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Entwicklung sozialer Kompetenzen

Im Dokument Schulsport im Winter (Seite 137-141)

3.6 Das Miteinander im Wintersport

3.6.2 Entwicklung sozialer Kompetenzen

Aus pädagogischer Sicht erhofft man sich von der Stärkung des Miteinanders bei wintersportlicher Aktivität die Anregung sozialer Lerneffekte. „Das ‘soziale Lernen’

gehört ganz unbestritten zu den Eckpfeilern im sportpädagogischen Denken und steht mehr oder weniger gleichrangig neben Gesundheit und körperlicher Vervoll-kommnung als Sinnbestimmungen des Erziehens im Zusammenhang mit Sport“

(FUNKE-WIENEKE 1997c, 28). Vielfältige gesellschaftliche Veränderungen blei-ben nicht ohne Folgen für das Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen: Be-obachter sprechen vom „Verfall sozialer Werthaltungen“, von einer „Tendenz zur Entsolidarisierung“, von zunehmender „Individualisierung“ und „Vereinzelung“ bis hin zu einem „Kokonisierungstrend“. Sie konstatieren bei Heranwachsenden zu-nehmende hedonistische und egoistische Interessen, wenig soziale Sensibilität, wachsende Aggressions- und Gewaltbereitschaft sowie Defizite an sozialer Kom-petenz (vgl. PÜHSE 1994, 128ff.; UNGERER-RÖHRICH 1994, 146ff.). Vor die-sem Hintergrund „wird die Forderung laut, pädagogisch auf diese Entwicklungen zu reagieren und die Schule wieder stärker in ihre sozialerzieherische Pflicht zu nehmen“ (PÜHSE 1997, 103).

In Anbetracht der winterlichen und alpinen Gefahren ist es bei wintersportlichen Aktivitäten außerordentlich bedeutsam, dass das Sporttreiben in der Gruppe von gegenseitiger Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft bestimmt wird. Eine besonde-re Rolle spielt das Sozialverhalten der Beteiligten bei mehrtägigen Wintersport-veranstaltungen, bei denen die Schüler (und die Lehrer) miteinander leben und das Zimmer mit anderen teilen. In erhöhten Maße ist die Bereitschaft wichtig, sich

mit anderen zu arrangieren, auf deren Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen und Kompromisse einzugehen. Dennoch werden unterschiedliche Ansichten hin und wieder zu Unstimmigkeiten führen. Dann ist die Fähigkeit zur Bewältigung von Konflikten gefordert. Schulische Wintersportveranstaltungen stellen demnach, vor allem wenn sie länger dauern, hohe Anforderungen an die sozialen Kompetenzen aller Beteiligten. Dadurch entstehen aber auch zahlreiche und vielfältige Gelegen-heiten, um soziale Fähigkeiten an der konkreten Problemsituation zu entwickeln.

Die außergewöhnlichen sozialen Chancen basieren nicht zuletzt auf den spezifi-schen Rahmenbedingungen bei Wintersportveranstaltungen, die sich von denen des normalen Sportunterrichts deutlich unterscheiden. Schulische Wintersportver-anstaltungen sind weniger eng in das schulische Berechtigungswesen eingebun-den: In der Regel sind keine vorgegebenen Lehrplaninhalte zu verfolgen. Die win-tersportlichen Leistungen der Schüler werden meist nicht benotet. Bestehen in Bezug auf Inhalt, Thema und Gestaltung der wintersportlichen Veranstaltung Wahl- und Mitsprachemöglichkeiten für die Schüler, dann ist auch der Pflichtcha-rakter des Sportunterrichts wenigstens teilweise aufgehoben. Wegen des fehlen-den (schulspezifischen) Leistungsdrucks und der inhaltlichen Freiheit besitzen Wintersportangebote einen mehr oder weniger informellen Charakter (vgl. BALZ 1996a, 2). Die Mitschüler sind weniger Konkurrenten um gute Zensuren als viel-mehr Gleichgesinnte, Partner, Mitspieler und Helfer. Die Chancen für soziales Lernen erscheinen unter diesen Umständen erheblich größer (vgl. VOLKAMER 1994).

Überschreitet die Wintersportveranstaltung den Rahmen des Sportunterrichts, verändern sich mit dem Zeitfaktor die Bedingungen sozialen Lernens: In der Regel verbringt eine feste Kleingruppe den halben oder ganzen Tag zusammen, um mit-einander wintersportlich aktiv zu sein und sich gemeinsam in den Pausen zu erho-len. Bei länger dauernden Veranstaltungen wiederholt sich dies Tag für Tag. Es bietet sich daher eine außergewöhnliche Gelegenheit, bestehende Beziehungen zu vertiefen und neue Beziehungen zu knüpfen. Die Förderung der sozialen Ein-gebundenheit der Schüler durch Wintersportveranstaltungen längerer Dauer wird durch die Untersuchung von KUHN/STRÖHLA/BREHM (2001) bestätigt: „Die Ju-gendlichen bewerten ihre Beliebtheit – als Ausdruck sozialer Eingebundenheit – nach dem Skikurs höher als vor dem Skikurs“ (8). Wenn bei der Vorbereitung und Durchführung von Wintersporttagen, Wintersportgemeinschaften und winterlichen

Schulfahrten Schüler zu Helfern, zu Planenden und zu Mitverantwortlichen wer-den, wenn sie als Fachexperten und Mentoren Betreuungs- und Lehrfunktionen übernehmen, wenn sie sich am Bunten Abend in Aufführungen präsentieren und die Lehrer dann als Berater, als Partner, als Trainer (vgl. KOTTMANN/BRUX 1987, 19-24), als Mitwirkende, als Zuschauer oder gar als Lernende fungieren, lösen sie sich von ihren stereotypen Schüler- bzw. Lehrerrollen. Sie übernehmen und gestalten andere Rollen, können sich neu begegnen und sich von einer ande-ren Seite her kennen lernen (vgl. BALZ 1996a, 3).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass aufgrund der spezifischen Rahmenbedingungen vor allem bei länger dauernden Wintersportveranstaltungen das Beziehungsgefüge innerhalb der Schulklassen in Bewegung gerät und sich daher in außergewöhnlichem Maße Anlässe und Perspektiven für soziales Lernen ergeben, zumal das Sozialverhalten der Beteiligten entscheidend zum Gelingen bzw. Misslingen der Veranstaltung beiträgt. Die Frage ist nun, was Schüler lernen müssen, um sozial handlungsfähig zu sein.

Die interaktionistische Rollentheorie106 – ein Modell, das mittlerweile auch in der Sportpädagogik verbreitetet ist und viel Anerkennung gefunden hat – beschreibt vier erforderliche Grundqualifikationen für soziales Handeln: (1) Rollenübernahme (Empathie) als die Fähigkeit, sich in den Interaktionspartner hineinzuversetzen, dessen Erwartungen erkennen und die Situation aus seiner Perspektive sehen zu können; (2) Rollendistanz als die Fähigkeit, sich mit Normen und Rollenerwartun-gen kritisch auseinandersetzen zu können; (3) Ambiguitäts- und Frustrationstole-ranz als die Fähigkeit, teilweise auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse, Erwar-tungen und Wünsche verzichten zu können, ohne die Interaktion abzubrechen; (4) Identitätsdarstellung als die Fähigkeit, dem Interaktionspartner die eigenen Wün-sche und Erwartungen im Interaktionsprozess deutlich machen zu können (vgl.

CACHAY/ KLEINDIENST-CACHAY 1994, 104; UNGERER-RÖHRICH/ SINGER/

HARTMANN/ KREITER 1990, 19f.;). Als Maßnahmen, um diese Fähigkeiten zu

106 Dieser Ansatz wurde von HABERMAS bzw. vor allem von KRAPPMANN (1975) entwickelt und in der Sportpädagogik besonders von UNGERER-RÖHRICH sowie von CACHAY und KLEIN-DIENST-CACHAY aufgegriffen. Ausführlichere Darstellungen finden sich u.a. bei UNGERER-RÖHRICH 1984, 24-64; UNGERER-UNGERER-RÖHRICH/SINGER/HARTMANN/KREITER 1990 und CA-CHAY/KLEINDIENST-CACHAY 1975.

entwickeln, werden in erster Linie Gespräche, arrangierte Problemsituationen, Rollenspiele, inhaltliche Mitbestimmung der Schüler und Gruppenaufgaben vorge-schlagen (vgl. UNGERER-RÖHRICH u.a. 1990, 25-46).

Mit Ausnahme der Gruppenaufgaben sind dies alles Maßnahmen, die ihren Platz eher in Bewegungspausen als in Phasen wintersportlichen Sich-Bewegens haben.

Sie zielen auf kritische und moralisch motivierte Bewusstseinsarbeit ab und ma-chen das Sich-Bewegen zur (austauschbaren?) Nebensache. Nach FUNKE-WIENEKE (1997c) ist daher bei diesem Ansatz zur Sozialerziehung zu bedenken, dass „zwischen Motorik und Sozialität [...] keine Beziehung [besteht], die darüber hinausgeht, dass man zum (gemeinsamen) Sich-Bewegen Absprachen braucht“

(31f.). Die interaktionistische Rollentheorie vermag Perspektiven aufzuzeigen, wenn es um die Bewältigung von sozialen Konflikten im Umfeld winterlichen Sporttreibens geht. Bei der Frage, wie das wintersportliche Sich-Bewegen zu ges-talten ist, damit soziales Lernen gefördert wird, leistet sie jedoch wenig Hilfestel-lung.

FUNKE-WIENEKE (1997c) legt einen sozialerzieherischen Ansatz dar, der das gemeinsame Sich-Bewegen in den Mittelpunkt stellt. Die bewegungsspezifische Erfahrung der „Gemeinsamkeit als Zwischenleiblichkeit“, die als der eigentliche Sinn des gemeinsamen Bewegungshandelns charakterisiert wurde (vgl. Kap.

3.6.1), wird bei FUNKE-WIENEKE zum Ausgangspunkt und Zielpunkt sozialer Lernprozesse. Soziales Lernen erfolgt bei ihm durch eine „Kultivierung des ‘Sozi-alleibs’“ (34): Es geht um die immer wieder neue Herstellung dieser „Sphäre der Gemeinsamkeit“ in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit sozial mehr oder weniger anspruchsvollen Bewegungsaufgaben. Statt des emphatischen Verste-hens der anderen – wie bei der interaktionistischen Rollentheorie – rücken die Realisierung von Bewegungsbeziehungen und Probleme der Verständigung in der Bewegungsaktion in den Vordergrund. „Eine pädagogisch motivierte Steigerung des Anspruchs an das soziale Handeln der Schüler im Sinne intentionaler Sozial-erziehung ergibt sich somit als Steigerung des Anspruchs bezüglich der sachli-chen Bewegungsaufgaben“ (ebd., 35). Für schulische Wintersportveranstaltungen gilt es dementsprechend Bewegungsaufgaben zu entwerfen, die an das winter-sportliche Sich-Bewegen in der Koordination mit anderen unterschiedlich hohe Ansprüche stellen.

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