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Das 20. Jahrhundert und die geistige Auseinandersetzung zwischen Mensch und Außenwelt

Kategorie 3: Sprache und Kultur

10. Visionen und radikale Anregungen für die Praxis der Berufs(aus)bildung

11.2 Ästhetische Bildung

11.2.4 Ästhetische Theorien

11.2.4.5 Das 20. Jahrhundert und die geistige Auseinandersetzung zwischen Mensch und Außenwelt

1910 hatte Wassily Kandinsky das Manuskript von "Über das Geistige in der Kunst" mit dem Hauptziel fertig gestellt, die Fähigkeit für das Erleben des Geistigen in der Kunst im Menschen anzuregen (vgl. Kandinsky, 1952, S. 5).

"Damals lebte ich noch in dem Wahn, dass der Beschauer sich mit offener Seele dem Bild gegenüberstellt und eine ihm verwandte Sprache herauslauschen will" (Kandinsky, 1952, S. 6).

"Mein Buch, „Über das Geistige in der Kunst" und ebenso, „Der blaue Reiter" hatten hauptsächlich zum Zweck, diese unbedingt in der Zukunft nötige, unendliche Erlebnisse ermöglichende Fähigkeit des Erlebens des Geistigen in den materiellen und in den abstrakten Dingen zu wecken" (Kandinsky, 1952, S. 6).

„Die banalen Nachahmungstheorien, von denen unsere Ästhetik dank der sklavischen Abhängigkeit unseres gesamten Bildungsgehaltes von aristotelischen Begriffen nie loskam, haben uns blind gemacht für die eigentlichen psychischen Werte, die Ausgangspunkt und Ziel aller künstlerischen Produktion sind" (Kandinsky, 1952, S. 11).

„Diese metaphysische Auffassung ist mit der Erkenntnis gegeben, dass alle künstlerische Produktion nichts anderes ist als eine fortlaufende Registrierung des großen Auseinandersetzungsprozesses, in dem sich Mensch und Außenwelt seit Anbeginn der Schöpfung und in aller Zukunft befinden" (Kandinsky, 1952, S. 11).

„Jedes Kunstwerk ist Kind seiner Zeit, oft ist es Mutter unserer Gefühle" (Kandinsky, 1952, S. 21). „Wir können z. B. unmöglich wie alte Griechen fühlen und innerlich leben. So

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können auch die Anstrengungen, z. B. in der Plastik die griechischen Prinzipien anzuwenden, nur den griechischen ähnliche Formen schaffen, wobei das Werk seelenlos bleibt für alle Zeiten" (Kandinsky, 1952, S. 21). (Es ist nichts weiter als Nachahmung).

„Das geistige Leben, zu dem auch die Kunst gehört und indem sie eine der mächtigsten Agentinnen ist, ist eine komplizierte aber bestimmte und ins Einfache übersetzbare Bewegung vor- und aufwärts. Diese Bewegung ist die der Erkenntnis" (Kandinsky, 1952, S. 26f).

„Verstehen" ist demnach das Heranbilden des Zuschauers auf den Standpunkt des Künstlers. Die Kunst ist das Kind ihrer Zeit und eine derartige Kunst kann nur das künstlerisch wiederholen, was schon die gegenwärtige Atmosphäre klar erfüllt. Diese Kunst, die keine Potenzen der Zukunft in sich birgt, die also nur eine Wiederholung der Zeit ist, wird nichts Neues und Eigenständiges schaffen können. Die andere, zu weiteren Bildungen fähige Kunst wurzelt auch in ihrer geistigen Periode, ist aber zur selben Zeit nicht nur Echo derselben und Spiegel, sondern hat eine weckende prophetische Kraft, die weit und tief wirken kann.

So stellen sich allmählich verschiedene Künste auf den Weg, das zu sagen, was sie am besten sagen können, und durch die Mittel, die jede von ihnen ausschließlich besitzt.

In allem Erwähnten sind die Keime des Strebens zum Nichtnaturellen, Abstrakten und zu innerer Natur. Bewusst oder unbewusst gehorchen sie dem Worte Sokrates: „Erkenne dich selbst!" (Kandinsky, 1952, S. 54).

Benedetto Croce (1866 bis 1952) schuf eine geeignete Grundlage zum Verständnis der modernen Kunst. Er unterscheidet 2 Arten von Erkenntnis:

1. die logische, vom Verstand ausgehende Erkenntnis, die Begriffe hervorbringt und 2. die Phantasie die Vorstellungsbilder vermittelt, die intuitive Erkenntnisart. Diese ist das

entscheidende Bestimmungsmerkmal der Kunst!

Intuitionen sind keine passiven Empfindungen, sondern aktive geistige Formungen eines vorgegebenen Gegenstandes. Eine Intuition, die sich nicht ausdrücken lässt, ist in Wahrheit nur Empfindung. Alle Erkenntnis lässt sich für Croce ausdrücken! (vgl.

Hauskeller, 1999, S. 65).

Erst im Augenblick der Ausdrucksfindung wird auch Erkenntnis erlangt. Kunst ist also der Ausdruck intuitiver Erkenntnis! Davon abgeleitet lässt sich sagen: der Künstler zeichnet sich durch seine überragende Vorstellungskraft aus und nicht durch seine technischen Fähigkeiten. Die Wahrnehmung rückt so zu einem wesentlichen Element der Kunst auf!

So verstanden ist eigentlich alles, was der Mensch hervorbringt, Kunst, sofern es Ausdruck seiner geistigen Tätigkeit ist. (Hauskeller, 1999, S. 66) „Alle Kunst ist Ausdruck und aller Ausdruck Kunst" (Hauskeller, 1999, S. 66).

Der Weg ist frei für das viel zitierte Diktum Joseph Beuys`, dass jeder Mensch ein Künstler sei. (Croce, 1930, S. 17). Der Begriff des Schönen verliert für die Ästhetik jede differenzierte Bedeutung und wird als zentrale Kategorie überflüssig.

Somit gibt es auch schlechte Künstler, denen es nicht gelingt, etwas präzise zu erfassen und auszudrücken, also gescheiterte Versuche, Kunst hervorzubringen (vgl. das Diktum von Beuys, dass jeder ein Künstler sei ...).

Die Wahrnehmung der Welt wurde durch die Erfindung von Fotoapparat, Film, Rundfunk, Fernsehen verändert. Geschehnisse und Dinge, die ihrer Natur nach zwar nur von wenigen Menschen unmittelbar in sinnlicher Gegenwart erfahren werden konnten, ließen sich nun scheinbar genauso, wie sie sich abgespielt hatten, über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg festhalten und einer unbegrenzten Anzahl von Menschen zugänglich machen.

Millionen von Menschen konnten auf einmal wenigstens die Illusion der Teilnahme an einem Ereignis haben (heute heißen diese Medien Computer, Internet, ...).

Walter Benjamin (1892 bis 1940) beschäftigte sich mit den Auswirkungen der neuen

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Medien auf die Kunst. Er sieht Fotografie und Film durchaus als innovative Kunstform an, wenngleich er als wesentlichen Unterschied die "fehlende Aura" beschreibt: Aura entsteht aus der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Erlebten. Diese Aura und dadurch der Zugang zu einem schöpferischen Prozess geht verloren!

Benjamin erlebte hautnah die faschistische Instrumentalisierung von Begriffen wie Schöpfertum und Genialität, die bisher an die Aura des Kunstwerks geknüpft waren. Es fand eine Verlagerung des Schöpfungsprozesses vom Menschen auf die Apparatur statt - der Faschismus betrieb sehr erfolgreich die Ästhetisierung und Autorisierung des politischen Lebens (vgl. Hauskeller, 1999, S. 72). Kunst war der Verfestigung des Bestehenden dienlich, gerade weil sie nicht politisch ist! Benjamin forderte also die Politisierung der Kunst. Das bedingt für ihn die Zerstörung der Aura, Genuss und Kritik fallen zusammen. Kunst ist Konfrontation mit der Realität.

„Die neue Kunst, so wie Benjamin sie versteht, setzt bewusst auf physische Schockwirkungen, um ihr Ziel zu erreichen, den Betrachter aufzurütteln" (Hauskeller, 1999, S. 74). Ein Werk darf eine ehrfürchtige Haltung gar nicht aufkommen lassen - dadurch kommt der Betrachter in eine kritische, begutachtende Haltung. Benjamin ging es darum, die Veränderung der Kunst seit der Jahrhundertwende auf den Begriff zu bringen.

Adornos (1903 bis 1969) Ästhetische Theorie steht ganz im Zeichen von Auschwitz. Für ihn gibt es nichts, was den Schatten der Massenvernichtungslager entgehen könnte, am allerwenigsten die Kunst. "Hörte die Kunst auf zu sein, so würde mit ihr auch jeder Widerstand gegen das Bestehende untergehen ... und damit jede Hoffnung auf eine andere bessere Realität..." für immer zunichte machen (Hauskeller, 1999, S. 81).

Kunst wird zur Erinnerung an das, was noch nicht ist, aber sein könnte, das ausstehende Glück. "In jedem genuinen Kunstwerk erscheint etwas, was es nicht gibt" (Adorno, 1973, S. 127).

Kunst hat zu zeigen, was ist, aber auf eine Weise, dass dessen Falschheit erkennbar wird und damit zugleich das, was sein könnte, aber nicht ist.

Die heutige Gesellschaft und Ökonomie strebt danach, sich die Kunst einzuverleiben, ihr selbst da, wo sie sich kritisch oder irrational gibt, einen Platz im gut funktionierenden System zuzuweisen ... und somit die Sprengkraft zu neutralisieren.

Kunst wird von der Gesellschaft vereinnahmt! Die allgegenwärtige Kulturindustrie ist wachsam und imstande, alles zu kommerzialisieren. Um sich der Vereinnahmung zu entziehen, ist die moderne Kunst gezwungen, sich immer wieder neu gegen die Realität abzugrenzen.

„Die Ware Kunst zielt auf die aristotelische Katharsis zum Zweck der Ersatzbefriedigung, macht uns vor, alles sei gut, obwohl doch nichts gut ist". Für Adorno sollte die Kunst die Mangelhaftigkeit der bestehenden Welt offenbaren und zugleich auf die Möglichkeit einer besseren Welt hindeuten! "In einer Welt, aus der die Farbe verschwunden ist, kann Kunst nur finster und schwarz sein" (Hauskeller, 1999, S. 83). Mit dem Wahren, Schönen und Guten kann man sich in einer pervertierten Welt nur noch beflecken. „Kunst muss grausam sein, muss Chaos in die Ordnung bringen ... Kunst muss wehtun, die Unwahrheit des gesellschaftlichen Zustands gegen alle Widerstände und Friedensangebote ans Licht zerren. Kunst hat immer, zu jeder Zeit, unverständlich zu sein. Das ist ihr Adel"

(Hauskeller, 1999, , S. 85). Eben weil Kunst rätselhaft ist, bedarf sie der Interpretation.

Für Adorno sollte die Kunst die Mangelhaftigkeit der bestehenden Welt offenbaren und auf die Möglichkeiten einer besseren Welt hindeuten.

Auch für den amerikanischen Philosophen Nelson Goodman (1906) ist Kunst an der Schöpfung von Welt beteiligt. Welt wird erschaffen durch die Art, wie wir uns ihr zuwenden, sie anschauen, definieren und beschreiben. Jedes Kunstwerk bezieht sich auf etwas, ist nicht einfach nur da. Die Sinnesorgane dienen uns nicht dazu, eine gegebene Welt aufzunehmen, sondern dazu, sie für uns herzustellen.

Jede Wahrnehmung ist eng mit der Interpretation verbunden. Kunst dient also dem

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"Erfassen, Erkunden und Durchdringen der Welt" (Goodman, 1973, S. 259, vgl.

Hauskeller, 1999, S. 88).

Kunst bringt die vertraute Welt ins Wanken und eröffnet neue Perspektiven, aber was neu ist, kann veralten. So ist eine entscheidende Frage nicht, was Kunst ist, sondern wann sie ist. Für Goodman ist sie genau dann, wenn sie unsere Erkenntnis erweitert.

11.2.4.6 Der erweiterte Kunstbegriff - „Die Zukunft der Welt muss ein Werk des Menschen

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