• Keine Ergebnisse gefunden

Emotionen im duel télévisé

Im Dokument Sprache im Kontext von Macht (Seite 103-108)

3.8 Die Spitzenkandidaten im duel télévisé

3.8.2 Emotionen im duel télévisé

Die Verfahren der inscription de l’affectivité bzw. der pathémisation sind in den Argumentationsführungen beider Spitzenkandidaten im duel télévisé vorzufinden.

Ségolène Royal führt in drei Fällen anrührende Zustandbeschreibungen an, mit denen sie auf einen effet de pathémisation bei ihrem Rezipienten am Bildschirm abzielt. In allen drei Passagen greift die Kandidatin auf dieses Überzeugungsmittel zurück, um bezogen auf die Projekte ihres Kontrahenten eine Gegendarstellung in Form einer Darlegung ihres Wahlprogramms abzuliefern. Das erste Beispiel stammt aus dem Anfangsteil des Fernsehduells und steht ganz im Zeichen von Royals offensivem Gesprächsverhalten in dieser Phase der Debatte. Die Politikerin konfrontiert ihren

146 Vgl. S.; 16.04.07: LXII, 43f.

Gegner im Folgenden mit nicht erfüllten Versprechungen während seiner Tätigkeit als Innenminister:

J'ajoute, Monsieur Nicolas Sarkozy, qu’ il y a deux jours, une femme policière s'est fait violer tout près de Bobigny, de son commissariat. [...]. Et au mois de mars dernier, au même endroit, l'une de ses collègues s'était également fait violer. Qu'est-ce qui s'est passé entre ces deux faits pour que aucune protection ne soit apportée à une femme policière? (R.;

Duell: LXVIII, 20ff.).

Die Kandidatin profitiert hier vom Vorwissen des Fernsehzuschauers hinsichtlich des aktuellen Vorfalls, um anhand dieses Einzelschicksals ihr Reformvorhaben zu illustrieren: Sie wird für die Begleitung von Polizeibeamtinnen auf ihrem Heimweg sorgen.147

Die beiden weiteren Beispiele sind Royals Ausführungen zu ihrer Immigrationspolitik zuzuordnen. Die Präsidentschaftskandidatin verwendet in beiden Passagen anrührende Darstellungen, um der Restriktion, für die Sarkozys Immigrationspolitik bekannt ist, ihre menschliche Sicht auf diese Probleme gegenüberzustellen. Auch im Folgenden nutzt die Kandidatin das Vorwissen ihrer Rezipienten aus, indem sie an Fernsehbilder mit jungen afrikanischen Männern in heruntergekommenen Booten anknüpft:

Je suis allée à Dakar. J'ai vu les familles dans ce village de pêcheurs où les jeunes partent en pirogue et se noient en mer. J’ai vu les mères de famille qui étaient là, elles n'ont pas envie que leurs enfants se noient en pleine mer pour rejoindre la France. Elles ont envie d'emplois, elles ont envie de micro crédits [...] (R.; Duell: CXI, 37ff.).

Den effet de pathémisation steigert Ségolène Royal dadurch, dass sie zum einen von ihrem persönlichen Erfahrungsschatz ausgeht – sie war in Dakar – und zum anderen Frankreich als Ziel dieser Form der Ausreise ausweist. Beim potentiellen Wähler löst das Heimatland als Zielvorstellung der jungen Männer Betroffenheit aus, auch wenn diese Information nicht den Tatsachen entspricht: Nachrichtenberichten zufolge hatten die Flüchtlinge die kanarischen Inseln, Spanien oder Portugal zum Ziel.148

Nur wenige Minuten später greift die Politikerin erneut auf diese Argumentationsstrategie zurück, wobei sie sich in der folgenden Passage in einem Wortgefecht mit ihrem Konkurrenten befindet. Wiederum nutzt Royal die Gelegenheit, Sarkozy sein Fehlverhalten als Leiter des Innenministeriums vorzuwerfen:

Je pense qu’aller arrêter un grand-père devant une école…[...] et devant son petit-fils, ce n'est pas acceptable dans la République française (R.; Duell: CXII, 43ff.).

Zur pathémisation dieser Äußerung tragen die Informationen bei, dass es sich um den Fall eines Großvaters handelt, der vorm Schulgebäude und vor den Augen seines Enkels verhaftetet wurde. Auch hier verwertet die Kandidatin den Popularitätsgrad dieses

147 Royals besonderes Engagement für Frauen kommt hier deutlich zum Ausdruck.

148 Bei der Formulierung [...] elle n’ont pas envie que leurs enfants se noient [...]. Elles ont envie [...]

handelt es sich um eine unpassende Wortwahl der Kandidatin, die auf Royals Polarisierung zwischen Negation und Affirmation in diesem Gefüge zurückzuführen ist. Solche kontrastiven Darstellungen konnten bereits bei Nicolas Sarkozy, nicht aber bei Ségolène Royal festgestellt werden (vgl.: 3.3.2; 3.6.2).

Schicksals – das polizeiliche Vorgehen gegenüber einem chinesischen alten Mann erschütterte die französische Bevölkerung.149 Die Argumentationsführung anhand eines Einzelschicksals legitimiert die Politikerin schließlich durch die Darstellung ihrer Handhabung mit illegalen Einwanderern nach dem Prinzip cas par cas.150 Beim Rezipienten kreiert sie somit ein Bild von sich als verständnisvolle Politikerin, die ihre moralischen Bedenken in politische Prozesse einbezieht.

Nicolas Sarkozy ist im duel télévisé in zwei Passagen ein Rückgriff auf eine inscription de l’affectivité nachzuweisen. Beide anrührenden Zustandsbeschreibungen beruhen auf Erlebnisberichten des Kandidaten. Auf gesundheitspolitischer Ebene kündigt Sarkozy einen Forschungsschwerpunkt bei der Bekämpfung der Alzheimer-Krankheit an. Er führt in diesem Rahmen folgende Schicksalsbeschreibung an:

J'ai vu dans une maison en Bretagne un cas, monsieur de 63 ans, agriculteur toute sa vie, en un an, il est devenu totalement autre, ne reconnaissant plus les siens (S.; Duell: LXXXIV, 40ff.).

Die von den Symptombeschreibungen unabhängigen Angaben – monsieur de 63 ans, agriculteur toute sa vie – veranschaulichen die Lebenssituation dieses Mannes und rufen zugleich einen effet de pathémisation hervor: Der Bericht über den vergleichsweise jungen Alzheimer-Kranken und über seinen unermüdlichen Fleiß als Bauern vor dieser Diagnose steigert die Empathie des Rezipienten.

Die nachstehende Beschreibung Sarkozys ist durch eine offensive Fragestellungen seiner Konkurrentin motiviert.151 Ségolène Royal verlangt von Sarkozy eine Stellungnahme zu seinem Versprechen, allen misshandelten, illegalen Frauen in Frankreich die französische Staatsbürgerschaft zu gewähren.152 Um einer direkten Antwort auszuweichen, legt Nicolas Sarkozy seine Eindrücke bei seinem Besuch in einem Frauenhaus dar:

J'étais dans une association qui [...] s'occupe de femmes au bout du bout du bout de la détresse. Il y en avait douze dans la salle. Je connais très bien la dirigeante de cette association avec qui je travaille depuis longtemps [...] ce sont des femmes poursuivies, qui ont été violées, qui ont été battues et que j’imagine la France que j'imagine est une France généreuse et accueillante (S.; Duell: CXIV, 16ff.).

Der Präsidentschaftskandidat setzt hier in der redundanten und damit dramatisierten Darstellung au bout du bout du bout sowie dem Einleitungssatz Il y en avait douze dans la salle zu einem anrührenden Erlebnisbericht über seine Wahrnehmung dieser misshandelten Frauen an. Seine Beschreibung erfährt dann jedoch einen Bruch durch

149 Eine Welle von Protesten besonders im Bildungsbereich schloss sich an diesen Vorfall an.

150 Nicolas Sarkozy erkennt die Strategie seiner Konkurrentin und bagatellisiert ihre Argumentations-führung wie folgt: «Qu'est-ce qui vous a choqué? Que c'était devant l’école ou que la police de la République faisant un contrôle découvre quelqu'un qui n'a pas de papier? Alors s’il était dans une autre rue, il était normal que la police fasse son travail [...]» (S.; Duell: CXIII, 23ff.).

151 Vgl. R.; Duell: CXIV, 10ff.

152 In seiner Wahlkampfrede in Paris-Bercy verspricht Sarkozy sogar jeder Frau, martyrisée dans le monde, die französische Staatsbürgerschaft (vgl. S.; Bercy: LII, 6f.). Vgl. 3.6.4.

die Ausführungen über die Direktorin der Einrichtung Cœur de Femmes. In den darauf folgenden Sätzen fehlt ebenfalls Sarkozys gewohnte Detailfreudigkeit und Brisanz in der Illustration von Einzelschicksalen. Nicolas Sarkozy verfängt sich in der unebenen, generalisierenden Formulierung que j’imagine la France que j’imagine est une France généreuse et accueillante. Dieser unausgereifte Argumentationsaufbau ist auf die Bedrängung durch Ségolène Royal in dieser Passage zurückzuführen: Auf die wiederholte Frage der Politikerin, ob er allen misshandelten Frauen in Frankreich die Staatsbürgerschaft bewilligen wird, kann Nicolas Sarkozy nur sehr einschränkend bestätigen: «Madame...en tous cas...de Cœur de Femmes, oui» (S.; Duell: CXIV, 31).

Einen Schwerpunkt im face à face bildet eine gefühlsgeladenen Passage, da der Streit zwischen den Kandidaten nur in dieser Phase des Fernsehduells so erheblich eskaliert.

Kernstück der Sequenz ist ein Wutausbruch der Spitzenkandidatin. Ausgehend von Ruth Amossy ist auf argumentationsanalytischer Ebene nicht die Manifestation der Gefühlsäußerung primärer Untersuchungsgegenstand, sondern die Überzeugungs-strategien bei einem solchen Gesprächsverhalten. Erstmalig in dieser Korpusanalyse sind in den Gesprächsanteilen beider Politiker Ansätze des Verfahrens zu verzeichnen, welches Amossy als argumenter l’émotion bezeichnet.153

Im vorliegenden Passus sind bildungspolitische Fragen der Streitpunkt. Der Präsidentschaftskandidat rechtfertigt vor Royal sein Vorhaben, ein Recht für Eltern auf die Einklage von Plätzen in Bildungseinrichtungen durchzusetzen. Diese Replik leitet er wie folgt ein: «Je vais prendre un exemple qui va peut-être vous toucher...et vous allez mieux comprendre ma pensée» (S.; Duell: CII, 25f.). Sarkozy erörtert hier auf einer metasprachlicher Ebene die Argumentationsstrategie der inscription de l’affectivité: Er wird ein Beispiel anführen, dass seine Gegnerin berührt. Es folgen Ausführungen über seine Projekte der Integration behinderter Kinder in den traditionellen Schulbetrieb und über die juristische Unterstützung von Eltern, «ayant rencontré le drame du handicap»

(S.; Duell: CII, 40f.). Ségolène Royal deutet diese Angaben als den Gipfel politischer Unmoral – sie habe eigens als Ministre de l’Enseignement Scolaire ein derartiges Projekt ins Leben gerufen. Dieses sei von der konservativen Regierung wieder abgeschafft worden (vgl. R.; Duell: CII, 53ff.). Vor diesem Hintergrund wirft die Kandidatin ihrem Konkurrenten unaufrichtige Effekthascherei vor:

Et je trouve que la façon dont vous venez de nous décrire, comme ça la larme à l'œil, le droit des enfants handicapés d'intégrer à l'école, alors que les associations des parents d'handicapés ont fait des démarches désespérées auprès de votre gouvernement [...] (R.;

Duell: CIII, 8ff.).

153 Vgl. 3.3.6.

Sarkozys Ausführungen bewertet sie als vorgetäuschte Rührung – la larme à l’œil – eine Auffassung, die der Definition Charaudeaus einer pathémisation nahe kommt.

Aufhänger für den emotionsgeladenen ,Wortschwall’ der Politikerin ist demzufolge Sarkozys Rückgriff auf diese Argumentationsstrategie.154 In den Mittelpunkt ihrer Kritik rückt sie überdies die Unverhältnismäßigkeit zwischen Sarkozys Worten und seinen Taten. Dabei maßregelt Royal ihren Konkurrenten in einer direkten Anrede wie folgt:

Non, Monsieur Sarkozy, tout n'est pas possible dans la vie politique, tout n’est pas possible...ce discours, cet écart entre le discours et les actes, surtout lorsqu'il s'agit d'enfant handicapé, n'est pas acceptable. Je suis très en colère (R.; Duell: CIII, 24ff.).

Ihre Nachdrücklichkeit bei der Aussage tout n’est pas possible ist als Anspielung auf Sarkozys wiederholte sinngemäße Anwendung seines Wahlspruchs Ensemble tout devient possible zu verstehen. Des Weiteren inszeniert sich die Kandidatin durch diese Äußerung als diejenige, welche die Undifferenziertheit des Politikers nach seinem Vorsatz Tout est possible unterbindet.155 Als Pointe und gleichzeitig als Legitimation ihres Redeflusses fungiert die Angabe Je suis très en colère. Diese explizite Bezeichnung ihres Gefühlzustandes im Anschluss an ihre Argumentationsführung lässt auf ihre Einbindung der Strategie argumenter l’émotion schließen. Darüber hinaus provoziert die Politikerin durch ihr Bekenntnis der Wut eine Debatte über dieses Gesprächsverhalten. Ihre Taktik geht auf: Nicolas Sarkozy stimmt in das Argumentationsverfahren ein, indem er Royal im Hinblick auf das Präsidentschaftsamt starke Nerven und Gelassenheit anempfiehlt (vgl. S.; Duell: CIII, 36). Die Präsidentschaftskandidatin nutzt diese Belehrung, um die Auseinandersetzung auf dieser Argumentationsebene fortzuführen. Sie entgegnet ihrem Gesprächspartner auf den Vorwurf, sie solle sich beruhigen:

Non, pas quand il y a des injustices. Il y a des colères qui sont parfaitement saines, parce qu'elles correspondent à la souffrance des gens. [...] Il y a des colères que j'aurai, même quand je serai Présidente de la République… (R.; Duell: CIII, 37ff.).

Die Aufrechterhaltung dieser Gesprächsebene gestaltet sich insofern zum Vorteil für Ségolène Royal, als sie Raum für ihre Überzeugungsarbeit an ihrem Ethos gewinnt: Sie empfindet Wutanfälle als gesunde, menschliche Reaktion und wird auch noch als Präsidentin das Leid ihrer Mitmenschen zum Anlass für Gefühlsausbrüche nehmen.

Hervorzuheben ist ferner, dass die Kandidatin das Argument der colères saines in der folgenden langwierigen Kontroverse mit Nicolas Sarkozy zwei weitere Male geradezu stereotyp einsetzt.156

154 Es liegt hier ferner eine unvollständige syntaktische Struktur vor, so dass sich Royals Emotionalität, wie in 3.3.4 beschrieben, auf den formalen Aufbau ihrer Satzgefüge auswirkt.

155 Vgl. 3.7.1.

156 Vgl. R.; Duell: CIV, 8f; CV, 41ff..

Unter Einbezug der Ergebnisse aus den Teilkapiteln 3.3.6 und 3.4.2 wird somit deutlich, dass sich Royal hier erneut als fehlbare, verletzliche und damit menschliche Politikerin in Szene setzt. Während die Spitzenkandidatin das Überzeugungsverfahren der pathémisation bei ihrem Kontrahenten kritisiert, greift sie selbst auf eine Strategie im Rahmen des Pathos zurück – auf argumenter l’émotion. Royals Wut entzündet sich nicht innerhalb eines aufgeladenen Wortgefechts mit Nicolas Sarkozy, sondern im Anschluss an eine längere Stellungnahme des Kandidaten. Würde es sich um einen unkontrollierten, nicht intendierten Gefühlsausbruch der Politikerin handeln, hätte Ségolène Royal ihrem Gesprächspartner ins Wort fallen können. Stattdessen kündigt die Kandidatin den anwesenden Personen gefasst ihr Anliegen an, sich zu den Ausführungen Sarkozys zu äußern: «Attendez...j’ai quelque chose à dire» (R.; Duell:

CII, 50). Es folgt ein langer Monolog, in dem die Politikerin ihre Anschuldigungen steigert und zunehmend eigene Gefühlsbeteiligung einfließen lässt. Dieser Befund führt zu der Annahme, dass Ségolène Royal die Gelegenheit bewusst nutzt, ihre Revolte gegen Sarkozys Unaufrichtigkeit auszugestalten. Ihr Gefühlsausbruch ist kein Ergebnis willkürlicher, unkalkulierter Regungen, sondern ist in der Konfrontation mit Nicolas Sarkozy argumentativ aufbereitet.

Die vorangegangene Analyse hat verdeutlicht, dass die Argumentationsstrategie der inscription de l’affectivité auch in dieser Kommunikationssituation von Bedeutung ist.

Ségolène Royal konnte ein deutlich ausgeprägterer Rückgriff auf dieses Überzeugungsmittel nachgewiesen werden als ihrem konservativen Gegner. Die Ausgestaltungen der Schicksalsbeschreibungen bei Nicolas Sarkozy sind unter Berücksichtigung der bisherigen Erkenntnisse in dieser Korpusanalyse bisweilen als wenig gefühlsanrührend und undetailliert beschrieben worden.

Neben der Ausnutzung eines effet de pathémisation beim Fernsehzuschauer wurde in einer zentralen Passage des Fernsehduells die Einbindung der Überzeugungsstrategie argumenter l’émotion hervorgehoben. Der Wutausbruch Royals in dieser Sequenz der Debatte wurde als durchdachte Argumentationsstrategie der Kandidatin aufgefasst: Ihre Emotionalität ist als Überzeugungsarbeit an ihrem Ethos als Politikerin gedeutet worden.

Im Dokument Sprache im Kontext von Macht (Seite 103-108)