergehende Aufgabenstellungen sollten sich auf Bewe-gungsbedeutungen beziehen: „Nimm einen sicheren Stand auf dem Eis ein!“,

„Halte im markierten Abschnitt an!“, „Gleite möglichst weit!“, „Gleite möglichst elegant!“ etc. Im Vordergrund steht dann die Auseinandersetzung mit einer Bewegungssituation, die der Lernende durch Experimentieren zu bewältigen versucht.

GORDIJNs Ansatz, mit der Vorgabe von Bewegungsabsichten eine individuel-le dialogische Auseinandersetzung anzuregen, ist mit zwei Implikationen ver-bunden, die von TREBELS (1992, 28f.) als didaktische „Orientierungspunkte“

beschrieben werden: Erstens muss dem Lernenden die selbständige und ei-genverantwortliche Auseinandersetzung mit der Bewegungssituation ermög-licht werden, wenn in einem persönlich-situativen Bewegungsdialog die Welt der motorischen Bedeutungen erschlossen werden soll. Zweitens „[schließt]

die individuelle dialogische Auseinandersetzung […] auch persönlich gefärbte, d.h. nicht standardisierte Bewegungsantworten ein“ (ebd., 29). Die Vorgabe von Bewegungsabsichten kann zu unterschiedlichen, individuellen Lösungen von Bewegungsproblemen führen, die als „konstruktives Ergebnis des Bewe-gungsdialogs“ (ebd.) anzuerkennen sind. Dies ist zu verstehen als Ausdruck des subjektiven Maßstabs für das Gelingen einer Bewegungshandlung: Ob der Sich-Bewegende seine Lösung als gelungen ansieht, hängt vom Vergleich mit seiner persönlichen Erwartungshaltung an das Bewegungsgefühl ab.

Genormte Bewegungsmuster und insbesondere ei

ter aus dem Spitzensport stellen demnach immer nur eine mögliche Bewe-n „ideales“ BeweguBewe-ngsmus-

Bewegungsmus-gungslösung neben anderen dar. Im persönlich-situativen Bewegungsdialog können sich sogar Bewegungsantworten als zweckmäßig und damit als „rich-tig“ erweisen, die der vorgegebenen Bewegungsabsicht zuwider laufen: Oft wird skifahrenden Schülern die Bewegungsaufgabe gestellt, an einer Schanze abzuspringen. Ein Kind, das die Schanze im persönlich-situativen Bewegungs-dialog jedoch nicht als Absprunghilfe sondern als ein gefährliches „Katapult“

versteht, bewältigt die Bewegungssituation subjektiv angemessen, wenn es die Schanze beim Überfahren federnd „ausgleicht“ und ein Abheben verhindert (vgl. auch die Ausführungen von FUNKE-WIENEKE (1997b, 15-20) zum „Feh-ler als Leistung“).

c) Zur erfinderischen Überschreitung:

Zu „erfinderischen Überschreitungen“ kann der sich-bewegende Mensch kaum planmäßig hingeführt werden, da diese eher spontanen Einfällen, kreativen Lösungsprozessen (vgl. TAMBOER 1979, 18) oder Momenten des „Über-sich-hinaus-Kommens“ (SEEL 1993, 98) entspringen. „Die Möglichkeiten erfinderi-scher Begegnung vergrößern sich jedoch, wenn in der vorhergehenden Lern-phase mehr der ‘Nachahmung der Absicht’ Raum gegeben wird. Denn Bewe-gungsschablonen verlernt man schwerer als man sie sich aneignet“ (TAM-BOER 1979, 18), weshalb sie sich nur schwer in einem situativen Dialog ent-sprechend eigener Bedürfnisse verändern lassen. Eine vielverent-sprechendere Grundlage für Improvisationen sind zum einen ein reichhaltiger Bewegungs-schatz, der auf vielfältigen Bewegungserfahrungen gründet, und zum anderen das Vertrauen, dass der Lehrer individuelle und auch eigenwillige Deutungen und Lösungen von Bewegungssituationen gerne sieht (vgl. auch Kap. 3.2.3).

Die Chance zur erfinderischen Überschreitung eröffnet eine Situation dann, wenn der Sich-Bewegende sie als eine persönliche Herausforderung oder als eine Einladung zum Ausprobieren von etwas Neuem begreift. Im Prinzip kön-nen solche Situatiokön-nen für eikön-nen wintersportlich Aktiven jederzeit und überall entstehen. Voraussetzung für eine erfinderische Überschreitung ist, dass spontane Eigeninitiativen seitens der Schüler zugelassen werden. Mitunter können Schüler auch durch Bewegungs- und Spielanregungen zu erfinderi-schen Überschreitungen animiert werden: „Hast du auf der Schlitterbahn eine Verwendung für diesen Karton?“ „Könnt ihr euch ein Spiel mit diesen Reifen

ausdenken?“ etc. (vgl. Kap. 3.2.3 unter „Improvisationen anregen“ sowie Kap.

3.4.3 unter „Bewegungsanregungen“).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in der Hoffnung auf direkte, erlernte und erfinderische Überschreitungen, die mit dem Begreifen persönlicher Bedeutungen wintersportlichen Sich-Bewegens einhergehen, auch spontane win-tersportliche Eigeninitiativen gutzuheißen und zu unterstützen sind. Um den indi-viduellen wintersportlichen Bewegungsdialog zu fördern, sollte generell offeneren methodischen Maßnahmen wie der Bewegungsanregung und der Bewegungsauf-gabe bzw. der Spielanregung und der SpielaufBewegungsauf-gabe gegenüber konkreten Bewe-gungs- und Spielanweisungen der Vorzug gegeben werden. Schließlich sind indi-viduelle Lösungen von wintersportlichen Bewegungssituationen als schöpferische Ergebnisse individueller Bewegungsdialoge anzuerkennen.

Dem dialogischen Bewegungskonzept wohnt damit eine gewisse Distanz gegen-über dem tradierten Sport inne. TREBELS bescheinigt dem tradierten Sport und auch dem Sportunterricht, sofern er sich auf diesen Sport beschränkt, in Anleh-nung an die FRANKFURTER ARBEITSGRUPPE (1982) eine „motorische Aus-grenzung“: Denn Sport als „Sammlung von Sportarten mit kodifiziertem Regel-werk“ ereigne sich in spezifischen (oft standardisierten) Bewegungsräumen, be-schränke sich weitgehend auf normierte Bewegungsformen mit standardisierten Sportgeräten (sowie deren sachgerechte Vermittlung im Sportunterricht) und favo-risiere den Überbietungsgedanken (vgl. TREBELS 1983b, 11ff.). Um einen Bewe-gungsdialog zwischen Mensch und Welt zu ermöglichen, müssten jedoch beim Bewegungslernen bestimmte Bewegungsabsichten und -probleme statt definierter Bewegungsmuster vorgegeben und individuelle Lösungen von Bewegungsprob-lemen anerkannt werden. Zudem lassen sich typische Bewegungsbedeutungen des Könners vom „Nichtkönner“ abseits tradierter Formen des Sports oft leichter erfahren.110

110 In der Literatur stammen viele Beispiele dafür aus dem Turnen (vgl. BEUMER u.a. 1980; TRE-BELS 1985, 13 und in BALZ u.a. 1997, 22). Ein Beispiel aus dem Wintersport: Ein Skifahrer, der eine Schanze beim Überfahren (z.B. aus Angst) auszugleichen versucht, erfährt das Fliegen, d.h.

das Freisein vom Boden, vielleicht eher beim Überfahren der Schanze mit dem Schlitten, dem Mi-nibob, auf Bigfoot und Skiboards, sofern er sich dieses zutraut, oder beim Tiefsprung bzw. Hecht-sprung in weichen Schnee.

Dennoch sollte der Schulsport dem außerschulischen Sport nicht ein eigenes Be-wegungsangebot gegenüberstellen, von dem tradierte Formen des Sports prak-tisch ausgeschlossen bleiben und in dem die tradierte Sportkultur lediglich kriprak-tisch diskutiert wird. Eine solche Auslegung würde nicht berücksichtigen, „dass dieser Bewegungsdialog in eine historische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Wirk-lichkeit eingebettet ist und durch sie mitbestimmt wird“ (TAMBOER 1979, 19).

Dies ist ein Sachverhalt, der von GORDIJN zwar konstatiert, aber nicht analysiert wurde. Für einen Skifahrer kann beispielsweise die Bedeutung seines rasanten Abfahrens weniger in der hohen Geschwindigkeit oder der Grenzsituation liegen, sondern mehr in der Selbstdarstellung vor seinen Freunden, in der Identifikation mit Idolen („einmal fahren wie Hermann Maier“) oder gar im optimalen Ausnutzen der teuren Liftkarte, die mit jeder Bergfahrt rentabler erscheint. Da sich einerseits derartige Bedeutungen im Schulsport immer wieder konstituieren und sie anderer-seits manchmal durchaus erwünscht sein können, ist eine abgeschlossene schuli-sche Bewegungswelt weder realisierbar noch erstrebenswert.

Im Sinne einer „optimalen Förderung aller Schülerinnen und Schüler“ (BALZ u.a.

1997, 20) gilt es sowohl mögliche Bewegungsbedeutungen von Bewegungshand-lungen und Bewegungssituationen zu erschließen, die nicht von normierten Be-wegungsmustern bestimmt sind, als auch individuelle Bewegungsbedeutungen tradierter Formen des Wintersports. Vorgefundene Bewegungstraditionen sind demnach nicht affirmativ zu vermitteln, sondern auch entsprechend des dialogi-schen Bewegungskonzepts pädagogisch transformiert, d.h. in Orientierung an den jeweiligen Bewegungsbedeutungen, wie dies im Rahmen dieser Arbeit – etwa an Beispielen aus dem Alpinen Skilauf – aufgezeigt wurde.

Im Dokument Schulsport im Winter (Seite 162-168)