• Keine Ergebnisse gefunden

Justice und juste

Im Dokument Sprache im Kontext von Macht (Seite 38-41)

3.3 Die politische Rede der Spitzenkandidatin

3.3.1.2 Justice und juste

In beiden untersuchten Reden von Ségolène Royal fallen das Adjektiv juste und das Substantiv justice unmittelbar auf. Diese Auffälligkeit ergibt sich zum einen aus Royals häufiger Verwendung dieser Lexeme und zum anderen aus den vielen unterschiedlichen Kombinationen mit anderen Lexemen.

Die Gerechtigkeit – la justice - ist für Ségolène Royal ihr Wertemaßstab. Das bedeutet, dass für die Kandidatin justice als selbstverständlicher Wert in der Politik vorhanden sein muss. Die Politikerin verwendet das Lexem justice zunächst nicht, um ein hohes

Ziel zu umschreiben – vielmehr ist für sie die Herstellung von Gerechtigkeit die Basis für weitere Maßnahmen. So handelt es sich für Royal bei einer neuen Festlegung der Rentenauszahlungen lediglich um Gerechtigkeit:

[...] les petites retraites seront revalorisées. Non seulement ce n’est que justice, mais c’est aussi une question de dignité [...] (R.; Lyon: V, 51f.).

Auch die Konsequenzen aus den Unruhen im Mai 1968, die Gehaltserhöhungen, die Anerkennung von Gewerkschaften in den Unternehmen, die Modernisierung der Universitäten und auch das Recht auf Verhütung und Schwangerschaftsabbruch bewertet die Kandidatin als Gerechtigkeit: «[...] cela n’était que justice [...]» (R.;

Charlety: XVII, 32f.). Indem die Rednerin die Errungenschaften von Mai ’68 in der europäischen Nachkriegsgeschichte als justice darstellt, will sie ihren Gehalt nicht schmälern. Vielmehr möchte sie ihre Projekte mit dieser Gerechtigkeitsgrundlage ausstatten.

Royal verwendet das Lexem justice ganz im Sinne der Kardinaltugenden. Im ständigen Verweis auf Gerechtigkeit beleuchtet die Kandidatin beispielsweise ihre Arbeits- und Sozialpolitik.58 In der Verwendung von la justice sucht sie zum einen mit ihrem hohen moralischen Anspruch zu beeindrucken. Den Zuhörer möchte sie zum anderen mit diesen tugendreichen Äußerungen so sehr erfüllen, dass Präzisierungen darüber, wie sie z.B. finanziell gesehen bestimmte Ungerechtigkeiten aufheben möchte, in den Hintergrund treten können.

Die Verwendung des Adjektivs juste verhilft der Rednerin in ähnlicher Weise, ihre Projekte unter die Vorsätze hoher moralischer Werte zu stellen. Im folgenden Beispiel unterstellt die Politikerin mit dem Komparativ plus juste zunächst einen ungenügenden Ist-Zustand auf europäischer und internationaler Ebene. Des Weiteren verspricht sie mit ihrer Wahl Verbesserungen in diesem Bereich:

La victoire de l’élection présidentielle n’est qu’une première étape vers une Europe plus juste mais aussi vers un équilibre mondial plus juste (R.; Lyon: VIII, 48ff.).

In dieser Argumentation führt schon allein ihre Wahl zur Staatspräsidentin zu einem gerechteren Europa – ein Zusammenhang, der nicht nachvollziehbar ist. Die Kandidatin fügt hinzu, dass ein Wahlsieg zudem ein équilibre mondial plus juste nach sich zöge. In Analogie zu ihrer ersten Aussage hinsichtlich Europas weitet die Kandidatin ihren moralischen Anspruch auf die globale Ebene aus. Diesmal jedoch visiert sie ein équilibre mondial plus juste an. Diese Aussage ist dadurch in ihrer Logik eingeschränkt, dass ein équilibre immer auf den Grundsätzen von Gerechtigkeit aufbaut. Ein ,gerechteres Gleichgewicht’ gibt es nicht bzw. hebt plus juste dieses équilibre genau

58 Vgl. R.; Lyon: VII, 11f.; Charlety: XIII, 18f.

genommen wieder auf. Die Rednerin kann jedoch bei einer unmittelbaren Rezeption mit der Tatsache rechnen, dass der positiv bewertete Begriff équilibre in der Darstellung als plus juste gesteigert wahrgenommen wird. Die Inkohärenz in ihrer Äußerung wird nicht sofort deutlich, so dass die aussichtsreichen Versprechungen überwiegen können.

Das Lexem juste steht in mehreren Fällen mit den Substantiven règle bzw. ordre. Mit diesem Adjektiv verbindet Ségolène Royal direkt die Maxime der Chancengleichheit, für die ihre Partei traditionellerweise eintritt. In ihrer Rede von Lyon stellt sie dieses Bestreben hingegen als ihren persönlichen und vor allem als einen neuen Vorsatz dar:

«Les uns ne vont pas sans les autres; voilà le nouvel ordre juste que je vous propose!»

(R.; Charlety: XIII, 22). Im Übrigen ist für Royal eine Regel oder Ordnung dann gerecht, wenn sie von allen verstanden und angewendet wird: «[...] nous devons à nouveau apprendre à vivre ensemble grâce à des règles justes qui seront comprises par tous et appliquées par tous [...]» (R.; Lyon: III, 29ff.). Die Bewertung der Regeln als justes stellt in diesem Beispiel die Ausgangslage für eine allgemeine neue Form des Zusammenlebens. Wiederum verbergen sich hier hinter dem Wert bestimmenden Attribut juste die eigentlichen Merkmale der Regeln, welche die Politikerin aufstellen will. Die Bewertung juste gilt damit bei Royal weniger dem Substantiv, auf welches sich das Lexem bezieht als vielmehr der Darstellung ihres allgemeinen Wertemaßstabes.

Dafür spricht auch, dass die Politikerin immer Substantive in den Zusammenhang mit juste stellt, die eine abstrakte Darstellung abgeben. Europe, monde, règle und ordre wurden bereits genannt. Ein weiteres Beispiel aus der Endpassage der Rede von Charlety kann dies ebenfalls bestätigen, zumal der Abstraktionsgrad von la France bereits Gegenstand der Analyse gewesen ist: «Le choix il est là. Il est clair. [...] c’est le choix d’une France plus juste et donc une France plus forte» (R.; Charlety: XIX, 44ff.).

In den nachstehenden Beispielen wird mit dem Adjektiv juste zwar auch eine Bewertung abgegeben, allerdings wird juste hier weniger im Sinne von ,gerecht’ als vielmehr im Sinne von ,richtig’ gebraucht. Mit juste autorité ist im Folgenden die elterliche, polizeiliche und richterliche Autorität gemeint: «Voilà la juste autorité que nous construirons ensemble» (R.; Charlety: XVIII, 15). Die Kandidatin nutzt folglich das Bedeutungsspektrum des Lexems breit aus. Der Bewertungsablauf ist allerdings auch hier verkürzt. Die Bewertung eines Vorgangs oder Zustands als juste erfolgt als das Ergebnis einer Abwägung zwischen mehreren, d.h. auch falschen Möglichkeiten.

Solche Abwägungen sind in den untersuchten Reden der Präsidentschaftskandidatin nicht vorzufinden. Dies verleitet zu der Annahme, dass für die Rednerin im Vordergrund steht, Werte zu äußern bzw. Bewertungen abzugeben. In den untersuchten

Reden ist nicht dargestellt, wie diese Bewertungen zustande kommen oder welche Aspekte explizit bewertet werden.

Die vorangegangenen Ausführungen haben aufgezeigt, dass es sich bei den Lexemen justice und juste um Schlüsselbegriffe in den beiden untersuchten Reden von Ségolène Royal handelt. Justice und juste tragen einerseits durch ihre häufige Verwendung zu einer von hohen Werten geprägten Rede der Kandidatin bei. Andererseits verbergen diese Moralbekenntnisse Royals Präzisionen in der Darlegung ihrer Reformvorhaben.

Ferner ist die Voraussetzung, etwas als juste bzw. als justice zu bezeichnen, immer an die persönliche Wahrnehmung, das individuelle moralische Bewusstsein geknüpft. In den untersuchten Reden von Ségolène Royal tritt das Adjektiv unabhängig von vorher festgelegten Maßstäben auf. Infolgedessen bleiben Royals Bewertungen als juste vage, so dass der Rezipient zum Verständnis der Äußerungen sein persönliches Rechts- und Unrechtsempfinden geltend machen muss.

Im Dokument Sprache im Kontext von Macht (Seite 38-41)