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Bewegungserlebnisse genießen

Im Dokument Schulsport im Winter (Seite 186-189)

4.4 Wintersportstunden und Wintersporttage in der Praxis

4.4.6 Bewegungserlebnisse genießen

„Wünschenswerte leibliche und materiale Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit Wintersport müssen die Schüler selbst machen. Lehrkräfte sollten dies im Rahmen der zu gewährleistenden Sicherheit und der erforderlichen Zeit zulassen und […] auch unterstützen“ (BALZ/MÜLLER 1999, 27; Hervorheb. i.O.). In der Hoffnung auf prägende Bewegungserfahrungen sollten daher sich anbahnende individuelle Bildungsprozesse und Bewegungserlebnisse nach Möglichkeit nicht unterbrochen werden. Das kann unter Umständen auch bedeuten, sich als Lehrer zurückzunehmen und dem Schüler nicht durch gutgemeinte Ratschläge zu einer vermeintlich besseren Lösung seines Bewegungsproblems zu verhelfen. Das selbständige Suchen und Finden von Lösungen ist nicht nur erlebnisintensiv und prägend, sondern lässt auch das Entdecken persönlicher Bedeutungen zu (vgl.

4.3). Es gilt, Eingriffe in individuelle Bildungsprozesse im Einzelfall sorgfältig ab-zuwägen.

Beim freien Schlittern zu Stundenbeginn gibt es viele Stürze, die allesamt glimpf-lich abgehen. Klaus stürzt sogar mutwillig, wirft sich immer gewagter auf das Eis und schlittert auf den Unterschenkeln, auf der Seite, auf dem Rücken (gestreckt und eingerollt) und schließlich auch auf dem Bauch (zuerst mit den Füßen voran, dann nach einem Hechtsprung mit dem Kopf voran). Ich lasse Klaus gewähren, als ich mir sicher bin, dass seine Bekleidung auf der spiegelglatten Bahn nicht beschädigt wird. Während einige Kinder offensichtlich auf die Zuwendung von Aufmerksamkeit durch andere Kinder, durch die Person oder die Kamera des Leh-rers aus sind, scheint Klaus seine Befriedigung unmittelbar im Sich-Bewegen zu finden: Obwohl er nach anfänglicher Anteilnahme von anderen nicht mehr beach-tet wird, wirft er sich ausdauernd ein ums andere Mal in immer wieder leicht ver-änderter Körperhaltung auf das Eis; er ist kaum ansprechbar und geht offenbar ganz in seinem Tun auf.

Dieser Schüler erlebte beim Schlittern offensichtlich ein Stück erfüllter Gegenwart (vgl. NEUMANN 1998). Leider lässt sich die individuelle Bildungszeit mit der

kol-lektiven Lernzeit bzw. Unterrichtszeit nicht immer vereinbaren: „Bildungszeit ent-zieht sich der Planbarkeit und Machbarkeit, der Konzentration von Zeit und Stoff in Pensen. Der ‘fruchtbare Moment’ tritt ein oder bleibt aus, kommt überraschend oder kündigt sich an“ (BALZ/SCHIERZ 1998, 26). Nach Möglichkeit sollten aber auch einzelnen Schülern spontan Freiräume für das Experimentieren und Impro-visieren gewährt werden.

Kurz vor Stundenende hat die dritte Klasse die Schlitterbahn auf dem Schulhof fertiggestellt. Es bleibt gerade noch Zeit, die Hütchen, die den Bahnverlauf mar-kieren, zurück in die Turnhalle zu bringen und gemeinsam wieder das Klassen-zimmer aufzusuchen. Plötzlich schert Tobias aus dem Gruppengeschehen aus und lässt das Hütchen, das er eigentlich in die Halle tragen sollte, aufrecht über den glatten Untergrund schlittern. Er schaut seinem Hütchen erst gebannt hinter-her, eilt ihm dann nach, ergreift es und läuft zur Schlitterbahn zurück. Dort nimmt er Anlauf und schickt es mit kräftigem Armschwung erneut auf die Reise. Beim nächsten, besonders kraftvollen Versuch kippt das Hütchen um und schlittert auf der Seite. Daraufhin beschleunigt Tobias das Hütchen behutsamer. Ohne weite-res Umkippen gleitet das Hütchen immer schneller und weiter über das Eis. Zwei Mädchen, die zunächst den Aktivitäten von Tobias aufmerksam zugesehen hat-ten, lassen mittlerweile ebenfalls ihre Hütchen über die Bahn schlittern. Als die drei nach einigen Minuten vom Lehrer, der das Ganze interessiert beobachtete, ans Aufräumen erinnert werden, scheinen sie ein wenig erschrocken aus einer anderen Welt aufzutauchen...

Die intensive selbsttätige Auseinandersetzung mit wintersportlicher Aktivität zu fördern kann weiterhin bedeuten, noch ein wenig bei Tätigkeiten zu verweilen, bei denen die Schülerinnen und Schüler in ihrem Tun aufzugehen scheinen, und nicht

„gleich wieder durch das nächste Angebot voranzueilen“ (BALZ/MÜLLER 1999, 28). Es bietet sich beispielsweise an, ein gelingendes Spiel weiterlaufen zu lassen oder auch ein langweiliges Spiel frühzeitig zu beenden, um ein bereits geglücktes Spiel wiederholt aufzugreifen:

Dem „Fähnchen erobern“ widmeten sich die Jungen der elften Klasse mit großem Engagement und sichtbarer Freude am Spiel. Als zweites Geländespiel hatten die Schüler „Jäger und Hasen“ ausgewählt. Die Jäger halten sich dabei anfangs an der Freimallinie – in unserem Fall an der Grundlinie des Fußballfeldes – auf,

wäh-rend die Hasen frei im Spielfeld herumlaufen. Nun rücken die Jäger in breiter Front vor, um die Hasen abzuschlagen. Diese versuchen ihrerseits, sich durch Erreichen der Freimallinie in Sicherheit zu bringen. Sobald alle Hasen gefangen oder am Freimal angekommen sind, werden die Rollen getauscht. Über den Sieg entscheidet die Anzahl der abgeschlagenen Hasen jeder Mannschaft (vgl. DÖB-LER/DÖBLER 1998, 387).

Nachdem die Hasen im ersten Durchlauf kaum Chancen hatten, ihren Häschern zu entgehen, beschließen die Schüler, den Hasen Toilettenpapier um den Ober-arm zu binden, das von den Jägern abgerissen werden muss. Da die Schüler die-se Option bereits bei der Vorbereitung berücksichtigten, steht entsprechendes Papier auch zur Verfügung. Als weitere Möglichkeit zur Herstellung von Chancen-gleichheit erachten sie eine Vergrößerung des Spielfeldes. Als Folge dieser Re-geländerungen dauert das Spiel nun länger und endet mit ausgewogeneren Er-gebnissen.

Dennoch erweist sich dieses Geländespiel (vielleicht aufgrund der geringen Spie-lerzahl) als weniger attraktiv. Daher widmen sich die Schüler erneut dem „Fähn-chen erobern“. Jetzt wird von Seiten der Angreifer vermehrt mit taktis„Fähn-chen Ab-sprachen und Tricks gearbeitet: Thomas und Stefan stehen sich kurz vor Spielen-de gegenüber, ein Fähnchen steckt zwischen Spielen-den beiSpielen-den im BoSpielen-den. Sobald Tho-mas das Fähnchen berührt, wird Stefan ihn abschlagen – oder? ThoTho-mas wendet sich dem Lehrer zu: „Wie lange noch?“. Ohne eine Antwort abzuwarten, ergreift er das Fähnchen und spurtet zum Freimal. Stefan war einen winzigen Augenblick abgelenkt – jetzt schaut er Thomas nur überrascht hinterher. Die Lauf- und Einsatzbereitschaft der Schüler scheint ungebrochen, obwohl viele sichtbar mit zunehmender muskulärer Ermüdung kämpfen. Verschwitzt, gezeichnet von Sprüngen und Stürzen auf die weiche Wiese und sichtlich erschöpft kehren die Jungen in die Umkleiden zurück. Die Gespräche drehen sich um originelle Spielsi-tuationen, um den Spaß am Spiel und die große Anstrengung. Von Kälte und Er-kältungsgefahr, die vor dem Spielen für große Bedenken sorgten, ist nicht mehr die Rede.

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