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Emotionen im Fernsehinterview

Im Dokument Sprache im Kontext von Macht (Seite 59-62)

3.4 Die Spitzenkandidatin im Fernsehinterview

3.4.2 Emotionen im Fernsehinterview

In Teilkapitel 3.4.1 ist bereits veranschaulicht worden, dass das erste Interview mit Ségolène Royal in diesem Korpusteil sich von den beiden weiteren Aufzeichnungen in diesem Korpusteil unterscheidet. Die Journalistin fordert im Interviewgespräch vom 30.08.2006 sehr persönliche Stellungnahmen von der Politikerin heraus, die im Übrigen durch das Tagesgeschehen Ende August 2006 motiviert sind.84 Sie leitet die Kandidatin damit auf eine Ebene, die Royals Verhältnisbestimmung zwischen Gefühl und Vernunft, von der ein politischer Akteur in der Öffentlichkeit determiniert ist, deutlich provoziert.

Bereits die zweite Frage der Journalistin ruft eine solche Abwägung von Seiten der Politikerin hervor. Royal reagiert auf die Frage «Vous vous sentez attaquée?» (R.;

30.08.06: XX, 23) wie folgt:

Je crois que chacun peut...peut le voir aujourd’hui. Je m’interdis d’y...d’y répondre parce que je pense que ça dégraderait, même si c’est souvent extrêmement pénible à vivre (R.;

30.08.06: XX, 25ff.).

Royal verweist hier auf den Rezipienten, der sich angeblich bereits einen Eindruck verschafft hat. Sie gibt dadurch indirekt eine affirmative Antwort ab. Im Weiteren begibt sich die Politikerin auf eine metasprachliche und damit vernunftgesteuerte Ebene. Auf diese Weise übergeht sie die Frage der Journalistin. Inkonsequent ist die Politikerin dann insofern, als sie sich doch zu der Gefühlsäußerung «c’est souvent extrêmement pénible à vivre» hinreißen lässt (vgl. R.; 30.08.06: XX, 26f.). Dieses Wechselspiel zwischen Vernunftäußerung und Gefühlseingeständnis führt Royal daraufhin in ihren Gesprächsanteilen fort. Sie projiziert die Gefühlsregung auf ihre Parteimitglieder, wodurch sie die Frage im Folgenden von sich abwendet: «Je pense

84 Ségolène Royal wird zu diesem Zeitpunkt bereits öffentlich als mögliche Präsidentschaftskandidatin gehandelt. Aus den eigenen Parteireihen ist sie allerdings mit massiven Anfeindungen konfrontiert.

aussi que les attaques personnelles ou humiliantes rendent les militants socialistes malheureux» (R.; 30.08.06: XX, 27f.). Die Journalistin jedoch bleibt daraufhin unnachgiebig und hakt nach: «Pas vous?» (R.; 30.08.06: XX, 30), woraufhin Royal zugeben muss: «Si ça m’arrive, ça m’arrive» (R.; 30.08.06: XX, 33). Wie schnell sich die Politikerin wieder von diesem Gefühlseingeständnis entfernt, zeigt der weitere Verlauf ihrer Antwort:

[...] et en même temps je le prends comme une épreuve à surmonter. C’est-à-dire il faut quand-même garder le sens de l’humour et la philosophie et se dire que finalement ceux qui font ça veulent peut-être m’éprouver ou mesurer mes capacités de résistance et l’action pour la bataille principale qui sera celle contre la droite (R.; 30.08.06: XX, 32ff.).

Ganz deutlich intellektualisiert Ségolène Royal hier die persönlichen Angriffe, indem sie sich ihnen als eine épreuve à surmonter aussetzen möchte und sie als Maßstab für ihre Widerstandsfähigkeit annimmt. Die Vernunftmäßigkeit ihrer Antwort geht an dieser Stelle so weit, dass die Politikerin wie automatisiert das Hauptanliegen ihres Wahlkampfes, la bataille principale qui sera celle contre la droite, in ihre Antwort einschiebt. Die Journalistin jedoch lässt sich auf diese rationale Ebene nicht ein und provoziert in folgender Fragestellung noch stärker eine Gefühlsäußerung der Politikerin:

«[...] Qu’est-ce qui vous blesse le plus?» (R.; 30.08.06: XX, 38). Zunächst sehr ehrlich und ohne Umschweife antwortet Royal: «Les attaques personnelles. [...] La contestation de ma légitimité» (R.; 30.08.06: XX, 42). Die Analogiebildung im Folgenden zur chilenischen Präsidentin Bachelet wendet die Konzentration auf sie und ihre Gefühle wiederum von ihr ab:

[...] comme Michelle Bachelet l’a entendu d’ailleurs au Chili. Eh, le fait de dire que je ne suis pas à la hauteur, ce qu’on ne dirais jamais d’un homme (R.; 30.08.06: XX, 42ff.).

Ferner bringt die Politikerin ihre verletzten Gefühle in ihrer Rolle als Frau zum Ausdruck, wodurch sie zumindest bei Frauen und auch einigen Männern unter den Fernsehzuschauern ein gewisses Unrechtsempfinden evoziert.

Auch wenn dieses Interview nicht auf stringente Argumentationsführungen der Politikerin bezüglich ihres Wahlprogramms ausgerichtet ist, ist auch dieser öffentliche Auftritt der Politikerin Teil ihrer Überzeugungsarbeit im Wahlkampf.85 Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass die Politikerin bestrebt ist, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen rationalen und emotionalen Äußerungen zu wahren. Diese Beobachtung impliziert, dass Royal ihre Gefühle zum Teil sehr deutlich in der Öffentlichkeit mitteilt.

In Unterkapitel 3.4.1 ist deutlich geworden, dass Ségolène Royal ihre Gefühlsäußerungen in Bezug auf den parteiinternen Angriff durch Claude Allègre genau

85 Zu erinnern ist an dieser Stelle an Charaudeau und Amossy, die von einem intentionalen Einsatz von Emotionen ausgehen. Vgl. 2.3.6.

kontrolliert. Nach zweimaliger Aufforderung des Moderators Poivre d’Arvor, sich zu diesem öffentlichen Angriff zu äußern, wird deutlich, dass sich die Kandidatin zu keinem Ausdruck der Wut oder der Enttäuschung bewegen lässt. Sobald aber eine Gefühlsäußerung ihrer Argumentationsführung dienen kann, setzt die Kandidatin ihre Emotionen sogar bewusst ein. Die Anfangspassage des Interviews mit Ségolène Royal am 20.11.2006 erscheint in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich.

Patrick Poivre d’Arvor fasst zunächst kurz den Stand der Dinge zusammen: Royal ist seit drei Tagen die designierte Präsidentschaftskandidatin. Er bittet die Politikerin daraufhin um eine Stellungnahme, wie sie nun 40 Millionen französische Wähler überzeugen will. Es handelt sich bei dieser Frage um einen sehr offenen Impuls. Umso aufschlussreicher ist daher die nachstehende Antwort von Ségolène Royal, welche ganz eindeutig von intentionalen Überzeugungsstrategien zeugt:

D'abord, je ressens un sentiment de fierté, de bonheur, mais aussi de gravité. Parce que c'est vrai que les militants socialistes [...] qui m'ont donnée un très large score [...] ont donné aux millions de Français, qui veulent que ça change, la force d'y croire. [...] Et c'est cela qui m'habite aujourd'hui, c'est le sentiment non pas de tirer une gloire personnelle de ce qui arrive, mais surtout le sentiment de ne pas décevoir (R.; 20.11.06: XXII, 9ff.).

Die Kandidatin gibt unaufgefordert ihren Emotionen fierté, bonheur und gravité Raum.

Den positiv konnotierten Empfindungen fierté und bonheur stellt sie das Gefühl der gravité gegenüber. Während Royal ihre Emotionen der fierté und des bonheur nicht weiter kommentiert, widmet sie sich im Weiteren ganz besonders der gravité. Auf diese Weise rückt sie dieses Gefühl ins Zentrum ihrer Aussage. Die Politikerin bestimmt es genauer als le sentiment de ne pas décevoir. Im Beharren auf diesem Gefühl des Drucks und der Verantwortung räumt die Kandidatin die Möglichkeit ein, dass sie all dem nicht gewachsen ist – Eingeständnisse, die dem Rezipienten in der politischen Welt unbekannt sind. Die Position der Äußerung als erste Stellungnahme in ihrer Rolle als Präsidentschaftskandidatin aber erhärtet den Befund, dass Royal ihr Gefühl der gravité konkret argumentativ einsetzt. Sie profitiert ganz offensichtlich von einem Überraschungseffekt beim Rezipienten, der nicht mit solchen Bekenntnissen rechnet und erstellt auf diese Weise ihr Profil: Sie ist eine menschliche Kandidatin, die aus Schwäche und Respekt vor Verantwortungsgefühl kein Geheimnis macht. Die Politikerin bietet sich somit als Identifikationsfigur an, denn auch sie ist nur eine unter ihren potentiellen Wählern. Ségolène Royal arbeitet folglich an ihrem Politikerinnenethos, indem sie sich des Pathos als Überzeugungsmittel bedient.

Ausgehend von der obigen Analyse sind mehrere Ergebnisse festzuhalten. Die Untersuchung des Interviews vom 30.08.2006 hat zeigen können, inwieweit die Kandidatin sich in einem Spannungsverhältnis zwischen vernunft- und

gefühlsgeprägten Äußerungen befindet. Obwohl die Fragen der Journalistin eindeutig auf eine Gefühlsregung der Politikerin abzielen, ist die Kandidatin darauf bedacht, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen rationalen und emotionalen Anteilen aufrecht zu erhalten. Ihre Gefühlsäußerungen zeugen deutlich von Ehrlichkeit, da sie Verletzlichkeit offen eingesteht.

Bei der Analyse des Interviews vom 20.11.2006 ist darüber hinaus deutlich geworden, dass die Spitzenkandidatin ihren Respekt vor Verantwortungsgefühlen nicht versteckt, sondern im Gegenteil argumentativ einsetzt. Unter Einbezug der Ergebnisse in Teilkapitel 3.3.6 steht fest: Ségolène Royal möchte nicht als skrupellose, selbstüberschätzte Führungsfigur erscheinen, sondern als Frau mit menschlichen Schwächen. Sie liefert ihrem Rezipienten auf diese Weise Identifikationsmöglichkeiten, so dass auch hier im Sinne von Ruth Amossy von einer inscription de l’affectivité zu sprechen ist.

Im Dokument Sprache im Kontext von Macht (Seite 59-62)