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Friedrich Nietzsche und die Suche nach dem Schöpferischen

Kategorie 3: Sprache und Kultur

10. Visionen und radikale Anregungen für die Praxis der Berufs(aus)bildung

11.2 Ästhetische Bildung

11.2.1 Friedrich Nietzsche und die Suche nach dem Schöpferischen

Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) trat als Zeit- und Kulturkritiker auf und wandte sich auch gegen das deutsche Bildungssystem bzw. die deutsche Kultur und entwarf ein Bild des deutschen Geistes. Mit der Schrift „Die Geburt der Tragödie" wandte sich Nietzsche gegen Sokrates und damit gegen den Geist der Aufklärung (vgl. Friedrich Nietzsche, Fünf Vorträge über die Zukunft der/unserer Bildungsanstalten, 1872). Für ihn entartete der Mensch zum Haustier durch jahrtausendlange Anstrengungen von Moral, Religion, Idealismus und allerlei Dompteuren der Menschheit. Für ihn war es an der Zeit dies zu verändern ...

Moral bspw. war für Nietzsche eine Erfindung der Schwachen zum Zweck der Kompensierung ihrer natürlichen Defekte durch unnatürliche Tugenden (vgl. Swassjan, 1994, Nietzsche, S. 82f). Nietzsche stand an einem ähnlichen Wendepunkt der abendländischen Philosophie und Geistesgeschichte wie wir heute in den ersten Jahren des 3. Jahrtausends stehen, wenn wir die gesellschaftliche und sozialwissenschaftliche Entwicklung betrachten (vgl. die Ausführungen unter den Punkten 6 bis 8).

Nietzsche hat die abendländische Philosophie am Ende des 19. Jahrhunderts transformiert und weiterentwickelt. Dabei hat er die Kunst, d. h. die Perspektive des Künstlers als elementare Kategorie des Fragens und Philosophierens eingeführt, womit er eine grundlegende Perspektivverschiebung des abendländischen Philosophierens vollzog.

Die klassische Grundfrage „was ist das Sein“ hob er auf eine andere Ebene, nämlich dorthin wo das Sein ein Werden ist, wo es noch „plastisch„ ist und suchte in der Auseinandersetzung und Reibung das Schöpferische. (Nietzsche stand an einem ähnlichen Wendepunkt der abendländischen Philosophie und Geistesgeschichte wie wir

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heute in den ersten Jahren des 3. Jahrtausends stehen, wenn wir die gesellschaftliche und sozialwissenschaftliche Entwicklung betrachten (vgl. die Ausführungen unter den Punkten 6 bis 8.). Die geistige und kulturelle Wirklichkeit vor rund 100 Jahren war wie heute durch den Zerfall der überkommenen, traditionellen Werte, Zielvorstellungen und Leitideen geprägt. Es begann die Zeit des Nihilismus (Grundtenor: "Gott ist tot").

Nietzsche ging es um die Überwindung des Nihilismus, d. h. um das Hervorbringen von neuen Werten und Wirklichkeiten. Bei der Organisation und Gestaltung einer gegenwarts- und zukunftsorientierten Berufsbildung werden die Auswirkungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandlungen im Lebensausdruck der orientierungssuchenden Jugendlichen besonders deutlich. Das bedingt die Suche nach neuen Formen der Zusammenarbeit und nach Möglichkeiten der Organisationsgestaltung, nicht nur um die Herausforderungen bewältigen zu können, sondern es geht um die Gestaltung der jeweils eigenen Lebenswelten durch die Menschen selbst.

Während die Werke von Aristoteles, Kant, Hegel auch ohne Schilderung des Lebens dieser Denker zu begreifen sind, ist dies bei Friedrich Nietzsche anders. Die Kenntnis der persönlichen und privaten Lebensumstände ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis seiner sich wandelnden Lehren (Frenzel, 2000, S. 8). Nietzsches Zweifel, bis hin zur völligen Ablehnung des Christentums, vollzogen sich allmählich und sind biografisch begründet.

11.2.2 Weltanschauungen

11.2.2.1 Ästhetische Weltsicht und das dionysisches Gestaltungsprinzip

Er entwickelte das Begriffspaar apollinisch und dionysisch, das eine Schlüsselfunktion für sein gesamtes späteres Denken einnahm. Es werden damit künstlerische, irrationale Mächte bezeichnet, die ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers hervorbrechen und aus der ästhetischen Erfahrung gewonnen werden. In der hellenischen Kunst wurde die dionysische durch bestimmte apollinische Formen gebunden. „Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst“ (Nietzsche, 1999, Seite 26). „In der ästhetischen Traumwelt wird Apollo erfahren. Er beherrscht den schönen Schein der Phantasie-Welt. Die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit ... (Nietzsche, 1999, S. 27f). Unter dem Bund des Dionysischen schließt sich der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen:

Auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit dem Menschen („dem verlorenen Sohn"). Das Evangelium der Weltenharmonie setzt ein. Der Mensch äußert sich als Mitglied einer höheren Gemeinschaft ...“ (Nietzsche, 1999, S. 28f).

Das Leben ist für Nietzsche der Wille zur Macht. Für ihn gilt es zu wählen zwischen dem Leben und dem Lebensschöpfer Gott (für Nietzsche ist es eher der Lebensverneiner), der den Menschen die Geistigkeit für den Preis des Lebens verleiht (vgl. Swassjan, 1994, S.

109). Nietzsche wählt das Leben. Ihm geht es um die Freiheit von allen irdischen Werten.

Sein Verständnis von Philosophie fordert eine Erneuerung des Denkens von Grund auf, um eine radikale Form von Wahrheit suchen zu können. Wahrheit suchen und dabei immer wieder zu irren, ist das paradoxe Programm, das Nietzsche mit unheimlicher Eindringlichkeit entwickelt (vgl. Ross, 1994, S. 133f).

Nietzsche forderte ein Misstrauen gegen alle Wahrheitsansprüche. Alle Wahrheiten werden, ebenso wie alle Wertsetzungen vergangener Zeiten, relativiert werden; er nennt es „perspektivisch". Für Nietzsche ist der stärkste und eigentliche Trieb der künstlerische, demnach hat die Welt keine moralische Rechtfertigung. Sie ist für ihn nur als Ausdruck der Macht des „griechischen Gottes Dionysos" zu verstehen.

Die Wahrheit legt für Nietzsche immer nur eine bestimmte Perspektive als die scheinbar allein gültige fest, während die Kunst den gesamten Umwandlungsprozess, d. h. das Werden als Grundprinzip, als höchste Gesetzlichkeit des Daseins, als Vollzugsprozess des "Willens zur Macht" sichtbar macht. Damit versteht er die Welt als künstlerischen

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Prozess und als ästhetisches Geschehen. Das Grundprinzip besteht darin, die Wirklichkeit vom Gesichtspunkt des Werdens, die Welt als ästhetisches Geschehen, als "ein sich selbst gebärendes Kunstwerk" zu verstehen (Nietzsche, 1964, S. 533).

11.2.2.2 Wissenschaftliche Weltanschauung

Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis ist das Auffinden von Naturgesetzen (Regeln) der gewordenen Welt, mit denen die Erscheinungen von ihr erklärt werden können. Das Subjekt (Ich) und das Objekt (Welt) stehen sich dabei getrennt gegenüber.

"Das Subjekt erlebt die Welt als etwas, was ohne sein zutun zustande gekommen ist"

(Scharmer, 1991, S. 53).

Basis ist das Paradigma, dass die Welt im Prinzip kognitiv penetrierbar (durchdrungen) und mit Hilfe instrumentalen (zusammengehörigen Werkzeugen) Wissens steuerbar sei.

Die Grundstruktur des wissenschaftlichen Weltbildes ist atomistisch ("kleine Teile"): Es gibt eine bestimmte Summe von beschriebenen Stellen, diese sind zu Abteilungen, Funktionsbereichen verknüpft ... die alle durch das Topmanagement geführt werden. Die Aufgaben sind deduktiv (ableitend), d. h. es geht um die einwandfreie Gestaltung der Formalstruktur gemäß dem obersten Zweck des Unternehmens, nämlich der Besetzung der entsprechenden Stellen (vgl. im Forschungsteil die Formalstruktur der Berufsbildung Voith, 1999. Die Gestaltung der Organisation nach den Leitgedanken von Dr. Hanns Voith sind nur über eine ästhetische Weltsicht und die Einbeziehung aller beteiligten Menschen, v. a. der Fachausbilder und Lehrkräfte umzusetzen).

Für den Bereich der Unternehmensgestaltung (Berufsbildung Voith) gab es ein Wissen darüber, wie eine erfolgreiche Organisation konstruiert ist. Dies hieß, die Verfassung der Abteilung wurde auf der Basis des verfügbaren Unternehmens konstruiert und sah keine Beteiligung der betroffenen Individuen vor. Das einzelne Individuum stand der Beschreibung seiner Stelle und der Verfassung des Unternehmens fremd gegenüber. (vgl.

die Stellenbeschreibung des Fachausbilders wurde bis 1999 ohne Beteiligung der Menschen formuliert, die arbeitsorganisatorischen Entwicklungsplanungen wurden durch die Personal- und Ausbildungsleitung vorgenommen). Der Einzelne (z. B. der Fachausbilder) hatte an dem Zustandekommen, der Entwicklung der Organisation Berufsbildung Voith kaum Anteil.

11.2.2.3 Moralische Weltanschauung

Datenbasis der „moralischen Weltanschauung" ist nicht das Gewordene, sondern das intendierte (geplante, angestrebte) Objekt. Ziel der Erkenntnis ist das Verstehen des jeweils besonderen und einzigartigen Sinn- und Bedeutungszusammenhangs (Scharmer, 1991, S. 53).

Die Differenz zwischen dem Wissen und der Wirklichkeit bzw. der Verfassung (Stellen) und den Mitgliedern (Personen) einer Organisation ist (noch) nicht existent, die genannten Relationen (Beziehungen, Verhältnisse) sind hier nicht durch Differenz, sondern durch Identität gekennzeichnet.

Historisch ist der moralische Typus dieser Art der Unternehmensführung, z. B. ein patriarchalisch geführtes Familienunternehmen. Der Unternehmer ist Gründer, Eigentümer und möglicherweise auch Erfinder des zentralen und identitätsstiftenden Produktes (vgl. die Person Dr. Hanns Voith und die Entwicklungsgeschichte der Berufsbildung Voith). Das Charakteristikum dieser Verfassung ist die Identifikation. Der Patriarch identifiziert sich nicht nur mit seinem Unternehmen, er ist das Unternehmen. Die restlichen Mitglieder der Organisation haben zwei Möglichkeiten:

(1) entweder sie identifizieren sich mit dem Unternehmen (vollständige Internalisierung aller Unternehmenswerte), oder

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(2) sie führen ein mehr oder weniger unbehelligtes Schattendasein.

Der Patriarch fühlt sich nicht nur formal, sondern auch moralisch für „seine Leute"

verantwortlich. Das Unternehmen ist nicht durch harte Formalstrukturen, sondern durch weiche, familienähnliche Verhältnisse verfasst. Der Zusammenhang besteht nicht in explizierten Regeln, sondern in implizierten, in den Köpfen befindlichen Werten (vgl. die Entstehungsphase der Berufsbildung Voith in den Jahren um 1965 und die entstandenen idealistischen Leitsätze von Dr. Hanns Voith).

11.2.2.4 Ästhetische Weltanschauung

Die ästhetische Weltanschauung betrachtet die Welt weder als gewordene, noch als rein intendierte, sondern, gleichsam dazwischen liegend, als Werdende. „Der Prozess der Weltentstehung wird weder ex post noch ex ante, sondern im Modus der Gleichzeitigkeit, d. h. als plastischer Prozess betrachtet" (Scharmer, 1991, S. 53).

Das Verhältnis von Subjekt und Objekt (Ich - Welt - Relation) ist weder durch Identität (moralische Weltanschauung), noch durch Trennung (wissenschaftliche Weltanschauung), sondern durch Gestaltung und wechselnde Transformation (Umformung) gekennzeichnet. Datenbasis dieser Wirklichkeit ist die werdende Welt. So wie die Welt als etwas Plastisches angesehen wird, sehe ich auch die Organisation der Berufsbildung als etwas Gestaltbares, veränderbares und transformierbares an, (vgl. die Entwicklung des Förderlehrgangs Voith und den Aufbau einer Privaten Sonderberufsfachschule und der Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme).

Ziel der künstlerischen Erkenntnis ist nicht das Finden von abstrakten Gesetzen, die als abgetrennte Regeln der Natur bzw. der Gesellschaft zu Grunde liegen (Naturgesetze, Moralgesetze). "Die künstlerisch-ästhetische Erkenntnis zielt vielmehr darauf, in der konkreten Wahrnehmung des Einzelnen des Allgemeinen ansichtig zu werden. Der künstlerische Blick sieht die Welt nicht als etwas Abgeschlossenes, Gewordenes an, sondern als einen in Bewegung befindlichen, plastischen Prozess" (Scharmer, 1991, S.

54).

Ziel ist nicht, die soziale Wirklichkeit mit angeblichen „Gesetzmäßigkeiten" zu zementieren ..., sondern aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen sich diese

„Gesetzmäßigkeiten" überwinden lassen. Es geht darum, Bedingungen offen zulegen, die das Werdende sichtbar machen.

Der ästhetische Typus von Wissenschaft bleibt nicht beim Auffinden von Regelmäßigkeiten stehen, sondern versteht unter Wissenschaft das "Suchen und Brechen von Invarianzen (Unveränderlichkeiten)" (vgl. Scharmer, 1991, S. 54, Gattung, 1977, S. 72-97/Maturana, 1982, S. 236-271). Im Besonderen wurde dies beim Genehmigungsverfahren der Privaten Sonderberufsfachschule deutlich, wo es darum ging bisher „unveränderliche„ Vorschriften und gesetzliche Vorgaben aufzuweichen, um die langjährige Förderung zur Berufsvorbereitung für Jugendliche weiterführen zu können.

Auch die Umsetzung der gedanklichen Idee, die Berufsausbildung als umfassenden Bildungsprozess zu sehen und in der Praxis die entsprechenden didaktischen und methodischen Voraussetzungen zu schaffen, brauchte viel interne Überzeugungsarbeit und Auseinandersetzung mit den herkömmlichen Sichtweisen zur Berufsbildung.

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